Das wegweisende Erdsee – zum Tode von Ursula K. Le Guin

Aus gegebenem Anlass blickt Sören Heim auf ein kleines Meisterwerk einer großen Autorin.


Wie unter anderem die New York Times gestern meldete, ist die Schriftstellerin Ursula K. Le Guin mit 88 Jahren verstorben. Mögen andere, die sie besser kennen, das Lebenswerk der Autorin und deren politische Bedeutung gebührend würdigen. Hier sei, in aller Kürze, in einer weiteren Station der fantastischen Reise außer der Reihe, an den heute wohl bekanntesten Roman Le Guins erinnert. The Wizard of Earthsea (Der Magier der Erdsee), eine der hervorragendsten Schöpfungen moderner fantastischer Literatur. Es handelt sich um den Auftakt einer Reihe, die insgesamt fünf Romane und zwei Bände mit Kurzgeschichten hervorbrachte.

The Wizard of Earthsea ist 1968 erschienen, 13 Jahre nach Tolkiens Der Herr der Ringe. Obwohl es im Setting in teils bedeutender Weise von anderen Werken der klassischen High Fantasy abweicht (so erinnert Earthsea mit seinen vielen Inseln eher an Ozeanien als ein europäisches Mittelalterszenario und erstmals sind die Helden einer solchen Geschichte nicht vornehmlich bärtige weiße Männer) handelt es sich an der Oberfläche doch noch um recht traditionelle Fantasy.

Die Geschichte in Umrissen

Die Geschichte in Umrissen: Duny, junger Dorfbewohner, entdeckt, dass er magische Kräfte besitzt. Er wird von einem alten Magier als Lehrling genommen und später auf die Schule in Roke geschickt. Duny entfesselt dort durch einen fehlgeschlagenen Zauber einen Schatten, macht den Schulabschluss, erfährt seinen wahren Namen „Ged“ und jagt fortan den Schatten auf der Suche nach dessen wahrem Namen, um das unheilvolle Wesen endgültig zu bannen.

So weit, so relativ einfach. Bahnbrechend aber ist die Weise, wie Le Guin Erzählung und Welt gestaltet. Seltene Selbstzurücknahme, besonders im Kreise der Fantasyautoren! Le Guin lässt mehr weg, als sie ausbuchstabiert. Keine weisen alten Männer, die stundenlang die Geschichte von Earthsea herunterbeten, keine ausufernden Ratssitzungen, in denen einzelne „Völker“ ihre Tugenden und Laster zur Schau stellen. Stattdessen eine rasante Odyssee von Insel zu Insel, wo schlaglichtartig mit jeder Schwierigkeit, die Ged auf der Jagd nach dem Schatten zu meistern hat, einige Aspekte Earthseas aus der Gischt des Meeres auftauchen und bald wieder hinter dem Horizont verschwinden.
Auch die Handhabung der Sprache ist von besonderer Konsequenz. Mit schöner Regelmäßigkeit klingt Le Guin an altenglische oder altnordische Stabreimmuster an, freilich ohne dies in einer Art und Weise zu übertreiben, dass dies den Zugang zu der ansonsten relativ einfachen Prosa unnötig erschweren würde. Wer diesen Rhythmus beim Lesen aufnimmt wird in einem unwiderstehlichen Sog durch den Roman getragen, nicht unähnlich auch dem Auf und Ab eines Schiffes auf wogender See.

Spoiler Bugseits!

Und so klug, wie die Sprache gestaltet ist, gestalten sich auch die überraschenden Wendungen des Werkes. Ob Ged seine Queste scheinbar dahingibt, um von einem (eher chinesisch als europäisch anmutenden) Drachen die Verschonung eines nahen Dorfes zu erbitten, statt des verzweifelt gesuchten Namens des Schattens, oder ob Ged endlich den Schatten als Teil seiner selbst erkennt und entsprechend benennt – die Herausforderungen Earthseas kommen mindestens so sehr von innen, wie von außen. Weder große Triumphe über Feinde, noch der Niedergang einer Welt sind die heroischen Themen, sondern geistiges Wachstum, das Ergründen von Zusammenhängen und besonders der eigenen Rolle darin, sowie die Bedeutung des Ausgleiches in einer spannungsreichen Wirklichkeit (das ist das hauptsächliche Telos der Magiewirkung in Earthsea).

Sollte es also wirklich noch Leser geben, die bisher mit diesem fantastischen Kleinod noch keine Bekanntschaft gemacht haben, wäre jetzt ein mindestens so guter Zeitpunkt wie jeder andere. Kinder und Jugendliche können ebenso leicht ihren eigenen Zugang zum Werk finden wie Erwachsene. Ich kenne die deutsche Ausgabe nicht, gehe aber davon aus, dass aus sprachlichen Gründen die englische deutlich vorzuziehen wäre – vielleicht ja auch mal als Schullektüre?

Und natürlich ist das Hörbuch zu empfehlen, schon wegen des mitreißenden Rhythmus der Sprache.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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