Was sind denn das für Pfeifen?

Nach dem Überraschungserfolg der Kirchenmusik-Kolumne mit deutlich dreistelligen Klickzahlen, die schon am ersten Wochenende die Produktionskosten eingespielt hat (hat mich nichts gekostet und mir ebensoviel eingebracht), habe ich mich entschlossen, die Welle der Begeisterung für unpopulärste Musikrichtungen bis zum bitteren Ende auszureiten und lasse sogleich das angeteaste Sequel für den Blockbuster folgen: Orgelmusik.


Treue Leser (und Treue lohnt sich: Stammleser erhalten 30% Ermäßigung auf den regulären Lesepreis von 0 Euro, einfach „Die Kolumnisten“ auf facebook gratis abonnieren, jederzeit ohne Mindestlaufzeit kündbar) erinnern sich: Ich hatte bemängelt, daß die Orgel als nahezu untrennbar mit sakraler Musik wahrgenommen wird. Sie denken darum jetzt bestimmt, daß hier nur weltliche Orgelwerke folgen werden. Ha! Kein ordentlicher Plot ohne Twist. Spoiler-Alarm (schnell weglesen): Es wird auch geistliche Orgelmusik dargeboten werden.

Wir fangen aber, um das geschätzte Kinopublikum zunächst in vermeintlicher Sicherheit zu wiegen, ganz zart und weltlich an, mit „Prélude, Fugue et Variation“ von Cesar Franck. Weil ich das sehr sehr liebe und unter anderem zum 50. Geburtstag meiner Mutter gespielt habe, die ich auch sehr sehr liebe und die das auch sehr sehr liebt. Und weil ich noch niemanden erlebt habe, der das nicht zauberhaft findet.

 

Ich muß gleich mal vorausschicken, daß Orgelmusik derart unpopulär ist, daß die Auswahl auf youtube vergleichsweise eingeschränkt ist, und daß ich mit den Interpretationen in den jeweils ausgewählten Links darum nicht unbedingt immer vollumfänglich musikalisch d´accord gehe.

Treue Leser erinnern sich daran, daß ich ein Faible für zweite Sätze habe. Ich habe aber auch ein Faible für Variationen, und immerhin eine Variation haben wir hier schon mal gehört. Dabei wird es aber nicht bleiben, oh nein. Ach so: Variationen sind, wenn man immer wieder das gleiche hört, nur ein bißchen anders. Also so ein bißchen wie Cover-Versionen. Die mag ich auch.

Merck toch hoe Sterck

Das nächste Hörbeispiel sind Variationen über das niederländische Volkslied „Merck toch hoe Sterck“ von 1622.

Ich kannte das Lied vorher nicht, aber in den Niederlanden soll das ziemlich populär sein, irgendwas mit einer gewonnenen Schlacht gegen Spanier. Fußball kann es nicht gewesen sein. Die Coverversion mit den Variationen ist vom 1997 verstorbenen niederländischen Komponisten und Organisten Cor Kee.

 

Wunderschönes Stück. Da zeigt die Orgel am Ende auch schon mal, daß sie nicht nur großen Farbreichtum zu bieten hat, sondern eben auch ganz schön brüllen kann. Noch besser kann man das bei folgendem Werk erahnen, der Toccata aus der 5. Orgelsymphonie von Charles-Marie Widor, ein ziemlich berühmtes Ding.

 

 

Handbremse lösen!

Das ist natürlich ein Brett. Ich sagte „erahnen“, weil Sie das gerade vermutlich auf einem PC, Laptop oder noch schlimmer Smartphone gehört haben. Aber selbst wenn Sie es über Ihre sündhaft teure audiophile Hifi-Anlage abgehört haben: Das ist Kindergarten, ein Ententeich. Das müssen Sie live in einer Kirche hören. Das ist eine körperliche Erfahrung. Wenn eine ausgewachsene Kirchenorgel wie hier in Notre Dame die Handbremse löst, spüren Sie in Ihrem Magen, was Sie gestern gegessen haben, und die schiere Gewalt der versammelten Pfeifen bläst Ihnen das Gehirn aus dem Kopf. Und selbst, wenn das das Gebrüll des Ungeheuers verstummt, wabert Ihnen die Akustik der Kirche noch sekundenlang dicke Nebelschwaden aus Nachhall um den eingeschüchterten Leib. Das. Ist. Geil.

Noch eins? Ein ähnliches Brett und ebenfalls ein Hit ist die Toccata aus der Suite Gothique von Léon Boëllmann.

Überhaupt, die Franzosen und Orgelmusik. Zwei haben wir ja bis jetzt schon gehört, und zwei kommen noch. Ok, wir Deutschen haben Buxtehude und Bach und Reger und viele mehr im Team, aber in der Nationenwertung liegen die Franzosen für mich vorne, sorry Holland. Die haben irgendwie Cojones. Steh ich einfach drauf. Im Fußball bin ich dann aber wieder Schlaand-Patriot.

 

Inhaliert

Geiles Brett. Ich hab Ihnen ja in der letzten Folge der Bach- und Sachgeschichten erzählt, daß ich in einer Kirche aufgewachsen bin und mein Vater dort nebenberuflich Organist war. Ich hatte darum, wenn nicht gerade Gottesdienste oder Führungen für Touristen waren, jederzeit Zugang zur Orgel. Das hab ich gern mal ausgenutzt; schnell die paar Schritte rüber, Strom an, auf das T-Knöpfchen gedrückt (Tutti, also alle Pfeifen in Feuerbereitschaft, DEFCON 1, da hört man dann schon so ein sattes Fffumpp!), und dann YEEEES! Manchmal hab ich mir vorher noch Kräuter in eine Zigarette gedreht, um den Brett-Effekt noch zu steigern. Also ich hab nur gepafft, nicht inhaliert. Wie? Ah, „Der harte Hund“, der Jura studiert hat, flüstert mir eben zu, daß das ja eh schon längst verjährt wäre. Na gut, also vielleicht hab ich hin und wieder auch mal inhaliert. Eines der Stücke, die ich damals besonders gern mit vollem Karacho zur Erbauung Gottes und meiner eigenen in die Mauern geblasen habe, ist das „Te Deum“ von Max Reger. Es war vielleicht nicht gerade musikalisch besonders wertvoll, da gleich mit vollem Werk einzusteigen, aber Spaß gemacht hat es allemal.

 

Das war unser erstes geistliches Orgelwerk. Sie sind jetzt bestimmt enttäuscht von diesem ziemlich armseligen Plot-Twist, aber ich bin schließlich Musiker, kein Drehbuchautor.

Reger ist übrigens überhaupt ziemlich geiles Zeug, hat aber den kleinen Nachteil, daß er meist (das Te Deum ist da eine Ausnahme) verdammt schwer zu spielen ist. Extrem virtuos, so wie auch die drei gleich folgenden Werke, vorher aber noch Johann Sebastian Bach, den kann ich Ihnen unmöglich schon wieder vorenthalten, so wie ich das schon frevlerisch bei der Kirchenmusik-Kolumne getan habe. Also nicht etwa, daß der Bach leicht wäre oder die anderen hier gezeigten Werke, nee nee, aber nach oben hin geht da noch was. „Oh nein“, höre ich Sie flehentlich wimmern, „bitte nicht die Toccata und Fuge d-moll, die hängt uns schon zu beiden Ohren und diversen weiteren Körperöffnungen raus!“. Entspannen Sie sich, ich habe für Sie die Passacaglia und Fuge c-moll ausgewählt.

Weil er es kann

Die Passacaglia gehört (ähnlich wie die Chaconne) zu den Variationsformen. Im Gegensatz zur „herkömmlichen“ Variationenform wird hier nicht ein Lied bzw. eine Melodie als Ausgangsmaterial variiert, sondern eine Bassfigur (oder eine harmonische Wendung). Sie hören hier also immer wieder die gleiche achttaktige Bassfigur, über der sich das Werk entspinnt. Danach hängt Bach dann mal eben noch eine Fuge über diese Figur an. Weil er es kann. Weil er Bach ist. Und sonst niemand.

 

Das ist zwar nicht unbedingt geistliche Musik, aber weltlich ist sie auch nicht. Jedenfalls nicht von dieser Welt.

Wir kommen zu unserem zweiten geistlichen Werk, zu unserem vierten Franzosen und zum vierten Variationenwerk, den „Variations sur un Noël“, also Variationen über ein Weihnachtslied, von Marcel Duprés (1923).

 

Die wären jetzt dramaturgisch nicht unbedingt nötig gewesen, aber ich find die halt geil.

Schräge Vögel

Organisten sind manchmal schräge Vögel, glauben Sie mir, ich kenne einige. Vielleicht weil sie sich so oft mit vollem Werk den Schädel durchpusten oder weil sie ständig Weihrauch inhalieren müssen. Der schrägste Paradiesvogel im Nest dürfte derzeit Cameron Carpenter sein. Puristische Oldschool-Organisten rümpfen über ihn auch mal das Näschen, weil er es vielleicht manchmal auch ein wenig übertreibt mit dem Farbreichtum, wenn er auf der nach seinen ganz speziellen Bedürfnissen gebauten Orgel hemmungslos Neongrün mit Pastelltönen und Einhornrosa vermischt, das kann dann klingen wie ein Jahrmarktsbesuch auf LSD. Und er ist auch optisch und im Habitus ziemlich… äh ungewöhnlich. Aber der kann was. Ich hab den mal live gesehen – u.a. auch mit den Noëls von Duprés und mit Bach – das war schon sehr sehr gut, und vor allem atemberaubend bis wahnwitzig virtuos, das ist schon von einem anderen Stern. Wir hören und sehen ihn mit seiner eigenen Transkription der Ouvertüre zu „Candide“ vom wunderbaren Leonard Bernstein.

So, und jetzt bekommt unsere Story hier doch noch mal einen weiteren Twist. Es scheint zwar zunächst vollkommen ausgeschlossen, in einer Kolumne über Orgelmusik irgendwie meinen Trifonov unterzubringen, aber wir sind hier ja beim Film, da geht auch Unmögliches. Und weil es mein Film ist und Daniil meine Geliebte, schreib ich ihm da einfach eine Rolle rein.

Daniil

Hätten Sie gedacht, daß Trifonovs musikalische Entwicklung eigentlich von der Orgel her begann? Ich zitiere mal aus einem Interview mit dem Online-Musikmagazin niusic.de:

Meine Eltern fanden mich, als ich verschiedene Dinge am Midi-Keyboard ausprobiert habe, wir hatten ein Klavier, das habe ich nicht gespielt. Ich liebte den Synthesizer und die Knöpfe und die Sounds.

Und weiter:

Welches Flügelmodell wärst du, wenn du dich dadurch selbst charakterisieren müsstest?“ „Ich spiele ja auf ganz verschiedenen Marken, Steinway passt immer, aber manchmal suche ich auch nach anderen Klängen, die ich dann in anderen Marken finde … also ich will eigentlich mehr Orgel spielen in nächster Zeit, vielleicht sag ich mal einfach Orgel!

Na, da muß ich ja gar nichts erfinden, prima. Wir hören Daniil mit der Klavierreduktion des Balletts „Petruschka“ von Igor Strawinsky, ein absolut wahnwitzig virtuoses Werk. Wie Cameron Carpenter hat Daniil hier die Aufgabe, die Klangfarben eines großen Orchesters nachzubilden, allerdings stehen ihm dabei keine Knöpfe mit verschiedenen Sounds zur Verfügung, sondern nur schwarze und weiße Tasten.

Aber wenn einer mit schwarz-weiß-Technik einen Farbfilm hinbekommt, dann Daniil.

Clemens Haas

Clemens Haas, geb. 1968, hat Mathematik und Philosophie durchaus studiert mit eifrigem Bemühn, dann aber doch zurück gefunden zur ersten Liebe, Klavier und Tonmeisterei und dieses Studium dann auch abgeschlossen. Er arbeitet als freier Toningenieur und Komponist für ÖR und private Rundfunk- und Fernsehanstalten und für die Werbeindustrie.

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