Fear & Loathing in Elfenbein-Town oder „Hau ab, dreckiges Halbblut!

Nobelpreis revisited? Ja! Aber wie und warum? Weil die öffenrlichen Reaktionen auf Dylans Ehrung mitunter so erschreckend engstirnig geraten. Man muss dem entgegen treten. Und natürlch weil Kollege Sören das Fass mit viel Herzblut und Akribie noch einmal so richtig aufmacht. Leichter gesagt als getan ist es dennoch.


Nobelpreis revisited? Ja! Aber wie und warum? Weil die öffenrlichen Reaktionen auf Dylans Ehrung mitunter so erschreckend engstirnig geraten. Man muss dem entgegen treten. Und natürlch weil Kollege Sören das Fass mit viel Herzblut und Akribie noch einmal so richtig aufmacht. Leichter gesagt als getan ist es dennoch. Weder möchte man die Leser mit öder Wiederholung langweilen noch eine dröge Vorlesung halten. Gleichwohl soll der Text zumindest im Ansatz auf möglichen Erkenntnisgewinn zielen.

Mit anderen Worten: Die berühmte Quadratur des Kreises ist dagegen ein lockerer Spaziergang.

Ich versuche es trotzdem!

I. Vergesst die BIBLIOGIDA-Trolle!

Zunächst müssen wir das Thema von der unsäglichen Schmutzwäsche befreien, welche zwar nicht von Sören Heim, wohl aber von der „getroffene Hunde bellen“-Seite lautstark verucht, uns allen den literarischen Planeten weiterhin als Scheibe zu verkaufen. Nicht etwa mit inhaltlicher Auseinandersetzung in seriöser Absicht, sondern als soylent-grüngiftige Kassandra, als händeringende Helen Lovejoy des Literaturwesens. Nennen wir diese rein destruktiven Stimmen doch einfach BIBLIOGIDA und lassen sie weiterhin im Angstschweiß vertrollten Besitzstandsdenkens schmoren. Zu vielen geht es in Wahrheit nicht um die Kunst, sondern um lieb gewonnene Pfründe, Abwehr von Konkurrenz und die tief im Innern verborgene Ahnung, dass man selbst womöglich zu zweitklassig ist, es mit Quereinsteigern out of Town auf zu nehmen. Sie verabschieden sich selbst aus der Diskussion. Lassen wir sie ziehen. Ein Verlust ist es nicht.

II. Macht Türen, Fenster, Schleusen auf!

So, das wäre geschafft. Man kann gleich freier durchatmen, eh? Nun darf ich endlich zu Kollege Heims leidenschaftlichem Kontra kommen, um nicht minder passioniert das Pro zu vertreten. Die Vorkenntnis des bisherigen Dialogs ist der Wahrheitsfindung sicherlich dienlich (click us like hell, folks!), jedoch nicht notwendig. Wer das bisherige verpasste, wird sich dennoch sein eigenes Bild machen können.

Meine These: Transportmittel und Vehikel für Texte sind unerheblich.

Vollig Latte, ob die in Rede stehenden Zeilen, Graffitto, Comic, Drehbuch, Songtextbooklet, Blog oder Kolumne entstammen: Sobald sie auch eigenständig funktionieren – eben nicht condition sine qua non zum Genremantel stehen, sollten wir einig sein, dass die Fundstücke grundsätzlich des Eintritts in die „Nobel-Hall Of Fame“ würdig sind. Erst wenn der Kandidat in der guten Stube steht, kann die Frage, ob man ihn auch im Thronsaal krönen mag, überhaupt beginnen. Die Jury-Auslegung „Geiler Stoff oder gräßlicher Quark?“ ist mithin eine rein materielle Prüfung, die selbst nur dann mehr als einen Schuss Pulver wert ist, sofern sie sich ihrerseits vom Tunnelblick überkommenen Formalismus reinigt.

Hier plädiere ich für Einigkeit, lieber Sören. Denn sonst kommen wir in des Teufels Diskurs-Küche. Man sieht es an deiner Entgegnung recht deutlich. Auf die von mir genannten – durchaus austauschbaren – Platzhalter wie Stephen King oder Cohens „Suzanne“ reagierst du bei ersterem mit „langweilig“ und bei letztere mit „nicht gut genug“. Das sind indes Erwägungen, die man dem Gast erst an den Kopf hauen kann, wenn er nicht mehr aussätzig vor den Toren von „Nobel-House“ steht. Wenn man ihm nicht mehr entgegnet „Hau ab, du dreckiges Halbblut“. Nun ist mir klar, dass du das auch nicht so meinst. Aber im Ergebnis lief es vor Dylan stets hierauf hinaus.

In Wahrheit sind diese späten, neuen Besucher nämlich keine halben Sachen, sondern Janusköpfe.

Wäre es nicht wundervoll, wenn Künstler insofern auf mehreren Hochzeiten tanzen könnten?

Wenn das Duo William S. Burroughs & Kurt Cobain („The Priest They Called Him“) oder Iggy Pop & Michel Houellebecq („A Machine For Loving“) als ganz selbstverständliche Nominees sowohl beim Grammy als auch bei Onkel Alfreds Gerontenpreis einen Fuß in die Türe bekämen?

Wenn man eher kumulativ als alternativ denken würde?

Art Spiegelman für „Maus“?

Woody Allen für „Manhattan“/“Der Stadtneurotiker“ oder Ingmar Bergman für „Fanny & Alexander“?

Jacques Brel für „Orly“?

Tom Waits für „Swordfishtrombones“/“Rain Dogs“/“Frank’s Wild Years“?

Blixa Bargeld für „Die Wellen“ oder „Buntmetalldiebe“?

Rio Reiser? Reinhard Mey?

Stephen King für die Fähigkeit, Horror mit Psychologie („Es“) oder Soziologie („The Stand“) für Nichtfachleute zu mischen?

Die Liste der Möglichkeiten ist mithin so lang wie der Bart des Propheten. Dylan hat es meines Erachtens schon allein für „The Man In The Long Black Coat“ oder „Blind Willie McTell“ verdient.

III. Drei Beispiele zum Nachdenken:

Zum Beweis, wie lässig manch ein Songtext ohne die angestammten Klänge funktioniert, gebe ich gern drei sinnliche Beispiele mit Originallink an die Hand.

1. Tom Waits – „9th & Hennepin“

Well, it’s Ninth and Hennepin
All the doughnuts have names that sound like prostitutes
And the moon’s teeth marks are on the sky
Like a tarp thrown all over this
And the broken umbrellas like dead birds
And the steam comes out of the grill like the whole goddamn town’s ready to blow
And the bricks are all scarred with jailhouse tattoos
And everyone is behaving like dogs
And the horses are coming down Violin Road and Dutch is dead on his feet
And all the rooms they smell like diesel
And you take on the dreams of the ones who have slept here
And I’m lost in the window, and I hide in the stairway
And I hang in the curtain, and I sleep in your hat
And no one brings anything small into a bar around here
They all started out with bad directions
And the girl behind the counter has a tattooed tear
One for every year he’s away, she said
Such a crumbling beauty
Ah, there’s nothing wrong with her that a hundred dollars won’t fix
She has that razor sadness that only gets worse
With the clang and the thunder of the Southern Pacific going by
And the clock ticks out like a dripping faucet
Till you’re full of rag water and bitters and blue ruin
And you spill out over the side to anyone who will listen
And I’ve seen it all
I’ve seen it all through the yellow windows of the evening train

 

Da würden Selby und Bukowski aus dem Schulterklopfen gar nicht mehr rauskommen.

2. Brel – „Orly“

Hier die Übersetzung:

Mehr als zwei Tausend sind‘s,
Doch ich seh nur die zwei.
Der Regen, wie‘s mir scheint
hat sie verschweißt, vereint.
Mehr als zwei Tausend sind‘s,
Doch ich seh nur die zwei.
Ich glaub‘, sie sagen was.
Ich lieb dich, sagt er ihr.
Ich lieb dich, sagt sie ihm.
Aber ich glaub, versprechen
tun sie einander nichts.
Die beiden sind zu mager,
um unehrlich zu sein.
Mehr als zwei Tausend sind‘s,
Doch ich seh nur die zwei.
Plötzlich bricht’s aus ihm raus.
Er bricht in Tränen aus,
obwohl um sie herum
Fettwänste schwitzend stehn,
und Hoffnungsträger zeigen
mit der Nas auf die beiden.
Doch diese Entzweiten,
ergriffen vom Leiden,
lassen dem Hundevieh,
das Urteil über sie.
Das Leben gibt nie etwas her!
Verdammt nochmal! Orly ist sonntags so leer
ohne oder mit Musik (Bécaud).
Und jetzt weinen sie gar.
Ich meine jetzt die zwei.
Vorhin meinte ich nur ihn
als ich vom Weinen sprach.
So verschränkt wie sie sind,
hören sie nichts mehr als
das Schluchzen des Andren.
Und dann, und dann unendlich lang,
als seien sie im Gebet,
trennt sich der Leib vom Leib,
mit einer Langsamkeit.
Und dann sind sie entzweit.
Beide Leiber zerrissen,
und ich hör den Aufschrei.
Sie ergreifen sich erneut,
und werden wieder eins,
werden wieder entflammt.
Und zerreißen aufs Neu,
wobei die Augen klammern.
Und als sie rückwärts gehn,
wie das Meer zurück weicht,
vollziehn sie den Abschied.
Sie stammeln einige Wörter,
bewegen kurz die Hand.
Plötzlich flieht er dahin,
flieht ohne Blick zurück .
Dann schwindet er hinaus,
verschluckt durchs Treppenhaus.
Das Leben gibt nie etwas her!
Verdammt nochmal! Orly ist sonntags so leer
ohne oder mit Musik (Bécaud).
Dann schwindet er hinaus,
verschluckt durchs Treppenhaus.
Und sie, sie bleibt zurück,
mit gekreuzigtem Herz.
Ihr Mund, offen bis zum Rand
bringt keinen Laut zustand.
Sie kennt jetzt ihren Tod.
Er ist vorbei gerannt.
Sie dreht sich um, nochmal,
und noch ein weiteres Mal.
Die Arme hängen schmal.
Alt ist sie tausend Jahr.
Die Tür ist zugefallen.
Jetzt ist sie ohne Licht.
Sie dreht sich um sich selbst.
Und schon weiß sie genau.
Sie wird sich immer drehen.
Sie hat Männer gehen sehen,
doch hier geht ihre Liebe.
Die Liebe hat ihr gesagt,
sie ist zurück im Nichts.
Nun strebt sie Zielen zu,
die ein Leben lang warten.
Sie ist wieder wehrlos,
so käuflich wie ein Los.
Ich bin da, geh ihr nach.
Ich kann nichts für sie tun.
Die Menge zehrt sie auf
wie irgendeine Frucht.

 

3. Blixa Bargeld (Neubauten) – „Die Wellen“

Was soll ich jetzt mit euch, ihr Wellen, ihr, die ihr euch nie
entscheiden könnt, ob ihr die ersten oder letzten seid?
Die Küste wollt ihr definieren mit eurem ständigen Gewäsch,
sie zisilieren mit eurem Kommen, eurem Gehen.
Und doch weiss niemand wie lang die Küste wirklich ist,
wo das Land aufhört, das Land beginnt, denn ständig ändert
ihr die Linie, Länge, Lage, mit dem Mond und unberechenbar.

Beständig nur ist eure Unbeständigkeit.

Siegreich letztendlich, denn sie höhlt, wie oft beschworen,
Steine, mahlt den Sand, so fein wie Stundengläser,
Eieruhren ihn brauchen, zum Zeitvermessen und für den
Unterschied von hart und weich.

Siegreich auch weil niemals müde, den Wettbewerb, wer
von uns beiden zuerst in Schlaf versinkt, gewinnt ihr, oder
du, das Meer noch immer, weil du niemals schläfst.

Obwohl selbst farblos, erscheinst du blau wenn in deiner
Oberfläche ruhig sich der Himmel spiegelt, ein Idealparkour
zum wandeln für den Sohn des Zimmermanns, das wandelbarste Element.

Und umgekehrt wenn du bist, wild, und laut und tosend
deine Brandung, in deine Wellenberge lausch‘ ich,
und aus den höchsten Wellen, aus den Brechern,
brechen dann die tausend Stimmen, meine, die von gestern,
die ich nicht kannte, die sonst flüstern und alle anderen
auch, und mittendrin der Nazarener;
Immer wieder die famosen, fünfen, letzten Worte:
Warum hast du mich verlassen?

Ich halt dagegen, brüll‘ jede Welle einzeln an:
Bleibst du jetzt hier?
Bleibst du jetzt hier?
Bleibst du jetzt hier, oder was?

 

Alles unwürdig? Glaube ich nicht!

 

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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