Europa braucht die europäische Vereinigung
Die Geschichte Europas ist eine Historie von Kriegen, Besetzungen, Grenzverschiebungen, von Vertreibung, Unterdrückung und Elend, eine Chronik von großen Erfindungen, von Demokratien und dem Sturz von Despoten, der bedeutsamen Ideen und mutigen Taten; Europa war über die Zeiten innovativ im Morden und Bewahren, in Menschenverachtung und Humanismus. Nur ein Teil, der gute, der menschliche, soziale und demokratische Teil der Geschichte sollte den heutigen Europäern jener sein, der ihr Handeln bestimmt.
Die Europäische Union, dieser unfertige Rohbau, der auf den Schlachtfeldern des Ersten und den Trümmerfeldern des zweiten Weltkrieges errichtet wurde, der Montanunion und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß – er kann, ja er muss, die Grundlage für die Schaffung eines wirklichen gemeinsamen Hauses werden. Wir brauchen das vereinte Europa. Eines freilich, das sozial und demokratisch ist.
Die EU heute ist Nichts
Die EU ist, trotz Parlament und Pipapo, ein Verwaltungsorgan kulminierter nationaler Interessen. So wie die Europäische Union heute verfasst ist, ist sie nichts. Die Idee des kleinen, ja des völkischen oder zumindest auf ein Volk, eine Geschichte, ein Herrscherhaus bezogenen Nationalstaates hat in der Vergangenheit die Entwicklung eines europäischen Supra-Nationalstaates verhindert. Aber die Europäische Union wird erst dann zu einer wirklichen Union europäischer Staaten werden, wenn die Idee des kleinen Nationalstaates überwunden wird. Die Vergangenheit hat gezeigt: Das Europa der Nationalstaaten ist ein Europa der Konflikte. In den letzten 150 Jahren war Europa dreimal Drehpunkt unterschiedlicher Konflikte, die in großen Kriegen endeten, die Europa und die Welt nachhaltig veränderten: 1870/71, als sich die beiden imperialistischen Zentren Frankreich und Preußen/Deutschland um die Vorherrschaft in Europa stritten. 1914 — 1918, als Europa in den ersten Weltkrieg gestürzt wurde und 1939 — 1945, als Deutschland den zweiten Weltkrieg vom Zaun brach. Jene Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, der faschistischen Herrschaft in Italien und Spanien, der faschistischen Massenbewegungen in vielen europäischen Staaten sollten uns auch heute, fast einhundert Jahre später, gemahnen die Werte von Demokratie und Bürgergesellschaft nicht nur als Monstranz vor uns her zu tragen, sondern zum Wesen eines sich vereinigenden Europas zu machen.
Denn Europa ist über die Demokratien des hellenistischen Griechenlands bis zu den großen demokratischen Revolutionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts auch der Hort relativer Freiheiten gewesen, und Europa nimmt in seiner Gesamtheit diese Rolle auch heute noch wahr.
Es gibt keinen großen europäischen Denker, der sich in seiner Rezeption nationalisieren ließe. Das trifft, schon aufgrund der historischen Gegebenheiten auf die griechischen Philosophen und römischen Geschichtsschreiber zu, aber auch die großen Denker der Spätantike, der Mittelalter, der Neuzeit und der Moderne. Sie alle, von Augustinus bis Marx und Popper, bis Adorno und Foucault sind europäische Denker.
Geschichte der Freiheitsbewegungen
Europas Geschichte ist auch eine Geschichte der großen Freiheitsbewegungen. Ob wir Solons Reformwerk und die attische Demokratie als Anfangspunkt setzen oder die römische Demokratie, ob wir im Aufstand der römischen Sklaven um Spartakus auch eine demokratische und soziale Erhebung sehen oder diesen Momenten andere Funktionalitäten zuschreiben – spätestens mit den bäuerlichen und städtischen Erhebungen des Mittelalters beginnt weitgehend unwidersprochen eine Epoche des Ringens um soziale Gerechtigkeit und demokratische Gesellschaftsbildung. Das gilt für die Bauernaufstände im Heiligen Römischen Reich ebenso, wie für die städtischen Verfassungen, z.B. der Hanse, das gilt für die Peasants‘ Revolt von 1381 in England und viele Episoden mehr. In der Französischen Revolution, in den revolutionären Erhebungen von 1848 bis 1918 finden diese Bestrebungen ihren, nicht immer dauerhaft siegreichen, vorläufigen Abschluss.
Basis der bürgerlichen Revolutionen sind die bürgerlichen Freiheitsrechte. Sie sind revolutionäre Errungenschaften: Rede- und Meinungsfreiheit, Koalitions- und Versammlungsfreiheit und daraus resultierenden Freiheiten, nämlich die Presse- und Religionsfreiheit. Sie zu bewahren ist eine Aufgabe von europäischer Tragweite.
Immer wieder waren diese Freiheitsrechte in Gefahr. Sie sind es auch heute wieder. Die rechts(radikalen) Regierungen in Polen und Ungarn gefährden sie. Andere Bewegungen und Parteien stellen eine potentielle Gefahr für die bürgerlichen Freiheitsrechte dar.
Der gegenwärtige Zustand einiger Staaten in der Europäischen Union zeigt, dass ein Europa der Nationalstaaten den die Freiheit gefährdenden Krebs von Nationalismus, Chauvinissmus und Rassismus schon deshalb in sich trägt, weil das Völkische eine stete Mitbewohnerin des kleinen Nationalstaates ist. Ein europäischer Supra-Nationalstaat, der ein demokratisches Europa der Regionen sein müsste, trüge weniger dieser Krebszellen in seinem, dann massigen, Körper.
Keine Währung ohne gemeinsames Fiskalsystem
Aber so ein Europa braucht lange vor seiner Schaffung die Mittel, die seine Vereinigung erst möglich machen. Die Währungsunion, also die Schaffung des Euro als europäische Währung, war ein erster Schritt. Aber eine Währung ohne gemeinsames Fiskalsystem trägt die Gefahr des Untergangs im Meer der nationalen Wirtschaftsinteressen stets in sich. Deshalb braucht die EU eine gemeinsame verbindliche Steuergesetzgebung. Die allerdings bedingt auch ein europäisches Lohnsystem, dass sich allerdings an den Staaten mit hohem Mindestlohn und hohen Transferleistungen orientieren muss. Sonst wird es zu Verelendungserscheinungen kommen, die nachhaltig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der EU schädigen. Zu einem funktionierenden Geldsystem gehört auch der Finanzausgleich zwischen starken Staaten und schwachen. Es kann auf Dauer nicht sein, dass das durchschnittliche Mindesteinkommen im Südosten der EU nur ein Achtel dessen beträgt, was im Norden gezahlt wird. Eine nach oben strebende Nivellierung muss der Staatengemeinschaft insgesamt von hohem Interesse sein. Basis allen Strebens nach europäischer Einigung aber muss eine Verfassung sein, die die Freiheitsrechte und die Verpflichtung auf den Sozialstaat unwiderruflich festschreibt, die Sozialverpflichtung des Eigentums und die Möglichkeit einer offenen Entwicklung der Eigentumsverhältnisse (wie im Grundgesetz Deutschlands) verfestigt und sicherstellt, dass die Beseitigung von Armut und materielle Not Staatsziele sind.
In den vegangenen Jahren sind Bewegungen entstanden, die an diesen Zielen arbeiten. Ob sie erfolgreich sein werden, hängt auch davon ab, wie sich die linken europäischen Parteien positionieren. Ihnen kommt die Aufgabe zu, eine Debatte zu führen, die nach meinem Dafürhalten progressiv nur dann sein kann, wenn sie die europäische Einigung, den europäischen Bundesstaat mit seinen starken Regionen befördert. DiEM25 ist eine der Bewegungen, die dazu beitragen können, zu einer organisatorischen Vereinigung der Linksparteien und der Gewerkschaften in Europa zu kommen und damit die Möglichkeit zu verstärken die sozialen Rechte in Europa zu verankern und zu stärken.
Wer ist Teil eines zukünftigen Europas?
Europäische Bürgerbewegungen, in die sich die europäischen Linksparteien allerdings einzubringen hätten, sollten versuchen, eine Bewegung für eine vereintes Europa zu initiieren. Ohne eine Basisbewegung für ein vereintes Europa, wird es nie kommen. Viel zu stark sind neben den nationalen Befindlichkeiten und Interessen die neoliberalen Kreise, die zwar den Wirtschaftsraum brauchen, aber nicht Demokratie und Sozialstaat. Vielmehr steht ihnen beides entgegen. Und eine solche Bewegung muss auch wissen: Es kann sein, dass nicht alle jene Staaten mitgenommen werden können, die nun Teil der EU sind. Ob Ungarn oder Polen, ob die baltischen Staaten oder andere Teil eines europäischen Staates sein können, steht in den Sternen. Ich sehe die Keimzelle eines solchen neuen Staates eher in Deutschland, den Benelux-Staaten und Frankreich, vielleicht zusätzlich in Spanien und Portugal, vielleicht auch in Schottland (falls eine Loslösung aus dem vereinigten Königreich erfolgen kann) und Irland.
Es ist gänzlich unerheblich, ob der europäische Bundesstaat mittel- oder langfristig geschaffen werden kann. Wesentlich im Moment ist es, dafür nützliche Instrumente zu formen und Bewegungen zu schaffen, die einen Zerfall in neue Nationalstaaterei verhindern können und sich zugleich auf den Weg zu einem europäischen Supra-Nationalstaat machen.
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