Als es noch ständig müllerte

Traurige Verneigung vor einem WM-Helden der 70er, als Fußballer noch Fußballer und keine ganzkörpertätowierten Hochgeschwindigkeitsathleten waren. Wehmütiger Rückblick von Kolumnist Henning Hirsch


Eigentlich wollte ich eine Kolumne über CR7 schreiben. Niemand spielt, jammert und polarisiert so schön wie der berühmteste Sohn Madeiras. Die drei Dinger, die er gestern Abend seinen spanischen Nachbarn reingehämmert hat, waren schon ne Hausnummer. Er gehört zu der Sorte Fußballer, die alleine ein Match entscheiden können. Viele sind es nicht, die diese Kunst beherrsch(t)en. Messi, Schweinsteiger – bevor er in die amerikanische Operettenliga wechselte –, Zidane, Maradona, Netzer, Overath, Pelé und sicher noch ein Dutzend mehr, die mir aber im Moment nicht einfallen, und wo wir nun bereits in den 70er Jahren angelangt sind: Gerd Müller.

Was hat der in dieser Aufzählung zu suchen, fragen Sie? Der war doch nur ein kleiner, pummeliger Stürmer, zwar mit einer unglaublichen Spürnase fürs Toreschießen gesegnet, aber ganz sicher kein Spielentscheider. Doch, war er. Hören wir dazu folgende Worte aus dem Mund Franz Beckenbauers:

Ohne ihn würden wir uns heute noch in der alten Holzhütte aus den 60er Jahren am Trainingsplatz an der Säbener Straße umziehen. Ohne seine Tore stünde der FC Bayern heute nicht da, wo er ist.

Paul Breitner ergänzt:

Gerd Müller ist der wichtigste und größte Fußballer, den Deutschland nach 1954 gehabt hat. Gerd Müller ist der FC Bayern, Gerd Müller ist die deutsche Nationalmannschaft. Oder andersrum: Der FC Bayern und die Nationalelf sind das, was sie geworden sind, durch Gerd Müller. Weil er derjenige war, der die Pokale und die Titel gebracht hat – kein anderer.

Sehe ich genauso.

So wie man eine Kolumne nicht mit dem Partikel „eigentlich“ beginnen sollte, dürfte ich auch nicht das Ausgangsthema wechseln. Ich tue es aber trotzdem. Und zwar aus folgenden zwei Gründen: Ich habe zum einen vorhin im Magazin der Süddeutschen einen hochinteressanten, aber gleichzeitig tieftraurigen Beitrag über den Bomber der Nation gelesen. Zum anderen will ich anhand des Manns aus dem Ries an die Zeiten des Spiels erinnern, als der Fußball noch nach Männerschweiß, langen, verfilzten Haaren und schwarzen Adidastretern roch, und die Typen, die auf dem Platz herumliefen noch Typen und keine gefönten Playmobilfiguren waren.

Statistik für die Ewigkeit

Beginne ich mit der Geschichte vom Müller, Gerd (Abkzg. seines Taufnamens Gerhard). Eigentlich (hier ergibt das Wort Sinn) kennt die jeder, der die 50 überschritten hat und sich von Kindheit an für das Spiel interessiert. Geboren 1945 als fünftes und jüngstes Kind von Johann Heinrich und Christina Karoline Müller. In Nördlingen, dort wo Bayern an Ba-Wü grenzt und bayerisch Schwaben ins Württembergische übergeht. Mit 18 zum FC Bayern, für den er sage und schreibe 15 Jahre durchgängig die Schuhe schnürte, bevor ihn Pál Csernai 1979 erst auf die Bank setzte und dann nach Florida vergraulte. Unglaubliche Erfolgsagenda: 4x Deutscher Meister, 4x Pokalsieger, 1x Europapokal der Pokalsieger, 3x Europapokal der Landesmeister, 1x Weltpokal, Europameister 1972, Weltmeister 1974 (er schoss, nach feinem Zuspiel von Bonhof, aus der Drehung heraus in der 43sten Minute das entscheidende 2 zu 1 gegen die Niederlande), Torschützenkönig bei der WM 1970 mit zehn Treffern (die Turniere damals bestanden aus weniger Partien als die heutigen aufgeblähten Events), 7x erhielt er die Kanone in der Bundesliga ausgehändigt  (in der Saison 1971/ 72 erzielte er bis heute unerreichte 40!! Tore). Seine Statistik in der Nationalmannschaft: 68 Buden in 62 Spielen. Eine Quote für die Ewigkeit.

Es liegt an seinem niedrigen Körperschwerpunkt, behaupteten die Experten damals; was man, wenn man bösartig ist – was wir hier aber auf keinen Fall sein wollen – auch mit kurzen Beinen übersetzen kann, aber grau ist alle Theorie. Niemand antizipierte den kommenden Ball so exakt wie Müller, keiner – von Ente Lippens mal abgesehen – konnte das Leder derart gekonnt mit dem Hintern annehmen und dann blitzschnell aus der Drehung heraus einnetzen. Ein Jahrhunderttalent, aber eines, das nicht ewiges Talent – wie bspw. Namensvetter Hansi Müller oder Mario Götze – blieb, sondern nach dem Gesellenbrief 1965 – Aufstieg der Bayern in die Bundesliga – ständig lieferte, 365x (!!) in der Buli  traf und mit dem WM-Titel 74 sein Meisterstück abgab.

Dabei stets bescheiden blieb. Keiner, der in jedes Mikrophon reinplapperte, in jede Kamera lächelte, auf jeder TV-Couch Platz nahm. Das mag auch an seinen, im Gegensatz zu den eloquenten Kollegen Beckenbauer, Maier, Breitner und Hoeneß, geringeren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gelegen haben. Jedoch gehörte der Bomber ganz sicher zu jener Sorte Mensch, der trotz all seiner Erfolge das gleißende Rampenlicht lieber meidet, abends gerne zu Hause mit Kumpels schafkopft (Müller war darin genauso gut wie beim Fließbandtoreschießen), als durch die Talkshows der Republik zu tingeln.

Von ihm stammen zeitlose Sätze wie diese:

Wenns denkst, is eh zu spät.

Als Torjäger musst du wissen, wo das Tor steht. Und das habe ich gewusst.

Ich drehe mich ein wenig und plötzlich war der Ball drin

Ich habe ihn in seiner aktiven Zeit 5x in Köln spielen sehen. Stehplatz Südkurve, 4 Mark Schülerkarte. 4x gewann der FC, beim letzten Aufeinandertreffen, an dem Müller teilnahm, endete die Partie 1 zu 1, der Bomber erzielte das Tor für die Bayern. Um ihn komplett kaltzustellen, benötigte man oft zwei oder gar drei Verteidiger. Für den FC übernahmen diese schwere Aufgabe damals abwechselnd Zimmermann, Konopka, Weber und Strack. Wie ich es vierzig Jahre später schaffe, mich noch an alle Ergebnisse und die Spielernamen zu erinnern? Ganz einfach: ich recherchiere in der Online-Fußballdatenbank.

Vom stillen Star zum Pflegefall

Und jetzt muss ich leider zum traurigen Kapitel seiner Vita kommen: Alkohol und Demenz. Dass er eine Zeit lang (zu) viel getrunken hatte, wusste ich. Dass die Bayern ihn nach dem völlig misslungenen Amerikaabenteuer und Entziehungskur wieder in ihre Reihen aufnahmen und als Cotrainer der Amateurmannschaft beschäftigten, muss man dem Verein hoch anrechnen. Bin mir unsicher, ob die ständig heulenden Dortmunder so sozial mit ihren gefallenen Stars umgehen. Falls doch, dann entschuldige ich mich bereits an dieser Stelle bei allen BVB-Fans, bevor die mir nachher eine Flut von Hasskommentaren hinterlassen. Aber dass Müller seit einigen Jahren dement in einer Pflegeeinrichtung untergebracht und dort völlig von der Öffentlichkeit abgeschirmt ist, war komplett an mir vorübergegangen.

Sich an nichts mehr erinnern können – was für ein Schicksal mit 70! Meine Mutter ereilte es ebenfalls. Sie war jedoch immerhin schon 80, als sie niemanden mehr erkannte, ihren eigenen Namen vergessen hatte und sich auf dem Flur des Altersheims, in dem sie ihre letzten Jahre verbrachte, nicht mehr zurechtfand. Wir Kinder philosophierten hin und wieder darüber, was schlimmer ist: früh zu sterben oder im Alter bloß noch vor sich hinzudämmern? Eine müßige Frage, die außer Gott – so man an ihn glaubt – und dem Betroffenen selbst – der allerdings nicht mehr fähig ist, seine Gedanken in klare Worte zu packen – niemand von uns beantworten kann. Sie sollten Müller in München ein Denkmal setzen und/ oder das Stadion in ihn umbenennen! Allianzarena klingt ohnehin wie Glasbruch mit Selbstbeteiligung und nicht nach einem kernigen Männersport.

Fußball war mal ne coole Sache

Kernig ist das Stichwort für den zweiten Schwerpunkt dieser Kolumne: Wehmut nach der Zeit, als Fußball noch ne schweißtreibende und coole Sache war. Hier muss ich ein bisschen aufpassen. Denn mit meinen Kindern gilt die Verabredung, dass sie mich, falls ich zu oft von der guten alten Zeit schwärme, in einem Seniorenstift anmelden dürfen. Für das ich mich aktuell aber noch ein paar Jahre zu jung finde. Nun war ja früher nicht alles besser und schöner, aber der Fußball war definitiv unterhaltsamer. Ich habe mich an vieles gewöhnt: die bunten Schuhe, Frisuren, die keine Haarschnitte, sondern Kunstwerke oder gar Statements sind, Tattoos, wohin das Auge blickt, die ständigen Übersteiger, Tiki-taka, Gehälter und Transfersummen, die einen mitunter am Sinn des Kapitalismus zweifeln lassen, Eintrittskarten, die dem Preis einer mittelschweren Autoreparatur entsprechen, Söldnertum als Normalzustand und nicht die Ausnahme, der einzelne Fußballer als Marke und nicht mehr als ordinärer Spieler, Berichterstattung und Werbung around the clock etc. etc. Woran ich mich aber nie gewöhnen werde – oder, um aus meinem Herzen keine Mördergrube zu machen, was mir sogar tierisch auf den Sack geht –, sind die vorformulierten Textbausteine, mit denen Spieler und Trainer seit gefühlt dreißig Jahren auf Journalistenfragen antworten. Welch ein standardisiertes, stromlinienförmiges Kauderwelsch. Boh!

»Ich danke erstmal dem gesamten Team, das mich großartig unterstützt hat«, sagt der Dreifachtorschütze. »Das müssen Sie den Coach fragen. Ich akzeptiere aber selbstverständlich die Entscheidung«, meint der langjährige Stammstürmer, der sich plötzlich auf der Bank wiederfindet. »Wir haben unser Bestes gegeben und unglücklich verloren. Wir lassen uns davon aber nicht unterkriegen«, heißt es nach einer 0-zu-5-Klatsche. Und dann sehe ich zu allem Überdruss seit einigen Tagen auf allen Kanälen auch noch Nivea-Werbung mit Jogi Löw und bin restlos bedient.

Sprüche aus der Fußballvergangenheit

Warum reden die Jungs nicht mehr wie in den 70ern und 80ern? Als solche Sätze zu hören waren:

Ich bin immer noch am überlegen, welche Sportart unsere Mannschaft an diesem Abend ausgeübt hat. Fußball war’s mit Sicherheit nicht.
© Franz Beckenbauer

Ich habe viel von meinem Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben… Den Rest habe ich einfach verprasst.
© George Best

Ich bin bis 5 Uhr in meiner Stammkneipe erreichbar
© Ansgar Brinkmann

Manni Bananenflanke, ich Kopf, Tor!
© Horst Hrubesch

Eine Straßenbahn hat mehr Anhänger als Uerdingen.
© Max Merkel

Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.
© Rolf Rüssmann

Legendäre Wutausbrüche von Spielern und Trainern vor laufender Kamera. Damals zwar nicht Standardrepertoire, aber doch nicht unüblich. Heute hingegen völlig undenkbar. Alle dreimal teflonbeschichtet, von PR-Profis gebrieft und ständig dieselben Worthülsen wiederholend. Textbausteine in Dauerschleife. Stinklangweilig. Ich zappe nach dem Schlusspfiff mittlerweile sofort weiter, weil ich ohnehin schon auswendig weiß, was die Akteure gleich sagen werden. Ätzend dieser globale Verbalkonformismus!

Okay, okay, ich höre nun auf mit meiner Nörgelei. Übrigens ein typischer Charakterzug älterer, männlicher, misanthropischer Kolumnisten. Ob ich mir die WM ungeachtet all meines Gemeckers trotzdem ansehe? Natürlich tue ich das. Was glauben Sie denn? Ich schaue die Spiele bereits seit 1970. Damals noch im Schwarz-Weiß-Röhrengerät, das wie ein Tabernakel in der Ecke hinten links im Wohnzimmer meiner Eltern platziert war. Wer dieses Mal den Titel holt? Ich tippe auf Brasilien. Ich bin als Orakel auch nicht schlechter als Tintenfische oder Schildkröten.

PS. Den Text zu CR7 schreibe ich sofort, falls Portugal ins Finale einziehen sollte. Versprochen. Notfalls mich daran erinnern, denn auch mein Gedächtnis ist nicht mehr das allerfrischeste. Danke!

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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