Meditation zum Kolumbustag

Wenn man versucht sich die Opferzahlen der Kolonisierung beider Amerikas zu vergegenwärtigen, tritt die sicher berechtigte Kritik an Kolumbus hinter einem ganz anderen Schrecken zurück, findet Kolumnist Sören Heim. Aber wäre irgendein Kontakt zwischen „alter“ und „neuer Welt“ ohne Massensterben denkbar gewesen? Über einen Abgrund der Aufklärung, erbärmlich undialektisch:


Am Montag feierte man in den USA den Kolumbustag. Damit einher gehen mit wachsender Heftigkeit Überlegungen, ob man diesen Tag überhaupt zelebrieren könne; immerhin seien Christoph Kolumbus und seine Besatzung, so fasste Dorothea Hahn in der TAZ die Debatte zusammen „Ein Haufen von Vergewaltigern, Plünderern und Mördern“ gewesen.

Ich möchte mir nicht anmaßen. pro oder contra Feierlichkeiten im allgemeinen zu argumentieren. Das unkritische Verhältnis zur sogenannten „Entdeckung“ Amerikas scheint aufzubrechen, und das ist sicher gut so. Ob sich daraus ein produktiv-kritisches Verhältnis entwickelt, wird die Zeit zeigen. Entscheidend wird dabei sein, ob sich die Tendenz zu immer antagonistischerer Politik, die sich auch in der Kolumbusdebatte spiegelt, umkehren lässt.

Statt Pro und Contra hier einige kurze, allgemeine Gedanken. Kurz, nicht da die Sache einfach wäre, sondern weil die Tragödie der Entdeckung etwas ist, das der Einzelne erst einmal für sich reflektieren, ja, vielleicht regelrecht darüber meditieren muss.

Ein Kontinent voller Menschen

Man stelle sich vor: eine Population zwischen zehn und 100 Millionen Menschen – mit einer Tendenz in der Forschung zu etwa 60 Millionen – lebten in der so genannten präkolumbischen Zeit in Süd- und Mittelamerika. Die Zahlen für Nordamerika sind noch weniger klar, dürften aber ebenfalls in die zig Millionen gehen. Es gibt gigantische Metropolen, weit reichende Handelsnetze (übrigens auch Kriege, regelrechte Massaker und eine teils blutige Binnenkolonisation. Ein solches Kolonialreiche war bspw. das heute stark mythifizierte Inkareich). Wenige Jahrzehnte nach der Entdeckung sind etwa 90 % der alteingesessenen Bevölkerung tot. Also nach der mittleren Konsens-Zahl etwa 55 Millionen. Ich glaube, man kann das gar nicht begreifen. Man kann versuchen, sich Bilder dazu auszumalen, sich Geschichten zu erzählen, oder – wie schon gesagt – regelrecht darüber meditieren. Pro- oder Anti-Kolumbustags Affekte müssen vor so etwas jedoch die Waffen strecken.

Vor allem, wenn man dann weiter denkt. Denn entgegen dem, was auch der oben verlinkte TAZ- Artikel suggeriert, gab es keinen geplanten „Genozid“ an den amerikanischen Ureinwohnern. Es gab brutale Eroberungsfeldzüge, es gab Massenmorde, es gab womöglich einige Versuche, die Pocken gezielt bei Belagerungen einzusetzen, es gab sicher Vergewaltigungen, und auch Kolumbus war vielleicht ein „Vergewaltiger[], Plünderer[] und Mörder[]“. Aber: damit behandelten die Eroberer die Einheimischen nicht wirklich schlechter als ihre Feinde auf dem europäischen Festland.

Die ganz überwiegende Masse der Ureinwohner allerdings starb an (unabsichtlich) eingeschleppten Krankheiten. Zu den immunologischen Gründen gibt es einen lesenswerten Artikel auf dem heute stillgelegten Blog USA Erklärt, der diese These auch mit zahlreichen Links untermauert. Und das ist nun die Stelle, an der man sich so gerne empören würde und nicht genau weiß, wogegen überhaupt. Es ist zwar wahr: die Kolonisatoren waren sicher nicht unglücklich über die Entvölkerung, und die beiden Amerikas im Norden und Süden wären ohne das Massensterben nicht denkbar. Doch solange man den Erstkontakt des europäisch/asiatisch/afrikanischen Raumes mit dem amerikanischen nicht auf eine Zeit verschoben hätte, in der all die infrage kommenden Krankheiten ausgerottet waren, ist kaum denkbar, wie das Massensterben zu verhindern gewesen wäre. Noch heute sterben mindestens 50 % der Angehörigen unkontaktierter Ethnien auf dem amerikanischen Kontinent nach dem Erstkontakt. Das ist das eigentlich Unvorstellbare: Was auch immer für ein „„Vergewaltiger[], Plünderer[] und Mörder[]“ Kolumbus gewesen sein mag: auch der beste Mensch der Welt hätte mit einer um 1500 gestarteten Entdeckungsreise in etwa die gleichen Folgen wie Kolumbus ausgelöst.

Aufklärung, erbärmlich undialektisch?

Kolumbus war sicher ein Geschöpf der frühen Moderne. Die Neugier des Seefahrers steht für den Drang zu neuem Wissen. Ein Drang, den Menschen, die sich „aufgeklärt“ nennen, heute noch immer hochhalten. Und das nicht zu Unrecht. Die blutige Kolonisation und all ihre späteren Verbrechen sind eine Ausgeburt der aufblühenden frühen Moderne. Und ebenfalls die zig Millionen Toten sind es. Man sollte das nicht verdrängen. Und gerade die Menschen, die sich „aufgeklärt“ nennen, täten vielleicht besser daran, sich nicht eine einfache Betroffenheitsformel für diese Fußnote der Geschichte zu überlegen, sondern eben tatsächlich und immer wieder ernsthaft darüber nachzudenken.

Nicht außer Acht lassen sollte man dabei, dass kaum ein Szenario denkbar scheint, in dem es hätte anders kommen können, als es im 16ten Jahrhundert in Amerika geschah. Das sind grundlegende Überlegungen, die für mich die kleinlichen Streitereien pro oder contra Kolumbustag in den Hintergrund treten lassen. Das gilt ebenfalls für die Debatten um die bewusste Unmenschlichkeite der Conquista.

Dass die unbewusste Unmenschlichkeit selbst rückblickend noch so unvermeidbar scheint. Ein Massengrab der Aufklärung, erbärmlich undialektisch.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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