Heißen alle alten Krauts Heinrich? – Kapitel 6

Junkfood, Tequilla, illegale Einwanderer und ein Telefonat mit Heinrich von DieKolumnisten.


»Auf einem Vegetariano ist kein Hackfleisch, sonst wär’s ja kein Vegetariano«, meint Jose.

»Doch, da ist Hackfleisch drauf«, schreit Betsy.

»Lass mal schauen.« Jose beugt sich über Betsy Burrito, mustert den zehn Sekunden lang fachmännisch und sagt: »Kein Hackfleisch. Nicht mal im Nanogrammbereich.«

»Es schmeckt und riecht wie Hackfleisch«, murmelt Betsy, nun aber doch etwas kleinlaut klingend.

»Auch eine vegetarische Soße kann nach Fleisch schmecken«, klärt Jose sie auf.

»Nun lasst uns den Abend doch nicht mit einer Diskussion über vegetarisches Junkfood verplempern«, sagt Hank, greift sich ihren Teller, geht in die Küche und wirft alles in den Mülleimer.

»Was tust du da, Idiot?«, jammert Betsy, »ich bin noch nicht satt.«

»Willst du meinen haben?«, frage ich und schiebe meine nach wie vor unausgepackte Portion zu ihr rüber.

»Du bist nicht hungrig?«

»Ich besorg mir was nach dem Interview.«

»Bist ein Schatz.« Betsy starrt mich verliebt an. Ich tue so, als ob ich es nicht bemerke.

»Jose, stimmt das, was Hank eben behauptet hat: ihr kommt mittlerweile in Hundertschaften über die Grenze?«

»Gibt viele Wege, von Süd nach Nord zu gelangen. Und der Weg bestimmt dann wieder die Anzahl der Teilnehmer. «

»Gib mir mal ein paar plakative Beispiele«

»Meine Cousine Blanca. Die ist im vergangenen Jahr zusammen mit ihrem kleinen Sohn östlich von Monterrey rüber nach Brownsville. Kostete 3000 Dollar der Spaß. Eine Gruppe von zwölf Personen. Zwei Wochen Warten in einer Wellblechhütte auf der mexikanischen Seite, bis der Kojote die Luft für rein hielt. Er hat sie bloß bis zu einer unbewachten Furt am Fluss geführt und ihnen grob erklärt, wie es auf der anderen Seite weitergeht. Ist dann natürlich schon nach wenigen Meilen von einer Patrouille geschnappt worden. Ein Monat in einer Auffangeinrichtung in der Nähe von Corpus Christi. Wir haben alle zusammengelegt, ihr einen Anwalt besorgt, der sie aus dem Lager rausholte. Hat Glück gehabt, muss keine Fußfessel tragen. Wohnt jetzt in L.A., hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Gültige Papiere hat sie bisher keine.«

»Ist das die Kleine, die abends deinen Laden putzt?«, will Hank wissen.

»Zwei Mal die Woche.«

»Zahlst du sie dafür?«

»Über Tarif. Und ich gebe ihr die Lebensmittel mit, bei denen das Haltbarkeitsdatum bald abläuft.«

»Großzügig von dir. Hatte dich bis eben noch für einen habgierigen, kleinen Kaufmann gehalten.« Hank formt die Lippen zu einem O und pfeift anerkennend.

»Wäre das ein Problem, wenn du dabei erwischt wirst, dass du eine Illegale beschäftigst?«

»Theoretisch schon. Die Strafen können mehrere tausend Dollar pro Einzelfall betragen. In der Praxis kommt es jedoch eher selten vor, dass die Einwanderungsbehörde Razzien in Kiosken unternimmt. Die nehmen lieber Großwäschereien und Reinigungsservices aufs Korn, wo sie in einem Schwung sofort fünfzig Papierlose hops nehmen.«

»Papierlose nennt man die hier?«

»Ja.«

»Blanca ist durch den Rio Grande gewatet. Was ist mit den anderen Wegen?«

»Meine Cousine Herlinda hat’s weiter westlich probiert. Hinter Juarez. Auch mit kleinem Sohn. Drei Tage zu Fuß durch die Wüste. Die Gruppe war größer: circa dreißig Leute. Bunt gemischt: Männer, Frauen, Kinder; alle Altersgruppen.«

»Wie viele Cousinen hast du, Joey?«. Hank mustert Joey mit einem neugierigen Blick.

»Unsere Familie ist groß. Wenn ich die zweiten Grades hinzuzähle, sind’s sicher drei Dutzend, vielleicht auch vier.«

»Sie sind so viele!«, ruft Bukowski theatralisch. »Ich habe nicht mal einen einzigen Verwandten.«

»Stimmt«, sage ich. »Bis auf Onkel Heinrich in Bad Neuenahr sieht’s mau bei dir aus … was passierte mit Herlinda? Wurde sie aufgegriffen?«

»Ja, die meisten Frauen werden gefasst. Sind nur wenige, die an der Grenzpolizei vorbeikommen.«

»Und dann?«

»Ein Monat Dilley.«

»Was ist Dilley?«

»Ein Internierungslager für Frauen und Kinder. Aber eins aus der Kategorie „echt übel“: jeweils zehn Frauen und Kinder in einem Raum, manche haben keine Fenster. Die Kinder, die von den Strapazen der Reise oft krank sind, stecken sich gegenseitig an, die medizinische Betreuung lässt stark zu wünschen übrig. Manchmal werden Mutter und Kind getrennt, das Kind in eine andere Einrichtung gebracht. Labile Frauen drehen durch, Selbstmordversuche an der Tagesordnung. Eine von Herlindas Zimmergenossinnen hat sich in der zweiten Woche die Pulsadern geöffnet, wäre beinahe verblutet.«

»Hört sich wirklich hart an. Wo ist deine Cousine im Moment?«

»Ebenfalls in L.A. Derselbe Anwalt wie bei Blanca hat sie freigeboxt. Ohne Papiere. Geduldet. Kann also jede Minute abgeschoben werden.«

»Kein schönes Leben. Was macht sie?«

»Engagiert sich als unbezahlte Freiwillige in einer Hilfseinrichtung für illegale Migrantinnen.«

»Die Blinde hilft den Lahmen.« Buk lacht über seinen eigenen Witz, der Tequila gerät dabei in seine Luftröhre, er verschluckt sich, hustet, läuft kurz dunkelrot an, ich klopfe ihm kräftig auf den Rücken, er beruhigt sich.

»Lustig ist das nicht«, sage ich.

»Natürlich ist es nicht lustig. So todtraurig, dass wir eigentlich alle zusammen weinen müssten, wären wir nicht so verdammt abgebrüht und desillusioniert.« Hank sitzt eingefallen auf seinem Stuhl, wirkt erschöpft und aufgedunsen.

»Wenn du möchtest, kann ich dich mit beiden Cousinen bekannt machen. Sie sind heute Abend alle zwei in meinem Laden und gehen Eduardo zur Hand«, bietet Jose – dem augenscheinlich das unaufgeräumte Ambiente in Bukowskis Apartment missfällt – nun an.

»Warum nicht? Tapetenwechsel. Was ist mit dir Hank, kommst du mit?«

»Und Betsy?«

»Die natürlich auch …lasst mich aber bitte schnell noch ein kurzes Telefonat mit Deutschland führen.« Ich springe auf und stelle mich ans Fenster, weil ich dort besseren Empfang vermute.

»Wie spät ist es da?«, fragt Betsy.

»8 Uhr morgens sein.«

»Wen willst du denn um diese unmenschliche Uhrzeit erreichen?«

»Die Redaktion.«

»Die arbeiten schon?«

»Ulf wird noch pennen. Aber Heinrich müsste wach sein.«

»Heißen alle alten Krauts Heinrich?« Betsy gluckst und wiegt ihren Kopf neckisch hin und her.

»Ich bin hier an einer Bombenstory dran«, sage ich am Telefon, als ich Heinrich endlich mit der fünften Durchwahlnummer in der Redaktion an den Apparat bekomme.»…..«

»Ob Bukowski mir die Tür aufgemacht hat? Klar, war sogar happy, mich zu sehen.«

»…..«

»Wie lange ich noch benötigen werde? Drei, vier Tage, bis ich alle Antworten im Sack habe. Das ist ja kein normales Interview, bei dem wir mehrere Stunden am Stück konzentriert zusammensitzen. Ständig platzt jemand dazwischen und stört den Flow. Aber so wird’s Hank auf jeden Fall nicht zu schnell langweilig.«

»…..«

»Wann ich die ersten Seiten liefern werde? Heute Abend meine Zeit. Also bei euch morgen früh.«

»…..«

»Wenn ich es dir doch sage: hundertpro. Zum ersten Kaffee im Büro kannst du die Rohfahne lesen.«

»…..«

»Ob ihr was für mich tun könnt? Macht Bukowskis Onkel in Bad Neuenahr ausfindig und lasst euch von dem eine Liste geben, was er seinem Neffen zum Geburtstag und zu Weihnachten schenkt. Und schickt mir dann ein Expresspaket davon ins Hotel. Damit kann ich sicher Eindruck bei ihm schinden.«

»…..«

»Melde mich morgen wieder bei euch. Versprochen. Muss jetzt los, bin mit zwei hübschen Mexikanerinnen verabredet. Ciao!«

»Was meint dein Chef?«, fragt Hank, der sich in der Zwischenzeit ein frisches Hemd angezogen hat.

»Alles okay für ihn. Er lässt euch herzlich grüßen, wünscht uns einen schönen Abend und freut sich schon auf den Text unseres Interviews.«

»Was für ein Stress. Immer möchten sie alles ganz schnell haben. Na ja, du schaffst das sicher … Joey, genug zu trinken gibt’s ja in deinem Laden; ich brauche also keinen Stoff von hier mitzunehmen? …

»Betsy, zieh dir was an, oder willst du im Pyjama auf die Straße?« Bukowski hat es sichtbar eilig.

»Hetz mich nicht. Muss vorher noch ins Bad, mich frisch machen.«

»Das dauert zu lange, bis du dich komplett restauriert hast, altes Mädchen. Wir gehen vor, uns mit Joeys Cousinen anfreunden. Vielleicht ist eine von denen ganz hübsch und will sich bei mir mit Haushaltspflege ein bisschen Geld dazu verdienen. Obwohl ich mir bei der Visage des Kioskbesitzers da jetzt keine allzu großen Hoffnungen mache.«

»Pass auf den senilen Lustgreis auf, Henning. Nicht, dass er allzu peinlich mit ihm wird … wie die Geschichte mit Javier weitergeht, interessiert anscheinend niemanden«, sagt Betsy uns zu, während sie ihre riesige Handtasche nach Make-up und Kajakstift durchsucht.

»Doch, doch, erzähl sie nachher in Joeys Laden zu Ende. Bin echt gespannt, wie es weitergeht.«

»Er war ein übler Trigamist!«, höre ich sie noch durch die geschlossene Badezimmertür rufen, bevor Jose, Hank und ich uns auf den Weg zu den Cousinen machen.

 

 

Im nächsten Teil stellt sich heraus, dass der alte Eduardo nicht nur die besten Burritos in East-Hollywood zubereitet, sondern auch eine spannende Vorgeschichte hat, in deren Verlauf er drei Finger verlor. Und die eine Cousine von Joey ist wirklich hübsch

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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