Der Kern allen dunklen Gewahrseins

In der Hörmal-Kolumne gibt unser Musikologe Ulf Kubanke einen Geheimtipp. Gemeinsam mit Robert Smith (The Cure) und dem Chefredakteur des US-Rolling Stone outet er sich als Fan der isländischen Nachtkönigin Solveig Mathildur.


Die Isländerin Solveig Mathildur rangiert bislang auf dem Level „Geheimtipp unter den Geheimtipps“. In Deutschland ist sie der breiten Öfentlichkeit kein Begriff. Das sollte sich ändern. Besonders WGT-Gänger und Liebhaber passionierter Dunkelheit sollten mehr als nur ein Ohr riskieren. Ihr Album „Unexplained Miseries & The Acceptance Of Sorrow“ befindet sich qualitativ auf Augenhöhe mit Königinnen der Nacht wie Dead Can Dances Lisa Gerrard, Nico, Diamanda Galas, oder Anna von Hausswolff.

Schwarzer Diamant

Ebenso jene, die mit den genannten Namen nichts anzufangen vermögen, gleichwohl durchdringende, höchst intensive Musikerlebnisse schätzen, in denen der Hörer sich eine zeitlang regelrecht fallen lassen und verlieren kann, sollten mit diesem schwarzen Diamanten ihre nicht ganz so helle Freude finden. Denn Mathildurs Intensität ist berückend. Sie umschließt das Publikum wie Nebel. Der Titel ist Programm. Dabei besteht die hohe Kunst der Platte darin, allen Unbill von Körper wie Seele zu vertonen ohne selbst zur runterziehenden Depression zu mutieren. Weitgehend elegische Sphärenklänge ergeben einen gleichsam hypnotischen wie exquisiten Tempel des Schmerzes, der den Lauschenden in lustvoll schwelgende Melancholie versetzt. Besser und auf höherem Niveau kann man solche Musik kaum transportieren.

Ein Wunder ist das nicht. Seit längerer Zeit verkörpert Matthildur ein Drittel des zwischen Gothic, Death-Rock und Postpunk pendelnden Damentrios Kaelan Mikla. In Skandinavien genießen sie hohe künstlerische Anerkennung. Genau diese Soloscheibe steigert deren schwarzlichterne Strahlkraft noch. Insofern ist es das ideale Einstiegswerk für Neugierige. Ein paar schwergewichtige Fürsprecher gibt es bereits. So lobt etwa der Chefredakteur des renommierten US-Rolling Stone, David Fricke, dieses Debüt über den grünen Klee. Als absoluten Ritterschlag darf man das Protegieren von Edelfan Robert Smith verstehen. Der Gothic-Rock-Pionier zeigt sich hochgradig begeistert und lud Matthildur samt Band kurzerhand zum Geburtstagkonzert „40 Jahre The Cure“ in den Londoner Hyde Park am 7. Juli ein. Dort spielen die Isländerinnen dann zwischen Superstars wie Goldfrapp und Co.

Hören: Unexplained Miseries

Als Anspieltipp empfehle ich „Unexplained Miseries III“. Ein sequencerhaft tuckerndes Keyboard lockt zwei weitere, repetitive Synthies an. Der fast poppige, dabei höchst stoische Beat treibt das Stück dezent nach vorn; flankiert von synthetischen Clappings. In deren Mitte thront und regiert Solveigs Gesang das Stück als Kern allen Gewahrseins. Entrückt wie Julee Cruises „Twin Peaks“-Stimme simultan einnehmend und zupackend dominiert sie das Lied, um sich so sanft wie unaufhaltsam in des Hörers Bewusstsein zu krallen. Jeder Widerstand erscheint zwecklos. Entziehen, Entkommen, Enrinnen? Zwecklos! Der magnetische Sog ihrer nahezu messianischen Präsenz erzeugt einen seltsam archaischen Bann, der alle Willenskraft fesselt. Spätestens nach ein paar Durchläufen liebt man die Platte innig und packt sie dort ins Regal, wo alle anderen besonderen Entdeckungen längst warten.

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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