Debatten-Taumel

Die Verweigerung der Debatte um die Ehe für Alle zeigt: Wir taumeln besinnungslos der Zukunft entgegen, statt uns auf die Unwägbarkeiten dessen, was kommt, in ruhiger Diskussion vorzubereiten.


Ganz Deutschland, wenigstens der Teil, der sich öffentlich äußert, scheint seit einigen Tagen im Freudentaumel zu sein. Wir feiern die Ehe für Alle. Im Bundestag wurden Konfetti verstreut. Meine Facebook-Freunde haben virtuelle Freudentränen in den Augen. Und jeder, der die Stimmung mit kritischen Nachfragen, gar mit Ablehnung des freudigen Ereignisses trüben könnte, wird der Gemeinschaft verwiesen.

Warum gelingt es mir nicht, mich der allgemeinen Euphorie anzuschließen? Warum reihe ich mich nun in die kleine Gruppe derer ein, die als Spaßbremsen die allgemeine Glückseligkeit beeinträchtigen.

Was eigentlich nichts zur Sache tut

Zunächst, obwohl es gar nichts zu Sache tut: Ich bin heterosexuell. Ich bin ein heterosexueller, weißer, nicht mehr ganz junger Mann, Babyboomer. Ich lebe in Deutschland, ich bin nicht arbeitslos. Spätestens jetzt ist klar: Ich gehöre zu den privilegierten, denen, die vom Schicksal unberechtigterweise bevorzugt wurden und die also eigentlich sowieso keine Ahnung von den Sorgen der Frauen, der Homosexuellen, der Nicht-Weißen haben, derer, die in Afrika leben und derer, die keine Arbeit haben.

Dann, auch wenn das immer noch nichts zur Sache tut: Ich habe homosexuelle Freunde und Verwandte, ich mag sie, ich streite und feiere mit ihnen. Sie mögen alle, wie ich, auf ihre Weise glücklich werden, ob in festen Beziehungen, ob als Single, ob in wechselnden Partnerschaften. Ich freue mich für diejenigen unter ihnen, die sich nun Eheleute nennen können, sofern sie sich das wünschten. Und wer von ihnen ein Kind adoptieren möchte, und wer die strengen Regeln des Adoptionsrechts und die Prüfungen der Ämter besteht, der soll das tun und glücklich sein.

Keine Diskussion

Was also verdirbt mir eigentlich den Spaß? Es ist die Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft die Debatte um ein solches Thema geführt wird. Es ist genau die Art, wie wir überhaupt Debatten führen. Diese Methode, Debatten gerade nicht zu führen, schwierige Themen, zu denen es verschiedene Ansichten gibt, gerade nicht zu diskutieren, die Debatte vielmehr zu verweigern, die Diskussion, genauer, die Menschen, die abweichende Ansichten vertreten, auszugrenzen und abzulehnen, die macht mir Angst.

In der Diskussion um einen Gastbeitrag in der FAZ kann dieses Verhalten exemplarisch besichtigt werden. Der Autor schrieb dort u.a.:

Und ist es wirklich so abwegig, was manche Gegner der Homo-Ehe behaupten, dass adoptierte Kinder ungleich stärker der Gefahr des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt sind, weil die Inzest-Hemmung wegfällt und diese Gefahr bei homosexuellen Paaren besonders hoch sei, weil die sexuelle Outsider-Rolle eine habituelle Freizügigkeit erotischer Binnenverhältnisse ohne alle sexual-ethischen Normen ausgebildet habe?

Ein langer Satz, der zwei Thesen enthält, die auf Anhieb nicht unplausibel klingen, über die man sachlich diskutieren könnte und müsste, die, ausgehend von der Frage des Adoptionsrechts für homosexuelle Paare auf die Situation von Adoptionsbeziehungen überhaupt führen könnte, eine Diskussion, die über die besondere Bindung an die biologischen Eltern gehen könnte, eine andere Diskussion, die der Frage der Auswirkungen habitueller Freizügigkeit überhaupt und der Wirkung und Ausbildung sexual-ethischer Normen insbesondere nachgehen könnte. Wir könnten, ausgehend von diesen Thesen, vieles diskutieren, was wichtig sein könnte für den Fortbestand unserer gesellschaftlichen Strukturen.

Das tun wir aber nicht. Denn der Störenfried wird niedergeschrien. Nicht nur dieser, jeder, der es wagt, dem Freudentaumel ein paar fragende Sätze oder gar abweichende Meinungen entgegenzusetzen, wird beschimpft, diffamiert, niedergemacht. Als Schwulenhasser wird er bezeichnet, als homophob. Die Wirkung ist klar: Auch andere, die vielleicht ebenfalls mit nicht ganz so großer Begeisterung der Veränderung des gesellschaftlichen Normensystems zusehen, in denen Sorgen aufkeimen, werden, schon bevor sie sich überhaupt entschließen, den Mund aufzutun, zum Schweigen gebracht.

Und somit unterbleibt nicht nur eine Diskussion um die „Ehe für Alle“, sondern auch jede Diskussion über die Frage, wie die Veränderungen des Wertesystems, wie die Schleifung normativer Selbstverständlichkeiten langfristig unsere Gesellschaft verändert und wie wir uns auf diese Veränderungen einstellen können.

Gedankenspiele zu Liebe und Begehren

Bleiben wir einen Moment lang beim Thema Homosexualität. Gesetzt den Fall, dass in nahezu jedem Menschen ein sexuelles Begehren sowohl für Menschen des eigenen, als auch für Menschen des anderen Geschlechts angelegt ist. Gesetzt, dass das leibliche Begehren vielleicht nicht mal vorrangig dem Geschlecht gilt, sondern einer gewissen Art, berührt zu werden und zu berühren, andere in Rausch zu versetzen und selbst in den Rausch körperlicher Berührung zu geraten, ein Begehren, das somit also grundsätzlich mit Partnern beiderlei Geschlechts möglich ist. Gesetzt weiterhin, dass aufgrund die Verhaltensweisen, die Nähe und Vertrauen und Sehnsucht und Liebe erzeugen, ebenfalls nicht eindeutig durch das Geschlecht geprägt sind und es somit möglich ist, dass ich mich sowohl in Männer als auch in Frauen verliebe, dass jeder von uns sowohl Menschen des eigenen als auch des anderen Geschlechts begehren kann, dass also wenigstens viele von uns gar nicht hetero- oder homosexuell sind sondern irgendwie beides, dass wir Männer und Frauen lieben können, aber natürlich nicht alle Männer und alle Frauen, sondern eben nur diejenigen, die auf bestimmte Weise auf uns wirken.

Wenn das so wäre, und wenn es unter uns dann natürlich auch eine gewisse Zahl von Menschen gäbe, die nur Männer oder nur Frauen lieben und begehren können, dann sei doch selbstverständlich jedem von uns gegönnt, sein Lieben und Begehren so auszuleben, wie es sich aus seinem Schicksal und seiner Erfahrungen entwickelt. Und wer von uns mit anderen zusammenkommt, mit denen er ein Leben lang zusammenbleiben möchte, wer dabei glücklich ist, sein Lieben in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu beweisen, der möge dies tun.

Eine andere Frage jedoch ist, was der gesellschaftlichen Stabilität zuträglich ist, und was wir also als Mitglieder der Gesellschaft institutionell oder durch Normen der Gemeinschaft fördern sollten. Um diese Frage zu beantworten, ist in der freien Gesellschaft eine offene und tolerante Debatte nötig, in der alle Teilnehmer bereit sind, andere, abweichende Ansichten zunächst mal als legitim und vernünftig zu akzeptieren, einfach, weil sie von einem anderen Menschen ausgesprochen werden, der nicht unvernünftiger ist, als ich selbst.

Wir sind z.B. alle daran interessiert, dass heute Kinder geboren werden, denn wir wollen, wenn wir alt sind, irgendwie noch leben können. Wir sind aus dem gleichen Grunde daran interessiert, dass diese Kinder möglichst in stabilen, liebevollen Familien aufwachsen. Wir wissen, dass diese Interessen gefährdet sind, und deshalb sollten wir schauen, welche gesellschaftlichen Normensysteme und institutionellen Regelungen diesen Interessen dienen und welche ihnen abträglich sind. Wir müssen den Spagat schaffen zwischen unseren individuellen Wünschen heute und unseren Hoffnungen für die Zukunft. Umso mehr wir heute frei sein wollen, desto mehr sind wir darauf angewiesen, dass Normen und Institutionen, die langfristig wirken, uns ein würdiges Leben auch noch in ein paar Jahrzehnten ermöglichen.

Wir müssen also gar nicht über irgendwelche Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft nachdenken um uns einzugestehen, dass wir, jeder von uns, ein Interesse daran hat, dass Kinder geboren und aufgezogen werden.

Alternativen? Aber ja.

Eine Voraussetzung dafür ist nun mal, da gibt es nichts zu deuteln, die heterosexuelle Paarbeziehung. Natürlich sind gemeinschaftliche Strukturen denkbar, in denen das nicht so ist, polygame Gemeinschaften etwa, in denen sexuelle Freizügigkeit herrscht und alle die Kinder von allen als gemeinsame Kinder betrachten. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass sich unsere Gesellschaft in eine solche Richtung verändert. Allerdings glaube ich, dass gerade in einer individualisierten Gesellschaft von Einzelnen die Ausbildung solcher Strukturen nicht der Normalfall wird.

Also sind wir darauf angewiesen, dass sich immer wieder einzelne Frauen mit einzelnen Männern zusammenfinden, um eine Familie zu gründen. Sie sollten die Absicht haben, wenigstens für ein paar Jahre oder Jahrzehnte zusammenzubleiben, Kindern ein Heim zu geben und sich daran zu freuen, dass ihr Nachwuchs immer selbstständiger wird um schließlich selbst das eigenen Schicksal in die Hand zu nehmen.

Man kann einwenden, dass es technische Alternativen zu diesem konservativen Familienbild gibt. Man kann darauf hinweisen, dass viele heterosexuellen Familien tragisch zerbrechen, bevor die Kinder selbstständig geworden sind. Man kann die Diskussion um das Problem ergänzen, dass viele junge Menschen, ganz unabhängig von ihrem sexuellen Begehren die feste Paarbeziehung scheuen, die auf Dauer angelegt ist. Man kann weiterhin ins Spiel bringen, dass es auch viele Paare gibt, wieder ganz unabhängig davon, ob die Partner gleich- oder verschiedengeschlechtlich sind, die sich keine Kinder oder vielleicht nur eines wünschen. Das ist alles richtig, und gerade deshalb brauchen wir Debatten, die alle Standpunkte einbeziehen, die Sorgen formulieren, die alle Aspekte beleuchten. Solche Debatten würden dazu führen, dass wir vielleicht zu ganz neuen Normen kämen, die die Stabilität unserer Gesellschaft aufrechterhalten, während wir alle unsere Freiheit genießen.

Im Taumel

Aber von einer solchen Debattenkultur sind wir weit entfernt, und das betrifft nicht nur die Frage von Sexualität und Familie. Die Debattenverweigerung findet auf allen Feldern der Gesellschaft statt. Jeder, der irgendetwas sagt, was bei anderen auf Unverständnis stößt, wird reflexartig niedergemacht.

Notwendig wäre, dass jeder sich zunächst die Begrenztheit des eigenen Horizonts eingesteht, und dass jeder sich klar macht, dass eine Meinung, die unverständlich erscheint, zunächst mal einfach eine Stimme von jenseits dieses Horizontes ist. Die Logik des Anderen nachzuvollziehen, wäre der erste Schritt in Richtung einer produktiven Debattenkultur, die uns die Möglichkeit gibt, auf die Ungewissheiten der Zukunft vorbereitet zu sein. Wir taumeln stattdessen besinnungslos der Zukunft entgegen, entweder euphorisch berauscht oder wütend geifernd. Das kann nicht gut sein.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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