Leichenschändung oder Kniefall? – Das Hologramm in der Musik

Tupac, Dio und Zappa sind die derzeit prominentesten Kandidaten der Hologramm-Technik im Showgeschäft. Für viele rangiert die neue Aufführungspraxis irgendwo zwischen Leichenschändung und Zuhälterei. Doch ist diese moralische Entrüstung inhaltlich gerechtfertigt? Unser Musikologe Ulf Kubanke mit einem Beitrag zur Versachlichung der Debatte


„Bela Lugosis’s dead…undead, undead, undead.“
(Bauhaus)

Das Hologramm scheidet die Geister. Seine neuartige Verwendung im Musikbiz, besonders bei Konzerten, ließ bereits Tupac und Ronnie James Dio virtuell auferstehen. Frank Zappa befindet sich in Planung. Ist das die Kunst großer Illusionisten, makabre Leichenfledderei oder einfach der technisch fortschreitende Gang aller Dinge? Das neue Medium polarisiert enorm. Lautstark melden sich seine Gegner zu Wort. Doch ist deren Geräuschpegel berechtigt? Bei näherer Betrachtung entpuppen sich die Gegenargumente weitgehend als formal aufgeregt und inhaltlich eher dünnes Brett.

1. „Abzocke und Grabschändung“

Das lapidar festgehaltene Argument des „Ausschlachtens, Leichenschändens“ usw. wird zumeist sehr wohlfeil und plakativ eingesetzt.a) Abzocke? Oh, come on! Zum einen geht es bei jeder Veröffentlichung um Verbreitung des Produkts beim potenziell interessierten Publikum. Zum anderen ist das wahrlich keine qualitative Argumentationskategorie. Denn entweder gibt es diese Interessenten (Top) oder es gibt sie nicht (Flop). Hierüber entscheiden allein Beliebtheit und Nachfrage. Der Kunde wird nicht gezwungen, die Börse zu zücken. Im Gegenteil: Er ist der Souverän und entscheidet per individuellem Zuspruch oder Ablehnung. Insofern ist dieses mantrische Argument – das auch in Rezensionen inflationär Verwendung findet – nicht immer, aber oft, nichts weiter als Schaumschlägerei.

Des Weiteren steht man bei derlei Kritik schon im Halbfeld moralinsaurer Helen-Lovejoy-Taktik.

Denn:
Ein Tonträger, ein Song, eine Show werden nicht dadurch besser oder schlechter, weil die Motive des Veröffentlichenden bzw. Aufführenden in den Augen der Öffentlichkeit hehr oder gierig daherkommen. Sie überzeugen entweder durch künstlerische Qualität oder eben nicht. Was ist denn das für eine merkwürdig tantige Metaebene in der Argumentation?

2. Kriterien statt Empörungskäse

Wir brauchen mithin Kriterien anstelle von Empörungskäse. Das fängt in Punkto Hologramm schon beim Kreis der Aufführenden an. Man kann doch nicht ernsthaft den Hinterbliebenen eines Künstlers die Legitimität der Fortführung einer Legende bzw. die Aufrechterhaltung der Erinnerung absprechen. Das sind dann meist a) die Familie und b) die Ex-Band als Nachlassverwalter. Deshalb muss in jedem Einzelfall gefragt werden, ob die Vorgehensweise auch dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entspräche, oder die Erinnerung an die Musik dem öffentlich berechtigten Interesse dient. Das kann man hypothetisch wohl immer dann bejahen, wenn das Projekt qualitativ überzeugt und nicht lieblos mit dem jeweiligen Werk umgeht. Eine rein ideologische Antwort des „immer dafür“ oder „immer dagegen“ ist offenkundig nicht hilfreich.

Ein Beispiel:

Die „Blackbox Rio Reiser“ enthielt letztes Jahr hunderte bislang unveröffentlichte Tracks. War das notwendig? War das überflüssig? Auf etliche Stücke traf eine mit Rios mutmaßlichem Willen zu vereinbarende musikgeschichtliche Bedeutung sicherlich zu. Auf andere Songs eher nicht. Nicht auf jene, die Rio auch in brotlosen Zeiten bewusst nicht veröffentlichte, da sie nur Skizzen waren oder lediglich im zeitlichen oder thematischen Zusammenhang mit damaligen Theaterprojekten etc funktionieren.

Doch was bedeutet dies alles in Blickrichtung auf das Hologramm?

3. Das Hologramm als virtuelles Geschichtsbuch

Der Zankapfel Hologramm ist hierbei ein Sonderfall und könnte sich bezüglich gelebter Erinnerungskultur langfristig zum Reichsapfel mausern. Denn zumindest methodisch bedeutet es ein vollkommen neues Kapitel in der darstellerischen Aufführungspraxis. Die technische Umsetzung basiert auf bereits vorhandenem Filmmaterial, welches lediglich virtuell verarbeitet wird und beim Gig eine scheinbar cyborghafte Verschmelzung mit Akteuren der Gegenwart eingeht.

Emotional wie kulturell erlaubt es Machern und Fans, inmitten des „Jetzt“ eine Art Geschichtsbuch wider das Vergessen zu transportieren. Ob man dafür eine DVD einwirft, die Songs mit Gastsängern aufführt oder diesen neuen Weg wählt, ist ergo letzten Endes zumindest strukturell keine ethische Frage. Sie wirkt auf viele Musikfreunde nur deshalb wie eine solche, weil das Format neu ist und dadurch zunächst irritiert. Doch dieser Irritation sollte man nicht aufsitzen. Jene irrige Logik zu Ende gedacht, dürfte man Caruso auch nur auf Schellack hören oder Bach nur auf zeitgenössischen Instrumenten spielen. Beides wäre absurd.

Nicht weniger absurd ist deshalb die Dämonisierung des neuen Formats. Dämonisierung bedeutet nichts anderes als ein sich Drücken vor der notwendigen Festschreibung ästhetischer Kriterien. Stellt man sich dieser Herausforderung, so zeigt sich, dass nicht das Medium Hologramm als Träger der Kunstform in den Vordergrund rückt, sondern lediglich eine – zugegeben exponierte – Position im sich vereinigenden Gesamtgefüge einnimmt.

4. Ergebnis

M.E. ist es wichtig, auch späteren Generationen die Möglichkeit zu verschaffen, Musikgeschichte virtuell – in konkreten Fall mittels Hologramm – unmittelbar erfahren zu können. Was soll daran schlecht sein, solange es respektvoll geschieht?

Was fehlt noch? Genau, der Anspieltipp!

Von den obigen drei wähle ich Dio in der Inkarnation mit Ritchie Blackmore’s Rainbow aus. Es handelt sich um ein Lied, das in vielen Best-of-Listen leider fehlt, wenn es um Ronnie James Dios Wirken geht. Der „Temple Of The King“ ist eine zauberhafte Ballade, bei der Blackmore und Dio einander sehr angenehm ergänzen. Während Mr Deep Purple sich besonders um das Arrangement der Gitarren kümmerte, perfektionierte der spätere „Holy Diver“ sein Talent für atmosphärische Fantasy-Texte, mit denen er die gesamte Entwicklung des Heavy Metal beeinflusste. Ihr findet das Stück auf Rainbows Debüt-LP aus dem Jahr 1975:

 

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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