Marta und Maria, Wahrheit und Liebe

Zu Ostern macht sich Gastkolumnist Philip Mauch Gedanken über Flüchtlinge und Nächstenliebe.


Mit Wahrheit und Liebe hat es etwas auf sich, sie sind wie Hund und Katz. Im schroffen Gegensatz zur Wahrheit stehend, ist die Liebe unmittelbar, sie sucht sich zu verausgaben, ohne Vorbehalte. Alles misstrauisch Reflektierende und zögernd Differenzierende fehlt ihr ganz und gar. In dieser Indifferenz und Blindheit geht ihr die Wahrheit im Weg um. Unterkühlte Erkenntnisdesiderate stören den Liebenden – ein bisschen wie bei Settembrini im Zauberberg, der Castorp immerzu buchstäblich das Licht anknipst, wenn der sich seinen romantischen Gefühlen hingeben will.

Macht Liebe unzurechnungsfähig?

Für die Hardliner der Wahrheitssuche ist die Liebe ein Affekt, der Kontrollverlust und Unzurechnungsfähigkeit nach sich zieht. Für sie macht Liebe nicht blind, sondern blöd. Für die Wahrheitsfraktion wirft etwa eine Mutter, die mit Ihrem Kind im Schlamm Idomenis festsitzt, erst einmal die Frage auf, warum sie nicht das Trockene eines regulären Lagers vorzieht, irgendwo im griechischen Landesinneren. Wie ist sie überhaupt von Aleppo nach Griechenland gekommen? Wie viele verglichen mit dem syrischen Bürgerkrieg sichere Unterkünfte hat sie auf diesem Weg hinter sich gelassen? Und waren sie und ihr Kind in ihrer Heimat wirklich in größerer Gefahr als auf der Fahrt mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer, bei dieser Nagelprobe des Glücks auf Leben und Tod?

Solches Fragen finden die Liebenden freilich herzlos, zynisch und sogar menschenverachtend. Besonders in den Kirchen scheint man nichts von derartigen Einwänden hören zu wollen. Kaum ein Krippenspiel in der Adventszeit, in dem die heilige Familie nicht als ein aus Syrien flüchtendes Ehepaar dargestellt worden wäre. Viele hinterließ das Bild mit gemischten Gefühlen, manche hielten sich davon für dumm verkauft. Denn Maria und Josef wollten nicht nach Deutschland oder Schweden, um ein neues Leben in der Fremde zu beginnen, sondern wegen einer Volkszählung zurück in ihre Heimat. Vor allem aber sind sie trockenen Fußes nach Bethlehem gekommen. Von einer lebensbedrohlichen Überfahrt in einem Schlauchboot war in der Weihnachtsgeschichte jedenfalls nirgends die Rede.

Flüchtlinge: keine Heiligen

Bei solchen Verklärungen von Flüchtlingen zu Heiligen wurden viele christliche Fäuste in den Taschen geballt. Diese rigorose Art, nicht das geringste auf Flüchtlinge kommen lassen zu wollen … „wenn Du sie nicht ohne wenn und aber liebst, liebt Dich Jesus auch nicht, dann bist Du gar kein richtiger Christ“ … fühlt sich an wie Erpressung. Man kann sich doch nicht den Kopf abschneiden, nur um endlich mit dem Herzen allein zu denken.

Dabei bedeutet bedingungslose Liebe gar nicht, dass man die Augen vor der Wahrheit verschließt. Christen lernen von früh auf, dass gerade die selbstverschuldet in Not geratenen, die also, die nach allen Maßstäben des gesunden Menschenverstandes gar kein Anrecht auf Hilfe hätten, dass gerade sie des Erbarmens und der Nächstenliebe bedürfen. Die verlorenen Söhne und Töchter, die versprengten Schafe sind es, die den Menschen in der Nachfolge Christi aufgegeben, ja aufgebürdet sind. Wenn nämlich ein radikaler Islamist in der Blüte seiner Jugend aus einem Vorort von Tunis kommend in Idomeni festsitzt und auf das Mitleid der Europäer mit der Familie aus dem Zelt eins weiter hofft, dann verdient selbst dieser Trittbrettfahrer dieselbe grenzenlose Nächstenliebe wie alle anderen hoffnungslosen Fälle auch.

Was die Christen angeht, so würde ich mir also wünschen, dass dem Gewissenskonflikt zwischen Liebe und Wahrheit in den Predigten mehr Raum gewährt wird. Alle Gläubigen wissen in Innersten, dass die Liebe letztlich über alles triumphiert, sogar über den Tod. Aber dass die Liebe über jeden Zweifel erhaben bleibt, ändert nichts daran, dass Liebe ohne jeden Zweifel profan und beliebig wird.

Erkenntnistarbeit und Hingabe

Es gibt da eine wunderbare Stelle im Lukas-Evangelium über den rechten Eifer im Glauben, nämlich die Geschichte von Marta und Maria: Marta schuftet, um Jesus eine gute Gastgeberin zu sein, und Maria setzt sich einfach zu seinen Füßen, um seinen Worten zu lauschen und ohne einen Finger im Haushalt zu krümmen. Von Marta auf die vermeintlich ungerecht verteilten Lasten der Gastgeberschaft angesprochen, erwidert Jesus: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.” (Lk 10, 41)

Auf der einen Seite die mühsame Erkenntnisarbeit der Wahrheit, auf der anderen der hingebungsvolle Müßiggang der Liebe. Ich habe die Stelle stets so gelesen, dass im Grunde Marta und Maria einander brauchen. Für notorisch besorgte konservative Verantwortungsethiker wie mich, mit einer entsprechend langen emotionalen Leitung, bedeutet das, nicht eifersüchtig auf die linken Gesinnungsethiker zu schielen, die es mit ihren emotionalen Kurzschlüssen in der Gunst des Herrn zurzeit vermeintlich so viel leichter haben. Sie kämpfen mit ganz anderen Zweifeln, die meinesgleichen verborgen bleiben, und haben ihre ganz eignen Prüfungen zu bestehen. Das Mysterium der Einheit von Wahrheit und Liebe hat schließlich so viele Facetten wie es Menschen gibt.

Ich würde also vorschlagen, dass wir dem Heiland das Haus gemeinsam bereiten. Frohe Ostern!

Philipp Mauch

Philipp Mauch ist von Berufs wegen Stratege für Regulierungsmanagement in der Konsumgüterindustrie. Als Stipendiat der Hanns-Seidel-Stiftung hat er über Nietzsche promoviert – eine Kombination, die er als Ausweis seines liberal-konservativen Nonkonformismus verstanden wissen möchte. In seinem Blog „Variationen der Alternativlosigkeit“ grübelt er über Deutschlands politische Kultur.

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