Von der Un-Handhabe in der Welt

Warum war die AfD so erfolgreich? Haben die Medien sie groß gemacht? Oder sind Politiker zu entrückt vom normalen Volk? Eine Spurensuche.


Auch nach dem Wahlsonntag bestimmt die AfD die Agenda der deutschen Politik und der Medien. Am Wahlabend gab es einige Neuigkeiten, aber die eigentliche Nachricht war, dass zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges wieder eine rechtsextreme, völkische Partei mit einem revisionistischen Weltbild in den Bundestag eingezogen war. Seit Sonntag wird nunmehr analysiert, wer warum und mit welchem Ziel die  Partei „Alternative für Deutschland“ in den Bundestag gewählt hat.
Bei vielen Einordnungen spielen zwei Aspekte eine Rolle: Zum einen wird den Medien vorgehalten, sie hätten durch ihr stetes Berichten über die AfD dieser erst zum Erfolg verholfen. Zum anderen wird den Politikern der etablierten Parteien vorgeworfen, vom Leben vieler Wählerinnen und Wähler nichts zu verstehen. Über beide Punkte lässt sich trefflich streiten:

Die Medien

Wenn die Medien nicht über die AfD berichtet hätten, hätte es geheißen, dass sie fremd gesteuert und dazu angehalten sind, diese neue Partei tot zu schweigen. Kann eine Berichterstattung überdrehen? Sicher kann sie das: als es im Zuge der Anschuldigungen gegen Christian Wulff ein rotes Bobby-Car auf die Seite eins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschafft hatte, war klar, dass sich diese Qualitätszeitung von einem selbst entzündeten Furor hat mitreißen lassen, der jede sachliche Auseinandersetzung und nötigen Abstand verunmöglicht hat. Journalisten können sich vergaloppieren, wenn sie sich dazu entscheiden, eine Kampagne zu fahren. Ich denke nicht, dass man im Wahlkampf etwas gesehen hat, was an die Medien-Kampagne gegen Christian Wulff erinnert hat.
Ein Blick in die USA, wo im vergangenen Jahr ein neuer Präsident gewählt wurde, führt auf einen anderen Fokus: indem die New York Times, so heißt es, Donald Trump zum Thema gemacht hätte, habe sie ihn normalisiert. Der Vorwurf ist verbunden mit dem Verweis, dass es sich für das Blatt gerechnet habe, seine Leserinnen und Leser mit der neuesten Trump-Kontroverse zu unterhalten. Auch CNN wird vorgeworfen, die Debatten um Äußerungen von Donald Trump dahingehend zu befeuern und am Leben zu erhalten, indem der Sender Trump-Befürworter und Gegner aufeinander prallen und sich streiten lässt. So würde eine Dringlichkeit und eine Relevanz insinuiert, die mit dem Gewicht der beschriebenen, eigentlichen Ereignisse nicht übereinstimmten.

Der Booster?

Medien verstärken durch ihre Berichterstattung unweigerlich ein Phänomen. Sie geben ihm Öffentlichkeit und damit Relevanz. Sind also die Medien die Macher? Entscheiden Fernseh- oder Magazinberichte das Wahlergebnis? In Deutschland gibt es 61,5 Millionen Menschen über 18 Jahre. Sie alle sind wahlberechtigt. Die Top-Formate des Nachrichtenfernsehens, heute journal und Tagesthemen, werden von rund vier Millionen Menschen gesehen. Die Bild-Zeitung hat eine Druckauflage von 2,5 Millionen Exemplaren. Wenn man von diesen Zahlen auf das Mediennutzungsverhalten schließt, dann muss man sagen, dass selbst die Massenmedien nicht die breite Masse erreichen. Millionen Wahlberechtigte informieren sich überhaupt nicht über die Medien, die nun in der Kritik stehen, die AfD groß gemacht zu haben. Die nachgezeichnete, verstärkende Wirkung der Medien gibt es dennoch, gewiss. Aber ob sie alles entscheidend ist, kann angezweifelt werden. Die Frage, die sich anschließt ist, wie, wenn überhaupt, sich die vielen Millionen Menschen informieren, die auf das Angebot der Nachrichtenredaktionen verzichten?

Entfremdung?

Neu ist diese Diskrepanz nicht und sie führt hinüber zur zweiten Behauptung, nämlich der behaupteten- und, zumindest, was die Medien angeht, auch tatsächlichen – Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung voneinander. Ich weiß um etliche Bundestagsabgeordnete, die ihren Wahlkreis wie ihre Westentasche kennen. Sie wissen, was die Menschen in ihrer Heimat bewegt. Gibt es also diese behauptete Entfremdung nicht? Nun, Menschen geben in Befragungen ja an, dass sie sich vergessen und benachteiligt fühlen. Eine unsichtbare Demarkationslinie verläuft in Deutschland aber nicht zwischen Berufsgruppen oder Politikern und Volk, sondern zwischen Menschen mit Perspektive und solchen ohne. Perspektive bedeutet hier, dass Gefühl zu haben, „agency“ über sein Leben zu haben, Einfluss auf Gestalt und Verlauf des eigenen Lebens. Der englische Begriff agency kommt vom lateinischen agere, was machen, tun bedeutet.
Ob Politiker, Journalisten, Ärzte, Anwälte, Geistliche: sie alle können sich nicht vorstellen, wie es ist, keine agency zu haben, keine Handhabe über das eigene Leben. Wer morgens aufsteht und etwas zu tun hat, einen Plan hat oder eine Absicht verfolgt, der kann das Gefühl der Un-Handhabe nicht nach vollziehen. Vielleicht ist das der unüberwindbare hermeneutische Graben, der zwischen denen, die mit Angst in die Zukunft blicken und jenen, die in dieser Zukunft etwas Positives sehen, verläuft. Auf dem Rezept steht nicht, dass die Betreffenden gefälligst Sport machen und den Hintern hochkriegen sollen. Es geht nicht um Schuldzuweisung oder der kernigen Aufforderung, sich zu waschen und zu rasieren, um dann auch einen Job zu bekommen.

Gefühl der Ohnmacht

Agency meint auch, aber bei weitem nicht nur Geld verdienen. In unseren Gesellschaften erwächst durch Arbeit das Recht auf soziale Teilhabe, auf Partizipation am öffentlichen Leben. Wer agency-los ist, der war schon lange nicht mehr im Theater und im Kino, weil er oder sie es sich nicht mehr leisten kann, aber auch, weil man sich an diesen Orten am Abend nur dann einfinden darf, wenn man tagsüber gearbeitet hat. Man gehört nicht mehr dazu. Man muss sich den Wiedereintritt verdienen. Wenn es für diesen Wiedereintritt aber keine Möglichkeiten gibt, führt das zu einem Gefühl der Ohnmacht, also dem genauen Gegenteil von agency.
Es ist alles andere als leicht, eine Idee zu umreißen, wie man diesen Zustand umkehrt. Die AfD wird sich von ihren Wählerinnen und Wählern daran messen lassen müssen, ob sie in der Lage ist, etwas zu verändern. Ein Blick ins Wahlprogramm der Partei aber lässt gegenteiliges befürchten.

Alexander Görlach

Alexander Görlach ist In Defense of Democracy Affiliate Professor der F.D. Roosevelt Stiftung am College der Harvard Universität und Fellow am Center for Research in Arts, Social Sciences and Humanities an der Universität von Cambridge, UK. Der promovierte Theologe und Linguist ist zudem Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Relations und Senior Advisor des Berggruen Instituts. Er arbeitet zu Themen von liberaler Demokratie, Politik und Religion, Säkularismus und Pluralismus sowie den Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz auf die Gesellschaft. Görlach ist der Gründungsherausgeber des Debatten-Magazins The European, das er von 2009-2016 auch als Chefredakteur geleitet hat. Heute gibt er das Online-Magazin www.saveliberaldemocracy.com heraus und ist unter anderem Autor für die New York Times und die Neue Zürcher Zeitung.

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