Auf dem Schvil Jisra’el, dem Israel National Trail

Wer auf dem Israel National Trail durchs Gelobte Land wandert, bekommt einen ganz intimen und intensiven Eindruck von Israel.


Alle Israelis sollten einmal im Leben den Schvil Jisra’el, den Israel National Trail gewandert sein. Der Wanderweg ist rund 1000 km lang und schlängelt sich in Nord-Süd-Richtung durchs ganze Land. Die meisten jungen Israelis versuchen sich direkt nach dem Armeedienst daran, sicherlich in der Meinung, dass sie den Herausforderungen des Marsches, des Kletterns und des Campens in dieser Zeit am besten gewachsen sind.

Der INT ist genau genommen kein Wanderweg, wie man ihn in Europa erwarten würde. Er vermeidet nicht die Berührung mit der Zivilisation, er durchquert Städte wie Tel Aviv und führt in der Negev-Wüste nicht nur zu den faszinierenden Erosionskratern und durch gewaltige ausgetrocknete Flussläufe, sondern auch zu den Industriegebieten, die dort entstanden sind.

Vielleicht ist aber der Schvil Jisra’el die beste Möglichkeit überhaupt, eine echte Wüste zu durchwandern. Der Weg ist hervorragend gekennzeichnet, zumeist ist auch wenigstens ein Trampelpfad zu sehen, und Kletterstellen sind mit Tritten, Spangen, Leitern und Seilen zusätzlich gesichert. Allerdings muss man die richtige Jahreszeit wählen: Im Sommer wäre die Hitze unerträglich, im Winter wiederum gibt es die Möglichkeit, dass kurze heftige Regenschauer den Wadi, durch den man gerade wandert, zum reißenden Strom machen.

In Tel Aviv

Wandert man durch ein einsames Gebiet, dann trifft man naturgemäß wenige Menschen, aber  bei denjenigen, die man trifft, ist die Begegnung umso intensiver. Das beginnt schon in Tel Aviv, wo wir auffällig mit großen Rucksäcken an der Bushaltestelle stehen und verwirrt auf die hebräischen Schriftzeichen starren: Sofort tritt ein junger Mann auf uns zu, fragt, wo wir hin wollten, ob er helfen könnte. Junge Leute mit Smartphones sind in Tel Aviv offenbar die heimlichen Fremdenführer. Sie suchen flink die passende Verbindung heraus, weisen uns den richtigen Bus, in dem uns schon der nächste dieser heimlichen Helfer erwartet um uns die Haltestelle zu nennen, an der wir den Bus wieder verlassen müssen.

Allerdings besitzen wir selbst auch ein Smartphone und haben deshalb hin und wieder einen Informationsvorsprung. Das zeigt sich am nächsten Morgen, als wir uns auf den Weg nach Arad am Rand der Negev machen. Wir sind sehr sicher, im richtigen Stadtbus zu stehen, aber der Busfahrer will uns im Verein mit zwei jungen Leuten davon überzeugen, dass uns dieser Bus nicht zum zentralen Busterminal bringen würde. Wir sollten ihnen vertrauen, aussteigen und eine andere Buslinie nehmen. Zum Glück schaut dann doch noch einer von ihnen nach der aktuellen Verbindung Richtung Arad – und findet genau die, die wir uns auch herausgesucht haben.

Der Busfahrer versucht, mit einem Scherz die Situation zu retten: Er würde zwar Englisch sprechen, aber leider kein Englisch verstehen. Und er spricht gern Englisch. Am meisten beschäftigt ihn an diesem Morgen, dass George Michael ausgerechnet an Weihnachten gestorben ist. Wir stutzen – nicht zum letzten Mal auf dieser Reise. Dass ein israelischer Busfahrer, dessen Kippa auf geheimnisvolle Weise auf dem kahlgeschorenen Hinterkopf klebt, von Weihnachten Notiz nimmt, überrascht uns.

Water Cashing

Mit Idan haben wir uns zum Anlegen unserer Wasser-Speicher verabredet, er holt uns vom Bus ab, der uns pünktlich von Tel Aviv an die Grenze der Wüste gebracht hat. Idan hatte kein Vertrauen, dass der Bus pünktlich sein würde, wir hatten, für den Fall einer Verspätung, extra die Mobilfunknummern ausgetauscht. Er schimpft auf Busse und Bahnen in Israel, die seien viel unzuverlässiger als in Europa. Wir wenden ein, dass es in Deutschland auch oft Verspätungen gäbe und dass wir mit der Zuverlässigkeit der Busse bisher zufrieden seien (wir waren es bis zum letzten Tag) – aber das ändert nichts an seinem Urteil.

Idan gehört zu den Trail Angels, deren E-Mail-Adresse man im Internet findet. Sie sorgen dafür, dass die Wanderer in der Negev vor allem ausreichend mit Wasser versorgt werden. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, man kann sich allabendlich das Wasser zum jeweiligen Rastplatz bringen lassen, oder man lässt vorab genügend Wasser im Wüstensand vergraben. Mit Hilfe von Fotos und GPS-Koordinaten hofft man dann, das Wasser wiederzufinden. Wir haben uns für die Variante entschieden, selbst beim Vergraben der Wasservorräte dabei zu sein, Fotos zu machen und die Koordinaten in den GPS-Empfänger einzugeben. Also sind wir einen Tag mit Idan in der Wüste unterwegs.

Beduinen

Von Idan hören wir zum ersten Mal etwas über die Beduinen, die in dieser Gegend der Wüste ihr Nomadenleben auf fast die gleiche Weise leben wie vor Jahrhunderten. Merkwürdigerweise erwähnt der Reiseführer sie mit keinem Wort, und auch in dem deutschsprachigen Bestseller „Israel Trail mit Herz“ kommen sie nicht vor.

Der Begriff der Parallelgesellschaft gewinnt hier eine Bedeutung, die für Europa nicht denkbar ist. In der Negev leben zwei grundverschiedene Kulturen nebeneinander her, nur lose dadurch miteinander verbunden, dass die Beduinen die Produkte ihrer Kamelzucht an Israelis verkaufen und dafür umgekehrt einige nützliche Gegenstände erwerben. Beduinen kennen weder Schulpflicht noch Wehrpflicht.

Idan erzählt, dass man versucht hatte, die Beduinen in eigens für sie gebauten Städten sesshaft zu machen – der Erfolg ist jedoch weitgehend ausgeblieben. Zwar wohnten die Menschen nun in den Städten, aber sie sind nicht in die Gesellschaft integriert. Da sie ihre Lebensgrundlage verloren haben, sind sie genau besehen in einer schlechteren Situation als zuvor.

Als wir am nächsten Tag, unserem ersten Tag in der Wüste, nahe an den Beduinen-Siedlungen vorbeikommen, sehen wir, dass viele von ihnen inzwischen an Wasserleitungen und das Stromnetz angeschlossen sind. Auch Solarpanele glänzen in der Sonne – und Satellitenschüsseln ragen in den Himmel. Vielleicht ist das der langsamere, aber der erfolgversprechendere Weg, die Beduinen mit der modernen Gesellschaft in Kontakt zu bringen. Wir begegnen Jungs auf Eseln, die mit viel Freude Kamele vor sich hertreiben, andere spielen weit entfernt von ihrem Dorf im Wüstensand. Paradiesische Zustände sicher auch für israelische Jungs. Mädchen sind nicht dabei. Man kann sich viele gute Gründe denken, warum israelische Eltern ihren Kindern beibringen, dass Beduinen anders sind, als sie.

„Aus Deutschland“

Auf dem Rückweg aus der Wüste nimmt Idan zwei erschöpfte Wanderer mit. Wir kommen ins Gespräch, und irgendwann stellt einer von ihnen die ganz selbstverständliche Frage, woher wir kämen. „Aus Deutschland“ – bis zum Ende der Reise war ich immer wieder nervös, wie meine Gesprächspartner auf diese Auskunft reagieren würden. Niemand hat jedoch anders reagiert, als man es irgendwo anders auf der Welt erwarten würde. Die fröhlich-überraschte Antwort des jungen Manns in Idans Jeep lässt mich allerdings bis heute nicht los: „Aus Deutschland! Meine Großmutter kommt aus Deutschland!“

Als die beiden Wanderer uns längst wieder verlassen hatten, spreche ich Idan darauf an. Er versteht zuerst gar nicht, was mich an diesem Satz beschäftigt. Die Großeltern der heutigen Israelis kommen fast alle aus allen möglichen Ländern der Erde. Manche eben aus Deutschland. Ich entgegne, dass es aber wohl etwas anderes für einen Juden sei, aus Deutschland zu kommen, oder etwa aus den USA. Er versteht. Er erzählt, dass er zwei Jahre eine deutsche Freundin gehabt hätte, die bei ihm gelebt hätte. Seine Mutter hätte damit noch Probleme gehabt – aber in seiner Generation, Idan ist um die dreißig Jahre alt, sei das vorbei.

„Wir sind nicht sehr religiös“

Als wir am nächsten Abend den ersten Lagerplatz erreichen, sehen wir dort bereits ein Zelt stehen, zwei Gestalten machen sich an einem Lagerfeuer zu schaffen. Wir beschließen, unser Zelt etwas abseits aufzubauen. Wenige Minuten später schlendert einer der beiden, ein Mann zwischen 40 und 50, zu uns herüber. Wir seien wohl nicht von hier? Wenn wir unser Zelt aufgebaut hätten, sollten wir herüberkommen, wir seien auf einen Tee eingeladen.

Yaneev und Bar sind Vater und Sohn, und sie nutzen drei Tage der Chanukka-Ferien, um ein Stück auf dem Israel National Trail voranzukommen. Vor zwei Jahren sind sie im Norden gestartet, und seit dem wandern sie Stück für Stück durchs Land. Bis Arad war auch die große Schwester von Bar mit dabei – doch die musste nun zur Armee. Für Bar gehört der Weg zur Vorbereitung auf seine Bar Mitzwah.

Yaneev und Bar bieten uns nicht nur Tee an, sondern alles, was sie selbst essen und trinken. Wir bieten umgekehrt von unseren Trockenfrüchten und Nüssen an, allerdings weise ich vorsorglich darauf hin, dass sie im gleichen Beutel wie die kleinen harten Mettwürste gelegen haben, die wir gern nebenbei essen. „Wir sind nicht sehr religiös“ antwortet Yaneev, allerdings verzichten beide doch darauf, unser Angebot anzunehmen. „Ich bin nicht sehr religiös“ hatte auch Idan schon gesagt, bei ähnlicher Gelegenheit.

Am Abend des zweiten Tages erwarten uns die beiden schon etwas oberhalb des Platzes, der in der Karte eigentlich als Nachtlager für diese Etappe eingezeichnet ist. Sie haben gut gewählt, der Ort ist windgeschützt und macht, nachdem unsere zwei Zelte aufgebaut sind und das Lagerfeuer knistert, einen geradezu gemütlichen Eindruck. Gemütlichkeit stellt sich in den Nachtlagern entlang des Trails leider nur selten ein – jedenfalls in der Wüste. Es handelt sich zumeist um große planierte Flächen an einer der wenigen Fernstraßen. Leider gibt es weder Toiletten, noch Abfallbehälter – und so sehen sie auch aus. Bedenkt man, dass sich das Wasser, das man sich zuvor in der Wüste vergraben hat, in normalen 2-Liter-Einwegflaschen befindet, und dass in der trockenen Wüste Toilettenpapier nicht so leicht verrottet oder sich innerhalb weniger Tage auflöst, kann man sich ungefähr eine Vorstellung vom Anblick eines Nachtlagers am Trail machen.

Also sind wir dankbar, dass Yaneev einen Platz ausgewählt hat, der etwas abseits liegt. Wieder sitzen wir abends zu viert am Lagerfeuer und erzählen einander vom Alltag in unserer jeweiligen Heimat. Yaneev und Bar leben in einem Kibbutz ganz in der Nähe. Die Zahl dieser sozialistischen Wohngemeinschaften nimmt ständig ab, die meisten jungen Leute wollen nach der Armeezeit nicht wieder zurück zum Alltag mit Gemeinschaftsessen und Arbeitsdienst. Ein Problem, das schon Amoz Oz in seinen Erzählungen über das Kibbutz-Leben geschildert hat.

Gelobtes Land

Über unserem Lager geht schon um 17 Uhr die Sonne unter und es wird schnell kalt in der Wüste. Aber was für ein Sonnenuntergang. Überhaupt: Was für eine grandiose Landschaft. Die Negev ist keine Sandwüste, Sandstein in unterschiedlichen Verwitterungsstufen bildet phantastische Formen, Schluchten und Krater, die oben von schroffen Abhängen begrenzt werden, während an ihren Grund trockene Flussbetten von Felsen begrenzt werden, die von den Sturzfluten in der Regenzeit rundgewaschen sind. Und überall, wo sich ein- oder zweimal im Jahr, das Wasser sammelt, haben sich Pflanzen angesiedelt, saugen Sträucher und sogar ein paar Bäume die Feuchtigkeit aus dem kargen Boden.

Nach ein paar Tagen in der Wüste ist man übervoll von Eindrücken. Es klingt abwegig, aber die Negev ist alles andere als eintönig. Die Vielfalt der Farben ähnelt der des europäischen Mischwaldes im Herbst. Die bizarr-steilen Abhänge sind verwirrender als die Fassaden von Tel Aviv und die engen Gassen von Jaffa. Und aus all dem trockenen Gestein sprießt doch grünes Leben. Hier entlang zog das Volk Israel, als es aus Ägypten zurückkehrte. Das war ihr gelobtes Land.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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