Einfach mal über was andres reden…

Es ist keine Schande nicht zu jedem politischen Tagesgeschehen gleich seinen Senf abzugeben. Es ist vielleicht sogar – auch politisch – souveräner manches mit Nichtachtung zu strafen.


Auch ich habe wie Kolumnist Jörg Friedrich schon einige Themen einfach „ausgelassen„. Auch, weil mich zu erwartende Reaktionen schon im Voraus nerven. Oder, weil ja sowieso soviel geschrieben wird, dass irgendwer den Text schon schreiben wird, den ich eigentlich schreiben wollte. Wenn Israel zum Beispiel mal wieder vorgeworfen wird, „mit Selbstverteidigung“ zu „drohen“, wenn Industrie & westliche Politik Pläne vorantreiben, dem Iranischen Regime noch ein paar Baukräne mehr anzudrehen, oder wenn nach einem weiteren Attentat die Hysterie vs. Beschwichtigungsspirale sich zu drehen beginnt, dann weiß ich dass zB Kollegen wie Heiko Heinisch oder die Autoren von Lizas Welt die richtigen Worte finden werden.

Dem Chor predigen

Und weil mir im Großen und Ganzen klar ist, dass weitere Artikel mit derselben Stoßrichtung vor allem von denselben Leuten gelesen werden, die dann entweder nicken werden „hab ich doch schon immer so gesagt“ oder mich mit all den anderen Gutmenschen an den nächsten Laternenpfahl wünschen, schäme ich mich selten, stattdessen, wie Friedrich formuliert, mich ins Philosophieren zurückzuziehen oder über andere Dinge zu schreiben, zum Beispiel chinesische Romane, das Elend der Fernsehserie, Hörbücher oder den verfemten Reim.

Immerhin ist kaum vorzustellen, dass all die Menschen, die zum Beispiel zuletzt eine dezidierte Meinung über die Burka hatten und sie in die Welt hinausschrien dem Thema abseits der von pointierten Denkern und Kritikern in den vergangenen Jahren schon geäußerten Gedanken wirklich noch viel Substantielles hinzuzufügen hatten. Ich habe zumindest kaum einen neuen Gedanken entdeckt, nur Angst, Wut, und alten Wein in neuen Bäuchen.

Und auch ob Merkel nun „weg muss“ oder nicht ist eine Scheindebatte, deren pures Aufgreifen die populistische Pseudopolitik des Personenkultes bereits in einer Weise aufwertet, die diese nicht verdient hat.

Felix Bartels formuliert in seinen Miscellen den folgenden Gedanken:

Eingekeilt zwischen Leuten, die sich in Härte gegen Flüchtlinge üben, und solchen, die in der Absetzung von eben diesen eine Gelegenheit ergreifen, lange eingeübte Ressentiments gegen den Osten rauslassen zu dürfen, beginne ich zu begreifen, welch revolutionärer Akt im Entschluss Goethes und Schillers gelegen haben muss, eingekeilt zwischen französischem Terror und deutsch-romantischer Reaktion darauf, das Gespräch über Epos, Drama und Roman fortzusetzen, ganz so, als sei die Zeit dazu bereits angebrochen. Zeit für Kunst ist nie. Deswegen ist sie immer.

Seelenhaushalt und Flaschenpost

Das trifft für mich etwas. Von der sogenannten höheren Warte der Geschichte gesprochen, sicherlich, aber auch für den ganz individuellen „Seelenhaushalt“. Man muss sich nicht ständig mit Tagespolitik beschäftigen, und vielleicht ist das aufgeschreckte Kreisen um Nachrichten sogar unpolitischer, als man meint. An den Dingen festzuhalten, die einen wirklich interessieren, d.h. nicht zuletzt an den Baustellen zu arbeiten die uns die tagespolitischen Verhängnisse überhaupt aushalten lassen: Das könnte dagegen durchaus auch politisch sein. Denn es braucht die gefestigte geistige Haltung, die reflektierte Positionierung im Weltgeschehen, um politisch zu denken und zu agieren. Auch wenn es derzeit denkbar ist, dass die nächsten großen Konflikte recht kindischer Weise in blutigen Sandkästen entschieden werden.

Dann bleibt, auf Adornos Flaschenpost zu hoffen: Die Hoffnung also, dass auch und vielleicht gerade die intensive und gründliche Aufarbeitung eher abseitiger Themen den ein oder anderen in seinem Denken anregen könnte, was auch auf das tagespolitische vielleicht irgendwann wieder seine Effekte hätte. Vielleicht ja auch kurzfristiger, als man es erträumt.

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Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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