Entfremdung von der Freude – Der Freude ein Fremdling

Teil 1 : Die Gefangenen von Stockholm


Seit der Entscheidung des Bundestages, die Ehe für Alle zu öffnen, habe ich immer wieder neu angesetzt etwas Grundsätzliches darüber zu schreiben und etliche Anfänge auch wieder verworfen. Ich wollte erzählen, weshalb ich nicht in den verständlichen Jubel der „Community“ (was immer das auch ist) einstimmen kann, zu der ich nicht gehöre und warum mich das so traurig stimmt… aber mein Unbehagen, das nicht der berechtigten Freude gilt, zielt auf etwas anderes, hat Ursachen: ich muß von der lebenslangen Entfremdung von der Freude erzählen.

Gerecht, aber zu spät

Ja – diese Eheöffnung war überfällig und gerecht, aber für mich kam sie zu spät. Sie ist ein gekrümmt-politischer Akt verfehlter Gerechtigkeit, die mich traurig stimmt. Da diese Traurigkeit mit meinen Gefühlen und meinem alternden Körper, dem sie eingeschrieben sind, zu tun hat – und nicht bloß mit meinen Verstand und meiner Fähigkeit zur Analyse – muß ich von mir erzählen und von einem Scheitern, an dem ich unwillentlich mitgearbeitet habe, wie alle Menschen, die zu einer Minderheit gehören, darauf konditioniert sind, unwillentlich daran mitarbeiten, zu den Gefangenen von Stockholm zu werden. Das ist unsere Lebenshauptsache: und ich lasse sie mir nicht mehr als Petitesse einreden mit dem Satz: „So geht es letztendlich doch allen!“ Denn das ist nicht wahr!

Beispiele der Ein- und Anschläge aus dem Alltag: AfD-Mitglieder meiner Geburtsstadt Paderborn (Sie ist nicht meine Heimatstadt; die Gefangenen von Stockholm haben keine Heimatstädte. Gerade weil sie überall Fremdlinge sind, wollen sie sich in „Stockholm“ heimisch einrichten) kündigen auf die Eheöffnung eine Demonstration an, da die Homosexuellen aus „ihrem Land“ ein sodomitisches Freudenhaus machen wollen, wie sie tatsächlich glauben. Sie benutzen damit Termini, die zu rigoros-frömmeren Zeiten das gottgerechte Verbrennen auf dem Scheiterhaufen ankündigten.

Hedwig von Beverfoerde, Führerin der „Demo für Alle“, befürchtet, die lautstarken Vertreter der zivilisationszerstörerischen Homolobby sollte die „normale Mehrheit“ der Gesellschaft zwingen, sie mit Liebe (das wäre ja auch zuviel verlangt) zu umarmen. Die Homosexuellen aber, die devoterweise auf Liebe verzichten und solche Ansprüche, werden so gerade eben noch geduldet.

Evangelikale aus dem Dunstkreis von Ulrich Parzany, den ich in einem Kolumnistenartikel einen politisch gefährlichen Mann genannt habe, erklären mir überheblich, ich sei das satanisch Böse – was ja in der Konsequenz auch nichts weiter als den gottgefälligen Flammentod der Reinigung meint. Nur der schäbige Flitter der Aufklärung und ein wenig das Strafgesetzbuch hindern diese Leute daran, ihre Gedanken zuende zu denken und Taten werden zu lassen im Namen der Religions- und Meinungsfreiheit.

Reaktionen der Homohasser

Dies sind nur wenige der tatsächlich zahlreichen wütenden und bösartigen Reaktionen der Homohasser aus Parteien, Kirchen und militanten Haßorganisationen – nicht zu vergessen eine von einem feig-anonymen Homosexuellen selbst, von dem noch die Rede sein wird. Ich kann darüber nicht mehr mit den Schultern zucken, denn was man leichterdings Dummheit nennen mag, hat eine perfide, primitive ja „primitiefste“ Absicht: zermürben, krank und kaputt machen. Damit sich die „Homosexuellenfrage“ von selbst löst.

Davon will ich hier sprechen: das wird nicht leicht werden. Wer Offenheit, Persönliches und Persönlichkeit nicht erträgt, der höre hier auf zu lesen, denn was kommt, wird ihn im besten Falle beunruhigen, im schlechtesten mit noch mehr Häme erfüllen als er sie schon in sich trägt. Es geht nur an der glatten Oberfläche um gesellschaftspolitische Fragen; darunter liegen Scham, Vernichtung und Selbstvernichtung des Einzelnen.

Ich freue mich für die anderen, die heiraten wollen und nun können und die hoffen mit der Selbstverständlichkeit der Heirat wüchse so auch die Selbstverständlichkeit des Homosexuellen. – Nicht in meinem Leben: für mich ist keine Freude übrig – ich muß mich zur Freude an- und aufrecht halten, sie gilt den Jungen, der Zukunft. Eine gegenwärtige Freude kann ich nicht empfinden, ich habe sie nie erlernt.

Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

Er hat mich beschimpft, mir ´ne halbe Million gehindert, meinen Verlust belacht, meinen Gewinn bespottet, mein Volk geschmäht, meinen Handel gekreuzt, meine Freunde verleitet, meine Feinde gehetzt. Und was hat er für Grund? Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Sommer und Winter als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen so ähnlich, so wollen wir´s euch auch darin gleich tun. Wenn ein Jude einen Christen beleidigt? Was ist seine Rache? Demut? Rache! Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muß seine Geduld sein nach christlichem Vorbild? Nu Rache. Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben. Und es muß schlimm hergehen oder ich will es meinen Meistern zuvortun. (William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig III.I.)

Von diesem Monolog des Shylock lasse ich nichts weg – wie denn in so vielen Inszenierungen seit 1945 geschehen; „Der Kaufmann von Venedig“ galt wenigstens in Teilen als antisemitisch. Nach dem Verbrechen des millionenfachen Mordes aus Haß, Neid und Gier war verständlicherweise auch ein Shakespearestück zweifelhaft.

Auf den ersten Blick erfüllt dieser Monolog ja auch alle antisemitischen Klischeevorstellungen vom bösen und verdorbenen Juden. Aber es waren für die elisabethanischen Zeitgenossen nur Vorstellungen. „Der Jude“ war den Engländern gleichsam nur als phantastisches Feindbild, als Chimäre des Bösen bekannt, aus eigener Anschauung kannten sie gar keine Juden. Im Jahre 1290 – nachdem wieder einmal die üblichen Hysterie-Geschichten von jüdischen Ritualmorden an Kindern durch die Lande gelaufen waren – wurde die Vertreibung von Staats wegen angeordnet. Es gab seitdem bald 400 Jahre lang keine Juden in England; erst zu Beginn des 18.Jahrhunderts durften sie sich allmählich wieder vom Festland Einwandernde ansiedeln.

Nur ganz wenige Juden wurden nach der Vertreibung geduldet, damit die christliche Bigotterie in Sachen Geldverleih und Zinserhebung weiter betrieben werden konnte: Man überließ – wie überall in Europa – den Juden das Geldwesen, während man ihnen alle anderen Berufe und Tätigkeiten verbot. Diese gesetzlichen Infamien bildeten dann den schlammigen Urgrund für Neid und Vorurteile, dazu kamen auch noch Sexualphantasien, denn wer aus pekuniären Gründen mit dem Teufel im Bunde war, wie „diese Juden“, die ja angeblich auch den einzigen Gottessohn verraten hatten und sich nicht zum wahren Gott bekennen wollten, die trieben gewiß auch Unzucht und waren geiler als die frommen Christen. So entstand in Literatur und Malerei der Topos der „Schönen Jüdin“, die zumeist das Verderben „anständiger“ Männer war und der des schmuddelig-schmierigen jüdischen Geldverleihers.

Kinderfresserei, Geldgier, Habsucht und satanische Sexualität – seine niedersten Triebe projizierte der Wohlanständige wie je auf eine Minderheit, eine Gruppe religiöser Außenseiter (Gott sei Dank ich bin nicht so…gell lieber Gott? MICH hast Du lieb, ich finde Gnade vor deinem Auge!), eine Gruppe, die noch nicht einmal missionierte; selbst das machte sie verdächtig, waren sie wohl nicht so unbeirrbar besessen von ihrem Gott wie die kreuzzüglerischen Christen. Daß fast alle Juden wie es ihr Glaube gebot, lesen und schreiben konnten und damit in mittelalterlichen Zeiten gebildeter waren als die meisten Christen, denen fromme Einfalt als Tugend galt, machte sie noch weiter verdächtig.

Die Kenntnis dieser historischen Tatsachen läßt mich zweifeln, ob der Monolog des Shylock ihn tatsächlich zu einer antisemitischen Zerrfigur macht. Shakespeare, der ja gar keinen Juden kennen konnte, nur das vorurteilsbehaftete Zerrbild, läßt den Shylock in einer großen literarischen Geste von den Gründen seiner Bosheit, seiner Vergrämtheit, die aus tiefster Verletzung und Mißachtung entstanden sind, sprechen. Bis auf einen Punkt, sagt Shylock, bin ich genauso wie ihr. Ja, noch mehr: er hält den „guten Christen“ den Spiegel vor: ich bin genauso böse wie ihr! In nichts also unterscheide ich mich – bis auf jenen einen Punkt: „Ich bin ein Jude!“

Die Mehrheitler

Die Gemeinschaft derer, die sich in der Mehrheit wähnen, nutzt diesen einen Unterschied als Basis, um darauf ihren Zusammenhalt, ihre Herrschaft, ihre Deutungshoheit über alles und jeden zu begründen und zu festigen. Und damit man nicht merkt wie willkürlich das alles ist, werden die existenzielle Minderwertigkeit und eine göttlich gerechtfertigte Hierarchie erfunden. Gott, der immer das Pappkameraden-Sprachrohr der Herrschenden und der „Normalen“ war, will Unterschiede und Ungleichheit – Ungleiches darf man nicht gleich machen. – Wir kommen später darauf zurück.

War es ehemals die religiös-europäische Standesgesellschaft, die mit solchen Phantasmen ihre Struktur erfand und befestigte, so war es später die bürgerliche Gesellschaft, die sich aufgrund der Krebskrankheit des wuchernden Kapitalismus seit 250 Jahren, eigentlich bereits seit ihrem Entstehen, in ständig beschworener Auflösung befindet. Den Zustand der drohenden Auflösung muß eine autoritäre und hierarchische Gesellschaft permanent herbeireden, um Zusammenhalt zu provozieren, ein hysterisches Zueinanderrücken unter den Auspizien Volk und Vaterland, damit man nicht die wirklichen Gefahren des Versagens erkennt. Sündenböcke als Antichristen und Antibürger sind da immer willkommen.

Zwar gab es eine jüdische Emanzipation im 19.Jahrhundert, aber sie war eine Scheinemanzipation. Gewiß wurden Juden im Alltag sichtbarer und selbstverständlicher, doch waren Haß, Neid, Gier und die infame Notwendigkeit der Selbstaufwertung durch die Abwertung anderer, eben nicht vollständig in die Schatten der Unzivilisiertheit gewichen, aus denen die Juden endlich meinten, entkommen zu sein. Das Ergebnis ist bekannt… Schwiemelige Toleranz hat die Juden nicht geschützt… (Und vielleicht ist „Nathan der Weise“ mit seinem gönnerhaften Philosemitismus viel antisemitischer als „Der Kaufmann von Venedig“) und schützt auch nicht die Homosexuellen. Denn wie ließ Hedwig von Beverfoerde, die antisexuelle Demagogin der gläubigen Ungleichheit über Homosexuelle verlauten: Toleranz sei die „Duldung eines Übels“. Diese Auffassung von Toleranz unter Ablehnung der Akzeptanz hat den Holocaust ermöglicht. Wo es erst einmal Untermenschen gibt stehen sie irgendwann auch zur Disposition.

Nicht anders als den Juden erging es seit je anderen existenziellen Außenseitern: Menschen anderer Hautfarben und den Homosexuellen. Man kann mit Gesetzen eine juristische Basis schaffen für die Veränderung zur Toleranz, aber daß selbst die gekippt werden kann und zwar in tödlicher Geschwindigkeit, haben die 30er Jahre des Vergangenen Saeculums gezeigt. Und in diesem Augenblicke erleben wir in Tschetschenien, daß es immer rückwärts gehen kann. Sind es nicht Homosexuelle,, die in neue KZ gesperrt und dort ermordet werden, dann sind es andere Repräsentanten des abweichenden Fühlens und Denkens wie just auch in der Türkei. Nicht das Gesetz schützt davor, sondern die akzeptierende Einstellung zum Menschen…sie kommt noch vor dem Gesetz.

Kampf erbitterter als zuvor

Die Öffnung der Ehe auch für Homosexuelle, kaum daß über sie im Parlament (sine parlare) positiv abgestimmt wurde, wird nun erbitterter bekämpft als zuvor. Volker Kauder hatte Forderungen nach Eheöffnung schon vor Jahr und Tag abgewiesen mit der schlecht verhohlenen Drohung, die Homosexuellen mögen es nicht zu bunt treiben, man könne auch Zugeständnisse wie die Verpartnerung wieder zurücknehmen, die er so zum Gnadenakt herabsetzte. – Toleranz ist also ein Zugeständnis, kein verbrieftes Recht – wie ja Menschenrechte immer bloß als Gnadenakte angesehen werden.

Jetzt gehört der Erzprotestant Kauder zu denen, die gegen das Gesetz vor dem Verfassungsgericht klagen wollen, damit die Homosexuellen wieder auf den Platz verwiesen werden, wo nicht nur der evangelikale Christ sie gerne haben möchte: draußen vor der Tür. – Der reaktionäre emeritierte Führer der Evangelikalen, Ulrich Parzany schleudert dazu sein „apage spiritu“ wie die Phalanx katholischer Kirchenmänner, die noch immer nicht begriffen haben, daß es nicht um ihre religiöse Ehe geht, die ihnen niemand rauben will. Aber da sich alle diese Herrschaften ja ohnehin im Besitz der Wahrheit und Weisheit befinden (kann man Weisheit besitzen?), sehen sie sich in einem Aufwasch auch in juristischen Fragen für alle kompetent wie seit je. Deus lo vult – und was Gott will, das wissen Herr Parzany, Kauder oder die katholischen Bischöfe, die es nur etwas salbadernder ausdrücken.

In Rußland und in zahlreichen afrikanischen Staaten wurden in diesem ersten Jahrzehnt des 21.Jahrhunderts Strafgesetze erlassen, die homosexuelles Leben einschränken oder unmöglich machen. Die Ehe bei uns schützt nicht die tschetschenischen Homosexuellen vor Verfolgung und Mord. Gallionsfiguren des Anti-Schwulenkampfes, wie Gabriele Kuby, loben ausdrücklich solche menschenrechtswidrigen Gesetze. Die Institution für Menschenrechte, die UN, die sich für die Gleichbehandlung der Homosexuellen einsetzt, wurde von Gabriele Kuby, so wie es totalitäre Charaktere immer machen wenn sie Unterstützer zu Mittätern degradieren, bereits der „Homosexualisierung“ der internationalen Politik geziehen. Nicht zu vergessen: die EU ist auch schon im Würgegriff der internationalen plutokratischen jüdischen Weltver…, ach Verzeihung ich komme schon mit den Verschwörungen durcheinander, der internationalen Homolobby… Gift und Galle der Gegner lassen ätzend ahnen, was sie gerne möchten, sie sehnen sich nach Pogromen.

Die Gesetze Rußlands gegen „Homopropaganda“ das kann nach der Willkür eines Polizisten oder Passanten bereits ein sich küssendes homosexuelles Paar sein, ebnen erst den Weg zur Säuberung Tschetscheniens von Homosexuellen – und zu ihrem Ende als Entrechtete, Gemarterte und Ermordete in zeitgenössischen KZs. Es steht zu befürchten daß KZs immer zeitgenössisch bleiben werden…

Vor den Gesetzen zur Menschenverdrängung und Vernichtung schwelt und wütet Haß, Ablehnung und Ausstoßung… und die Lügen, daß Außenseiter und Minderheiten die Gesellschaft bedrohen. So wie in Zeiten des Nationalsozialismus die angebliche Weltgefahr des internationalen Finanzjudentums erfunden wurde, so wie damals von den Juden gelogen wurde, sie brächten Kinder um, vergewaltigten Frauen oder eigneten sich den Besitz anderer an – und zwar aus Prinzip, ein Prinzip ihres angeblich „verdorbenen Charakters“ – so wird den Homosexuellen die Kinderverführung, die unmäßige Geilheit, mit der sie die Gesellschaft zersetzen wollten, unterstellt. Immer dieselben Muster.

Daß aber z.B. in Rußland – auch von der AfD kommen solche Töne – die Homosexuellen als Bedrohung für den Bestand der Gesellschaft ausgeguckt worden sind(Stichwort „demographische Gefahr“), hat ein – wenn es das überhaupt geben kann – noch ungeheuerlicheres Ziel als die „Ausrottung“ der Juden, die man im Schilde führte.

Homosexuelle sind aus der perfiden Sicht ihrer Hasser auf eine diabolische Art noch probater als Juden… Ziel war es einstmals – und ist es noch immer bei Antisemiten: die Juden „auszurotten“, es gibt kein treffenderes Verb dafür. Wenn man Menschen zweiter Klasse schafft, dann kann man ihnen auch unbeschadet das Leben nehmen.

Fehler der Natur?

Homosexuelle kann man aber nicht ausrotten, die „Unnatürlichen“ sind ein Teil der Natur, sie entstehen täglich in jeder Generation neu, sie sind Kinder der „Natürlichen“. Diese Tatsache zu verleugnen, muß man sich sehr große Mühe geben, um die Legende von den Fehlern der Natur zu singen, die ein „corrigé la nature“ notwendig machen… Solche „Fehler“ der Natur müssen auch immer als Gefahr dargestellt werden, damit man sie, wie etwa den Erreger der Pest, ausrotten kann. Wer von „Fehlern“, Fehlentwicklungen der Natur spricht, meint immer die Ausrottung.

Man hat also mit den Homosexuellen gleichsam, um im Feindbild zu bleiben, eine willkommene Hydra, die angeblich immer wieder den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören kann, immer wieder eine Gruppe, auf die man Haß, Wut, Neid und Gier lenken kann und damit auch ablenken von den eigentlichen kulturellen Gründen für Elend und gesellschaftlichen Verfall.

So wie die mittelalterliche Standesgesellschaft „den Juden“ als Feindbild brauchte, um ihre Hierarchien und ihre Ungleichheit zu rechtfertigen und den Zorn darüber gar nicht erst aufkommen zu lassen oder wenigstens zu kanalisieren – Im Lutherjahr ist dessen Judenhaß und gleichzeitige Verachtung der aufständischen Bauern ein angemessenes Beispiel für diese Herrschaftsmethode – so braucht auch die bourgeoise Gesellschaft im angeblich demokratischen Westen und die oligarchische im Osten, ebenso wie die noch immer tribalistische in Afrika, eine Gruppe, auf die man Aufruhr und Unruhe legitim lenken kann. – Nicht umsonst sprechen ausgerechnet nachkoloniale katholische Geistliche aus Afrika davon, daß Homosexualität angeblich kein Bestandteil ihrer Macho-Stammeskultur sei (Kardinal Sarah).

Wenn naive Homosexuelle nun fragen: Weshalb dieser Aufstand bei den Reaktionären, den Kirchen, der AfD gegen die „Ehe für Alle“ – wir nehmen doch niemandem etwas weg, wenn wir die gleichen Rechte bekommen? dann irren sie fatal: gleiche Rechte für Alle nehmen der Mehrheit das Privileg auf die Wenigen zu spucken, sie zu treten, sie abzudrängen zurück ins Verborgene, ins Zwielicht, die Kriminalität, die geifernd eiternden Dunstbereiche des Sexualneides.

Ich habe sie mal wieder an dem Tag, an dem ich diese Zeilen zu schreiben begann, erlebt diese toxische Mixtur aus Dummheit, (Gewalt-) Geilheit und Brutalität, die sich auch vorm Zuschlagen nicht scheut: ein AfD-Anhänger schleuderte mir in meine Facebook-Timeline den blöden Spruch: „Ja, gut, Ehe also auch für Homos, dann bleiben mehr normale Frauen für mich übrig….Jetzt können sie sich aber auch wieder in die Hinterzimmer verpissen und da ihre Sauereien treiben, wenn sie mich nur in Ruhe lassen.“ – Und bei der erwähnten AfD-Demo ließ ein Redner verlauten: es könne ja auch homosexuelle Beziehungen geben, die zeitweise – eine Zeit lang – einigen Wert hätten – und wertete sie damit nur noch mehr ab, um seine Heterosexualität aufzuwerten.

Der gebrauchte Homosexuelle

Ist das nur dumm? Brauchen diese Leute nicht eher die Homosexuellen, die sie so gönnerhaft verachten, daß sie bei Ihnen nur an Sex und Analverkehr denken, an ihre bedrohte kleinliche (gleichwohl, Verzeihung, unbändig fickgierige) eigene Sexualität (Akif Pirnicci hat darüber gar ein ganzes Buch geschrieben: „Die große Verschwulung“), um sich selbst aufzuwerten, um sich damit auch die Berechtigung zu geben, abzuurteilen: ich im Licht, die im Schatten…? Brauchen sie nicht einen imaginierten Zerrspiegel, um ihre tatsächlich durch ihr Minderwertigkeitsgefühl und ihren Haß verzerrte Gestalt in eben diesem Zerrbild vermeintlich richtig und gerade gewachsen zu sehen? Sie schämen sich ihrer Unzulänglichkeiten und Verwachsungen – aber wer definiert, was Unzulänglichkeiten und Verwachsungen sind – sind sie es nicht selbst? Es gibt doch gar niemanden, der nicht verwachsen ist! Die Normalität ist die Terrorchimäre des Bürgertums zur Kujonierung der Kleinmütigen.

Zerrspiegel und Zerrgestalten

So wie diese Leute, die sich ihrer eigenen Sexualität und ihres verwachsenen Selbst schämen, die Homosexuellen brauchen, die sie mit Lügen, Gerüchten und Haß zum Zerrspiegel geformt haben, damit sie sich im Zerrspiel als wohlgestalt erleben können, brauchen die Antisemiten „ihren Shylock“.

Shylock möchte soviel wert sein wie alle anderen, nicht mehr – aber sie lassen ihn nicht. Er ahnt, auch wenn ihm das noch mehr schadet, er gleicht ihnen erst, wenn er die Spiegelfunktion annimmt und genauso böse, verwachsen, haßerfüllt wird. Das ist seine Tragödie, aber nicht sein Jüdischsein. Er vergeht nicht an sich selbst, er vergeht an der Gnadenlosigkeit und Ungerechtigkeit der anderen, die sein ewiges anders und schlecht Sein brauchen, um sich gerecht, richtig und geliebt zu fühlen. Er ist in ihre Falle getappt und nimmt die Rolle, die sie ihm zugedacht haben, an. Ich sehe Shylock im „Kaufmann von Venedig“ eben nicht als Repräsentanten der antisemitischen Lüge vom wie auch immer gearteten „Wesen der Juden“, sondern als eine Person mit tragischem Schicksal, aus dem man ihn nicht entkommen läßt. Wenn Menschen über Jahrhunderte das Gefühl der Minderwertigkeit eingetrichtert bekommen, dann wird das der Humus für Selbstverachtung als zweite Natur, nein die Selbstverachtung wird eingewoben in die erste Natur. Das ist die erschütternde Identifikation mit dem Aggressor. Es ist das Sich-Schicken in die Gefangenschaft von Stockholm.

Dies zu erkennen, ist das epochale Verdienst derjenigen, die die Notwendigkeit des Staates Israel propagierten: denn der bedeutet NEIN zu sagen, die letztlich vernichtende Zweitklassigkeit abzulehnen.

Einen Staat für Homosexuelle wird es selbstverständlich nicht geben – er wäre ja auch nur die Bestätigung für all jene Hasser, die Homosexuelle absondern wollen. Und die Wut mit der Antisemiten den Staat Israel angreifen, entspringt ja genau derselben Irrationalität des Hasses, der Juden nicht einmal eine Zuflucht zugestehen will.

Ich erinnere mich erst angesichts dieser bitteren Erkenntnis, was ich mir mit dreizehn Jahren selbst eintrichterte, als ich begann immer deutlicher zu spüren, daß ich „anders war“ und damit nicht gelitten und geliebt wurde: gut, wenn ihr mich nicht lieben wollt und könnt, dann werde ich´s euch zeigen. Mein bitterer Fehler: was man an mir als negativ erachtete, wurde durch den Trotz nicht weniger negativ, aber gab mir eine vorläufige arrogante Sicherheit; ich ging meinen Verächtern auch hier auf den Leim. Die Selbstverachtung war mir also schon früh ins Lebensskript eingewoben worden.

Was für den „Außenseiter Shylock“ gilt, gilt auch für die Homosexuellen. Nicht ihre Homosexualität, wie „wohlmeinende“, sich human gerierende Feinde ihnen noch weismachen wollen, zum Beispiel mit dem Geschwätz von der psychischen Störung, ist tragisch – sie ist gegeben, existent, unaustauschbar! Tragisch ist, daß man Homosexuelle nicht so sein lassen will, wie sie sind und selbst wenn sie versuchen, sich so weit anzupassen wie möglich, wie eben jetzt mit dem Eingehen einer bürgerlichen Ehe – die im Übrigen auch die Heterosexuellen in Zwänge und Nöte der Anpassung und Unterdrückung treibt – dann verwehrt man ihnen auch das mit Zähnen und Klauen. Weil man sie eben als Zerrspiegel für den Zusammenhalt des heterosexuellen Hasses braucht. Ein Haß, der dem Mißtrauen gegen sich selbst entspringt, gegen Sexualität ganz allgemein, der Ausfluß ist des Mangels an Zuwendung Zärtlichkeit und Vertrauen.

Gewiß ist die jetzige Möglichkeit zur Ehe auch für Homosexuelle ein zivilisatorischer Fortschritt, wie ihn Michel Foucault forderte, als er um 1960 schon ausrief, es könne keine Zivilisation geben, wenn nicht die Ehe unter Männern zugelassen würde und ich erweitere – die Ehe für Alle. – Aber ist das nicht im Kern die gesetzliche Erlaubnis zur Mimikry des Andersseins? Anstatt das Anderssein anzuerkennen, wird die Bereitschaft zur Anpassung gewürdigt und huldvoll gestattet.

Deshalb ist die „Ehe für Alle“ auch kein Sieg der Liebe, wie so viele sentimental meinen. Es ist bloß ein Akt der Gerechtigkeit, aber nach so vielen tausend Jahren der Verteufelung kann es nur noch ein schief-verfehlter Akt der hinterherhinkenden Gerechtigkeit sein. Indem die Juden alles ablegten, was sie so fremd machte und sie sich in die kapitalistische Bourgeoise assimilierten, wurden ihnen sukzessive Bürgerrechte zugestanden – es war eine nutzbringende Gerechtigkeit, mit Liebe und Menschlichkeit (Gerechtigkeit für ein menschliches Individuum, die etwas anderes ist als ein zur formalen juristischen Gleichheit beitragendes Gesetz ) hat das nichts zu tun.

Ich rede von Liebe – denn im Kern, vor all diesen Ritualen des Hasses und den Gesetzesbemühungen zur Gerechtigkeit, geht es um Angst vor der Fremdheit und der Liebe, um verweigerte und verschmähte Liebe…deren Traurigkeit von Gesetzen nicht vertrieben werden kann, noch nicht einmal geregelt (was wäre auch geregelte Trauer?)

Und so wie Liebende andere gern an ihrem Glück teilhaben lassen möchten, so wollen Nicht-Liebende und Menschen, die aus Prinzip nicht geliebt werden, ihren Schmerz anderen zufügen.

 

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