Kuscheljustiz für Jugendliche und Heranwachsende? Eine Kolumne in 3 Teilen

Ein stets wiederholter Vorwurf an die deutsche Justiz ist, dass dort mit jugendlichen und heranwachsenden Straftätern viel zu sanft umgegangen würde. In meiner dreiteiligen Kolumne möchte ich diesem Vorurteil ein wenig den Boden nehmen und über die Besonderheiten des Jugendstrafrechts informieren.


Das Stichwort von der Kuscheljustiz macht regelmäßig die Runde. Es würde zu wenig eingesperrt, die Jugendrichter seien Weicheier und Sozialromantiker, die Jugendlichen würden über die Entscheidungen nur lachen und danach munter weiter Straftaten begehen.

Das Letztere stimmt nur für einen sehr kleinen Teil der straffällig gewordenen Jugendlichen, die Intensivtäter, denen ich mich im dritten Teil der Kolumne widmen werde

Die sind aber eben nicht die Regel. Bei vielen Menschen scheint der Eindruck einer zu nachgiebigen Strafjustiz bei Jugendlichen lediglich auf der Unkenntnis des Jugendstrafrechts gepaart mit intensiven Kenntnissen der Boulevardpresse oder aufgeregter Blogs zu beruhen. Die Strafen, die für Erwachsene verhängt werden, gelten für Jugendliche nie und für Heranwachsende nur, wenn auf sie Erwachsenenstrafrecht Anwendung findet.

Jugendliche sind keine Erwachsenen

Einige Leser werden schon den Unterschied zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden nicht kennen. Jugendliche sind Menschen die mindestens 14 aber noch nicht 18 Jahre alt sind, also die 14 – 17-jährigen. Für die gilt, wenn sie überhaupt schon die erforderliche Reife haben, das Unrecht ihrer Tat einzusehen, immer das Jugendstrafrecht. Für die 18 – 20-jährigen kann entweder Jugendstrafrecht oder auch Erwachsenenstrafrecht angewendet werden, je nachdem, ob der Heranwachsende von seinem Reifezustand zur Tatzeit im Hinblick auf die konkrete Tat noch einem Jugendlichen gleichzustellen war oder eine jugendtypische Tat begangen hat oder eben nicht. Es gibt eine ganze Menge von Heranwachsenden, die auch mit 20-jahren noch völlig verpeilt und unreif sind und beim besten Wille nicht erwachsen genannt werden können. Sogenannte Reifeverzögerungen können die unterschiedlichsten Gründe habe. Die enden auch nicht abrupt, wenn jemand 21 wird, aber dann muss halt zwingend Erwachsenenstrafrecht Anwendung finden, auch wenn der Erwachsene mit seinem kindlichen Gemüt mittlerweile eine TV-Show moderieren sollte.

Es kommt auf die Reife zur Tatzeit an, nicht auf die zum Zeitpunkt der Verurteilung. Es ist also nichts merkwürdiges, wenn ein über 90-jähriger KZ-Helfer heute nach Jugendstrafrecht verurteilt wird, wenn er damals noch unter 21 war., auch wenn man den heute sicher nicht mehr erziehen kann.

Das Jugendstrafrecht hat einen völlig anderen Ansatz als das Erwachsenenstrafrecht.

Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten,

heißt es in § 2 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG).

Es geht also schon vom Ansatz her nicht in erster Linie darum zu strafen, zu vergelten oder gar andere abzuschrecken, sondern mit geeigneten pädagogischen Maßnahmen zu erreichen, dass der Jugendliche künftig auf die richtige Schiene für ein straftatenfreies Leben gerät. Jugendstrafrecht ist Erziehungsstrafrecht. Allerdings nur Erziehung zur Straffreiheit, nicht zu einem guten Menschen.

Kein Grund zur Panik

Deshalb muss im Jugendstrafrecht auch nicht jede Straftat unbedingt zu einer Hauptverhandlung oder gar zu einer Verurteilung führen. Es gibt im Jugendgerichtsgesetz reichlich Möglichkeiten, die Verfahren schon auf der Ebene der Staatsanwaltschaft einzustellen. In aller Regel reicht bereits die Tatsache, dass sich die Staatsanwaltschaft überhaupt mit dem Jugendlichen beschäftigt hat, um ihn hinreichend zu beeindrucken. Vermutlich werden gerade Sie jetzt die seltene  Ausnahme sein, aber nahezu jeder Mensch begeht im Laufe seiner Jugend mindestens einmal eine Straftat. Das muss gar nichts Dramatisches sein, aber es gehört zu einer völlig normalen Entwicklung und ist kein Grund für Panik und Schnappatmung, weder bei den Eltern, noch bei der Gesellschaft. Gerade die Eltern von im Prinzip harmlosen Jugendlichen, die einmal Scheiße gebaut haben, sehen oft schon eine kriminelle Karriere am Horizont ihrer Sprösslinge und neigen zu erzieherischen Überreaktionen. Da muss man als Verteidiger häufig die Jugendlichen vor den eigenen Eltern in Schutz nehmen, deren Sanktionen weit über das vernünftige Maß hinausgehen. In der Pubertät ist der Mensch zwar nicht zwingend ein Irrer, aber er ist jedenfalls nicht einfach. Regeln zu brechen und Grenzen auszutesten ist Bestandteil eine gesunden Entwicklung. Diejenigen, bei denen das von den Eltern massiv unterdrückt wird, haben später häufig Probleme im Leben. Menschen haben eine individuelle Geschichte. Sie werden höchst hilflos und unfertig geboren. Deshalb brauchen sie Eltern, die sie körperlich und emotional anleiten, um zu sozialem Handeln befähigt zu werden.

Immerhin interessieren diese überaufgeregten Eltern sich noch für ihre Kinder und deren Zukunft. Anderen geht dieses Interesse vollkommen ab. Die kommen auch weder mit zu einer Besprechung, noch nehmen sie an der Verhandlung gegen ihr Kind teil. Keine Lust, nicht aus dem Bett gekommen, noch oder schon wieder besoffen. Gar nicht selten, dass mich da eine Wut packt und ich mir wünschen würde, es würde ab und an Mal ein Verfahren nach § 171 StGB gegen diese Uneltern eingeleitet. Ja, es gibt eine Erziehungspflicht und eine Fürsorgepflicht, deren Verletzung jedenfalls theoretisch bestraft werden könnte.

§ 171 Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht

Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, einen kriminellen Lebenswandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Angeklagt wird das so gut wie nie. Letztlich ist das vermutlich sogar besser, weil die Kinder bei einer Bestrafung der Eltern häufig mit Kasalla rechnen dürfen – und damit meine ich keine Freikarte zu einem Konzert der gleichnamigen Band aus der Stadt mit K oder ein Treffen mit Thorsten Legat, sondern Prügel.

Nun, bei den meisten Jugendlichen ist der Ausflug in die Kriminalität ein vorübergehender Zustand, der sich von selbst wieder gibt und ohne bleibende Schäden abgeht. Nein, ich schreibe hier jetzt nicht, welche Straftaten ich so mit 15, 16 Jahren begangen habe und es waren auch keine schwerwiegenden, aber es waren schon einige, von denen allerdings bis auf eine Sachbeschädigung kein Mensch was mitbekommen hat. Mit 16 bin ich die gesamte Bundesligasaison zu den Heimspielen von Fortuna Köln gefahren und habe kein einziges Mal ein Ticket für die KVB gekauft. Das wäre damals in der Fangruppe geradezu peinlich gewesen. Unsere damalige Hymne war „Müngersdorfer Stadion“ von Zeltinger.

Ich fahr schwatz met de KVB,
die Markfufzisch dät denne och nit wieh,
ich fahr schwatz mit de KVB,
dä Hals voll krieje de Bonze nie.

 

Häufig sind auch niederschwellige Erziehungsmaßnahmen wie soziale Trainingskurse, Arbeitsleistungen, Diversion – ein Ausgleich zwischen Täter und Opfer -, völlig ausreichend, um dem Jugendlichen den Anstoß zu geben, mal über sein Fehlverhalten nachzudenken und das Verhalten künftig zu ändern. Manchmal reichen auch die Maßnahmen der Erziehungsberechtigten oder die der Schule alleine schon völlig aus, sodass eine staatliche Sanktion komplett entfallen kann. Das muss man eben in jedem Einzelfall genau prüfen. Der Rheinländer weiß, dat jede Jeck anders is. Und genau so muss für jeden Jeck das richtige Maß an Sanktion gefunden werden. Der eine ist einsichtig, glaubhaft reuig und angemessen geknickt, der braucht praktisch gar nichts. Der andere macht arrogant einen auf dicke Hose – und braucht dann mal den passenden Dämpfer.

Damit das auch geschehen kann, sollen im Jugendstrafrecht tätige Richter und Staatsanwälte erzieherisch befähigt sein. Was das genau ist und wie das sichergestellt wird, weiß ich nicht und bei manchen habe ich auch nicht das Gefühl, dass das so ist. Bisher ist es weder gelungen, die Qualifikation zu spezifizieren noch sie als verbindliche Regelung in Kraft zu setzen. Dass Richter selbst Eltern sind, ist weder erforderlich, noch zwingend hilfreich. Schön wäre eine zusätzliche Qualifikation neben der juristischen und auch eine regelmäßige Fortbildung. Das ist nicht so, aber immerhin, das ist der Plan. Da gäbe es was für Herrn Maas zu tun.

Jugendgerichtshilfe

Damit die Jugendgerichte eine reelle Chance erhalten, die für den Jugendlichen – die Heranwachsenden, sofern für sie Jugendstrafrecht gilt, nenne ich jetzt nicht jedes mal extra – richtige Sanktion zu finden, werden sie von den Sozialarbeitern und -pädagogen der Jugendgerichtshilfe unterstützt.

§ 38 Jugendgerichtshilfe

(1) Die Jugendgerichtshilfe wird von den Jugendämtern im Zusammenwirken mit den Vereinigungen für Jugendhilfe ausgeübt.

(2) Die Vertreter der Jugendgerichtshilfe bringen die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen Gesichtspunkte im Verfahren vor den Jugendgerichten zur Geltung. Sie unterstützen zu diesem Zweck die beteiligten Behörden durch Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Beschuldigten und äußern sich zu den Maßnahmen, die zu ergreifen sind. In Haftsachen berichten sie beschleunigt über das Ergebnis ihrer Nachforschungen. In die Hauptverhandlung soll der Vertreter der Jugendgerichtshilfe entsandt werden, der die Nachforschungen angestellt hat. Soweit nicht ein Bewährungshelfer dazu berufen ist, wachen sie darüber, dass der Jugendliche Weisungen und Auflagen nachkommt. Erhebliche Zuwiderhandlungen teilen sie dem Richter mit. Im Fall der Unterstellung nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 üben sie die Betreuung und Aufsicht aus, wenn der Richter nicht eine andere Person damit betraut. Während der Bewährungszeit arbeiten sie eng mit dem Bewährungshelfer zusammen. Während des Vollzugs bleiben sie mit dem Jugendlichen in Verbindung und nehmen sich seiner Wiedereingliederung in die Gemeinschaft an.

(3) Im gesamten Verfahren gegen einen Jugendlichen ist die Jugendgerichtshilfe heranzuziehen. Dies soll so früh wie möglich geschehen. Vor der Erteilung von Weisungen (§ 10) sind die Vertreter der Jugendgerichtshilfe stets zu hören; kommt eine Betreuungsweisung in Betracht, sollen sie sich auch dazu äußern, wer als Betreuungshelfer bestellt werden soll.

Die Jugendgerichtshelfer/innen gucken sich also das familiäre und sonstige soziale Umfeld der Jugendlichen an, erforschen ihre bisherige Entwicklung, Krankheiten, Schwierigkeiten im sozialen und erzieherischen Bereich, aber auch positive Sachen, wie die Mitgliedschaft in einem Verein, Hobbies und Freundschaften. Viele jugendliche Delinquenten sind den Jugendämtern auch schon länger bekannt, da es bereits Probleme mit der Erziehungsfähigkeit der Eltern gab, als die späteren Täter noch Säuglinge waren.

Eltern – Fluch oder Segen

Machen wir uns nichts vor. Die wichtigste Kriminalprävention ist ein Elternhaus, dass den Kindern Sicherheit, Selbstbewusstsein und soziales Verhalten bietet. Es gibt Jugendliche, die nicht einmal einen geordneten Tagesablauf haben und deren Eltern auch völlig Wurscht ist, ob sie in die Schule oder wann sie ins Bett gehen. Erziehen darf zwar jeder Vater und jede Mutter – und gerade diejenigen die es angeht lehnen jeden staatlichen Eingriff in ihre „Erziehung“ ab – aber wie das geht wissen manche überhaupt nicht. Oft genug wachsen Kinder in kaputten Verhältnissen auf. Das hat oft, aber nicht immer mit den finanziellen Möglichkeiten der Eltern zu tun. Emotionale Verwahrlosung, Gewalt und sexuellen Missbrauch gibt es auch in Familien, die finanziell im Überfluss leben und nach Außen hin eine heile Welt suggerieren. Kinder aus „besserem Hause“ habe nicht selten eine Kindheit für die Galerie der „anderen Leute“. Kinder die von früh auf einen gut gefüllten Karriereterminplan haben und mit Geld zugeschüttet werden, sind nicht unbedingt glücklich. Aber bei diesen Eltern ist die Hauptsache, es dringt nichts in die Öffentlichkeit durch. Den Eltern ist oft gar nicht bewusst, was sie da für Soziopathen großziehen.

Richtig kuscheln

Bei manchen straffällig gewordenen Jugendlichen ist deshalb „kuscheln“ genau das richtige. Die brauchen nicht vom Gericht auch noch ein paar „auf die Fresse“, wenn sie in ihrem Elternhaus nichts anderes erleben als Erniedrigung und Gewalt. Denen hilft viel mehr eine Gruppe in der sie erstmalig im Leben Anerkennung und Achtung erleben, eine Aufgabe, die ihnen eine Gefühl der eigenen Wertschätzung gibt.

Andere Jugendliche glauben – teilweise auch noch von den Eltern unterstützt – sie seien die Größten und könnten sich alles erlauben. Für sie gälten die Regeln nicht, wie für andere. Wenn der Papa sich nicht an die Verkehrsregeln hält und damit auch noch protzt, wie viel zu schnell er wieder mal gerast ist, dass er besoffen Auto gefahren ist oder wie viel Steuern er hinterzogen hat, wie soll der Sohn da Respekt vor Regeln und Gesetzen lernen. Denen, die auf andere herabsehen und andere nach Belieben erniedrigen, muss deutlich gezeigt werden, dass die Regeln ausnahmslos für alle gelten. Da hilft schon mal ein Arrest von zwei Wochen. Ohne Spielekonsole, Smartphone und TV-Gerät.

Und dann gibt es natürlich auch die sogenannten Intensivtäter. Die, bei denen alles hoffnungsvolle Erziehen vergebliche Liebesmüh zu sein scheint und die immer wieder straffällig werden und leider das Bild der jugendlichen Straftäter in der Öffentlichkeit prägen. Deren schädliche Neigungen – ein Begriff aus dem Jugendstrafrecht zur Bestimmung, wer mit einer Jugendstrafe bedacht werden muss – so offenkundig sind, dass nur noch eine Jugendstrafe möglich ist. Das sind aber nur rund 8% aller straffälligen Jugendlichen. Und zu denen komme ich im dritten Teil der Kolumne nochmal ausführlich zurück.

Im 2. Teil geht es nächsten Samstag erst einmal um die Entstehung des Jugendgerichtsgesetzes und dessen Weiterentwicklung.

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Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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