Ist Impfpflicht liberal?

Die Freien Demokraten haben sich in ihrem Bundestagswahlprogramm für die Einführung einer Impfpflicht ausgesprochen. Ist das mit der Freiheit des Einzelnen, die für die Liberalen doch an erster Stelle steht, vereinbar?


Die FDP hat auf ihrem Parteitag beschlossen, für eine Impfpflicht in Deutschland einzutreten. Das ist überraschend, weil Liberalität und allgemeine Pflicht sich zunächst auszuschließen scheinen. Immer, wenn etwas zu einer allgemeinen Pflicht erklärt wird, wird die Freiheit und Eigenverantwortung des Einzelnen eingeschränkt, und für Liberale steht doch die Eigenverantwortung an erster Stelle. Also widerspricht eine Impfpflicht dem liberalen Selbstverständnis.

Ist Liberalität bedingungslose Freiheit des Einzelnen?

Der Fall ist eine gute Gelegenheit, über Liberalität nachzudenken. Denn Liberalität bedeutet nicht vollkommene Freiheit für den Einzelnen. Es ist viel komplizierter. Die Freiheit des Einzelnen endet da, wo sie die Freiheit der anderen Einzelnen einschränkt. Diese Grenze festzuziehen, ist allerdings nicht so einfach, wie es klingt. Jeder, der in einer Gesellschaft etwas tut, schränkt damit die Freiheit der Anderen ein. Wenn ich im Zug einen Platz besetze, schränke ich die Freiheit der anderen ein, diesen Platz zu wählen. Mit dem Argument, dass die Freiheit des Einzelnen durch die Freiheit der Anderen begrenzt ist, könnte man am Ende sehr schnell die Freiheit überhaupt abschaffen. Es muss also schon um eine wesentliche Freiheitseinschränkung der anderen gehen, und der Verlust an Freiheit für den Einzelnen muss durch einen wesentliche Gewinn an Freiheit für die Anderen gerechtfertigt sein. Keinesfalls darf die Freiheit des Einzelnen der abstrakten Freiheit einer Gemeinschaft, der Gesellschaft oder gar des Staates geopfert werden.

Schauen wir uns also die Impfpflicht an, um die Sache etwas konkreter zu machen. Ginge es nur um die Gesundheit des Einzelnen, könnte man gut sagen: Es sei jedem Einzelnen überlassen, ob er sich impfen lässt, oder nicht. Allerdings geht es zumeist um die Kinder derer, die die Impfentscheidung treffen. Eltern entscheiden, ihre Kinder impfen zu lassen, oder eben nicht. Das heißt, es geht bei der Impfung fast immer um die Freiheit eines anderen.

Eltern oder Staat – wer weiß es besser?

Hier kann man aus liberaler Perspektive jedoch argumentieren, dass die Eltern besser als der Staat für ihre eigenen Kinder entscheiden können. Und das ist richtig. Jede scheinbar rationale Argumentation, dass der Staat über Expertenwissen verfügt, das die Eltern nicht haben, muss zurückgewiesen werden, denn mit diesem Argument landet man schnell beim Nanny-Staat, in dem sich die Behörden in allen Fragen, Schullaufbahn, Ernährung, Kleidung, Freizeitprogramm, in die Erziehungskompetenz der Eltern einmischen würden. Wenn die regierenden meinen, dass den Menschen Expertenwissen fehlt, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, dann sollen sie dafür sorgen, dass sich dieses Wissen unter den Menschen herumspricht, sodass diese dann kompetent und frei entscheiden können.

Sagen wir also, dass sich der Staat auch nicht in Familienentscheidungen einmischen soll, wenn die Freiheit anderer Familien nicht betroffen ist. Oder betrachten wir der Einfachheit halber eine Krankheit wie die Grippe, an der auch Erwachsene erkranken können und jeder also für sich selbst entscheidet, ob er geimpft wird, oder nicht. Bekanntlich ist es beim Impfen so, dass derjenige, der nicht geimpft ist, auch andere anstecken kann – allerdings nur Menschen, die wiederum nicht geimpft sind. Da es Menschen gibt, die nicht geimpft werden dürfen, sind diese darauf angewiesen, dass sich möglichst alle anderen impfen lassen, damit sich eine Krankheit nicht ausbreitet. Man spricht davon, dass es eine gewisse „Durchimpfung der Bevölkerung“ geben muss, damit sich Krankheiten nicht epidemisch ausbreiten. Der, der sich nicht impfen lässt, erhöht also das Risiko für andere, zu erkranken, insbesondere für Menschen, die sich selbst nicht schützen können.

Das Risiko der Anderen

Mit diesem Argument ist auch für Liberale eine Impfpflicht vertretbar. Es ist ungefähr das Gleiche wie die Pflicht, sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten: Das Risiko der Pflichtverletzung trifft nicht nur den, der sich nicht dran hält, sondern auch andere. Mehr noch: Während im Straßenverkehr der einzelne Pflichtverletzer immer auch für sich selbst die Gefahr vergrößert, ist das bei der Verweigerung der Impfung nicht unbedingt der Fall: Wenn sich genügend andere impfen lassen, hat der einzelne Verweigerer gar nichts zu befürchten.

Wir haben es also mit der Situation zu tun, dass die Pflichtverletzung des Einzelnen weder für ihn noch für andere eine Risikoerhöhung bedeutet, solang nur genug Andere ihre Pflicht erfüllen. Wenn aber zu wenige ihrer Pflicht nachkommen, wächst auch die gefahr für Menschen, die sich nicht selbst schützen können.

Ist das schon Grund genug, eine Impfpflicht zu fordern? Natürlich nicht. Denn eine Pflicht kann es nur dann geben, wenn die Gefahr für andere wirklich groß ist, und wenn die Menschen nicht auf anderem Wege davon überzeugt werden können, das Richtige zu tun.

Welche Gefahr darf’s denn sein?

Damit kommen wir zu einer ganz schwierigen Frage: Wie groß muss eine Gefahr sein, damit der Staat berechtigt ist, seine Bürger auf bestimmte Maßnahmen zu verpflichten? Das ist natürlich ganz schwer zu entscheiden. Beim Thema Impfpflicht fällt jedenfalls auf, dass die Gefahren, das Risiko, von Experten ausgesprochen dramatisch dargestellt werden. Im Falle der Masern etwa wird immer von einer Epidemie gesprochen, wenn ein paar Dutzend Leute leicht erkranken. Wenn tatsächlich mal jemand stirbt, wird ausführlich und emotional davon berichtet. Gern wird gesagt, jeder vermeidbare Tod sei einer zu viel, und mit diesem Argument werden extreme Aufwände für den Gesundheitsschutz gerechtfertigt. Aber es gibt vieles, woran der Mensch sterben kann, unter anderem auch an Nebenwirkungen von Impfungen. Wollte man beurteilen ob zur Risikominimierung eine Impfpflicht angemessen ist, müsste man die Gefahr für den Einzelnen mit Gefahren vergleichen, die dieser Einzelne sonst einzugehen bereit ist und für deren Vermeidung er selbst zuständig ist. Dabei können wir nicht von einem besonders vorsichtigen Menschen ausgehen, sondern müssen die durchschnittliche Bereitschaft zur Risikovermeidung ansetzen.

Ein Beispiel: Alice kann sich nicht gegen eine Krankheit impfen lassen, ist also darauf angewiesen, dass die Anderen, u.a. Bob, sich impfen lässt. Können Wir Bob dazu verpflichten? Wenn Alice, als durchschnittliche Betroffene, Raucherin ist und täglich mehrfach Eisbein und Zuckerkuchen isst, wohl eher nicht. Ihr Risiko, an Fettleibigkeit, Herzinfarkt oder Diabetes zu sterben, ist viel höher, als sich bei Bob mit dieser Krankheit anzustecken. Wenn aber die Alices dieser Welt so gesund leben, dass als einziges Risiko die Ansteckung bei einem Bob in Frage kommt, dann können wir von Bob verlangen, dass er sich impfen lässt.

Die kleine Angst vorm Pieks

Das heißt noch längst nicht, dass eine pauschale Impfpflicht gerechtfertigt ist.Es könnte ja auch sein, dass wir die Bobs und Alices dieser Welt mit vernünftigen Argumenten dazu bewegen können, sich impfen zu lassen. Vernünftige Argumente, das sind keine Schauergeschichten von Einzelfällen, das erfordert Ehrlichkeit und Offenheit von Experten. Da ist sicher noch vieles möglich bevor man sagen kann, dass nur eine Pflicht hilft.

Andererseits, wir sind bequem, wir sind faul, wir haben auch ein bisschen Angst vorm Pieks und meiden Schmerz. All das führt dazu, dass selbst der aufgeklärte Bürger, der eigentlich einsieht, dass eine Impfung angeraten wäre, Tag für Tag dann doch nicht in die Praxis geht.

Der Text ist lang geworden, und am Ende gibt er keine Antwort auf die Frage, ob es richtig oder falsch ist, eine Impfpflicht einzuführen. Aber er zeigt hoffentlich: Die Diskussion ist nicht zu ende, sie sollte überhaupt erst einmal richtig anfangen.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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