David Bowie. Meister aller Klassen

David Bowie war der Vater und die Mutter der Kunst. Call him a Diamond Dog.


And I’m gone, gone, gone
Now I’m older than movies
And I know who’s there
When silhouettes fall”

(“Dead Man Walking”, 1997)

Der folgende Text ist ausdrücklich kein Nachruf. Bis auf wenige Sätze hätte ich diese Erörterung genau so vor Jahren als rein persönliche Bowie-Deutung verfasst. Daneben eignet sich der Artikel auch als Playlist.

Die Welt ohne Lou Reed war in den letzten Jahren bereits schwer erträglich. Eine Welt ohne Bowie und Reed kommt mir komplett absurd vor. Mit diesem oder einem ähnlichen Gefühl stehe ich anscheinend nicht allein. Die emotionale Resonanz auf den Verlust Bowies, der in unser fast aller Leben schon immer da war, ist überwältigend und rührend. Sie stellt nahezu alles in den Schatten, was popkulturelle oder historische Personen jemals erzeugten. Eine Bugwelle? Nein, ein Sturm, der weite Kreise zieht. Während manch namhafter Feuilletonist vergebens rätselt, ist die extreme Zuneigung für einen Mann, den kaum einer von uns persönlich kannte, recht einfach erklärbar: Bowies Ausnahmequalitäten als Mensch und Künstler. Er war nicht nur der Vater Kunst; er war eben auch die Mutter. Call him a Diamond Dog.

Der Mensch David Bowie

Der Schlüssel führt mithin über die Frage “Wer war dieser Mann?” Wie immer, ist es bei solchen Zusammenhängen zunächst wichtig, zu erkennen, wer David Bowie definitiv nicht war. Zum einen war er niemals das nachgesagte Chamäleon. Bowie passte sich nicht eine Sekunde lang seinem Umfeld an. Im Gegenteil: Stets prägte er alles vorgefundene und setzte es in einen neuen Zusammenhang. Ein weiteres war der humorvolle Engländer sicherlich ebenso wenig: entrückter Marsmensch, der sich zeitlebens hinter Masken und Image versteckt habe. Ironischererweise ist jedoch genau dieses am wenigsten scharfsinnige Vorurteil über David Robert Jones das langlebigste Missverständnis.

Weder lebte Bowie – von der letzten Dekade abgesehen – zurückgezogener als andere Weltstars, noch präsentierte er lebenslang in der Öffentlichkeit Thomas Jerome Newton, den Mann, der vom Himmel fiel. Innerhalb seiner Musik ironisierte er das eigene Image etwa mit “Hallo Spaceboy” (1995) oder “Earthling” (1996) ausgiebig. Sogar im unterhaltsamen Mineralwassser-Spot karikiert Bowie das Klischee ebenso genüsslich wie konsequent. “Ihr wollt Space? Na wartet, ich gebe euch Space!” sagte er in den 90ern lachend.
“Do I need a friend? Well, I need one now.” (“Days”, 2003)

Packen wir also das Bild des Außerirdischen aus dem Elfenbeinturm endgültig beiseite und nähern uns Bowie über seinem überzeugendes Merkmal: Die Einheit zwichen Wort und Tat. Schon Erich Fromm und Batman wussten, die innere Gesinnung taugt wenig, sofern sie nicht auch in Handlung mündet.

Ich liebte ihn somit auch wegen seines warmherzigen Charakters, der Kunst und Mensch gleichermaßen unterstützte. Er war nicht der Mann vom Mond. Er war der Samariter des Showbiz.

Denn:

Kaum einer tat mehr für andere Kollegen, die es brauchten und weniger Glück hatten.

  • Iggy Pop rettete er aus dem totalen Absturz.
  • Tina Turner verhalf er zum Comeback und zu Tantiemen („Tonight“, 1984), da sie keinerlei Einnahmen aus der Musik mit Ex-Mann Ike Turner hatte (jener behielt die Rechte).
  • Lou Reed rettete er die am Boden liegende Karriere nach dem Velvet Underground-Desaster, holte den von Gott und Menschen angepissten New York-City-Man aus der Steuerberaterkanzlei von Reeds Vater und machte „Transformer“ samt “Walk On The Wild Side”/”Perfect Day” (1972) erst möglich.
  • Yoko Ono war er ein treuer Freund und Ersatzvater für Sean Lennon nach Johns Tod.
  • Auch der treuen Haushälterin vermachte er eine lässige Million. …nur einige seiner Verdienste jenseits der Alben. Er hat die Messlatte sehr hoch gelegt.

Sie alle dankten ihm diesen Charakter mit bedeutsamen Karrieren und/oder lebenslanger Freundschaft.

David Bowies Kunst

“Das wirklich einzige, was ich jemals besitzen wollte, war die Kunst.” – David Bowie
Bowies Gesamtwerk ist in der Tat jeden erdenklichen Kniefall wert. Vor diesem Hintergrund erweist sich jede Hommage als plausibel. Vergessen wir nicht: Bachs Größe hatte man 100 Jahre später noch immer nicht erfasst. Auch ein Lovecraft erlebte den eigenen kulturellen Stellenwert nicht mehr. Da kann man doch nur erleichtert aufatmen, dass die Menschheit – minus Morrissey – wenigstens bei David Bowie nicht versagt und einem der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts angemessen und emotional Tribut zollt. Ein wenig ist es auch Bachs späte Rache. Jeder Augenblick dieses bis „Blackstar“ (2016) 50 Jahre umfassenden Katalogs ist eine Ermunterung zu Neugier, Experimentierfreude, Individualismus und dem Beherrschen aller zu sprengenden Regeln. In Note und Zeile erscheint Bowie als könne er in das Herz des einzelnen Hörers blicken. “I’ve had my share, I’ll help you with the pain. You’re not alone.” (“Rock’n’Roll Suicide”, 1972)

Auch deshalb ist es unerheblich, wie alt oder neu ein Bowiesong ist. Zeitlose Strahlkraft lässt diese Musik als ewige Gegenwart jeder neuen Generation zur Entdeckung zurück. Warum das alles keine Übertreibung ist, hat viele weitere Gründe. Ein paar dafür gibt es hier.

Das besondere Bowie-Album – Diamond Dogs (1974):

Als Tipp hier ein echter Hinhörer jenseits der üblichen Empfehlungen a la “Ziggy Stardust” oder “Heroes”. Das großartige “Diamond Dogs” von 1974 sollte in keinem Plattenschrank fehlen.

„Diamond Dogs“ ist der ewige Geheimtipp unter den großen Bowie-Platten. Inspiriert von Orwell haucht er dystopische, endzeitliche und zutiefst emotionale Dunkelheit aus, in der Romantik oder gar Liebe konstant ums bloße Überleben kämpfen. Alles andere auch. So nimmt der Londoner 1974 bereits alle Kaputtheit vorweg, die spätere Genrewerke a la „Mad Max“ und Co ausmacht. Für das entsprechende Soundbild tauschen die Musiker teils ihre Instrumente. Schon Bowies dilettierendes Sax ist eine Show. Songwriterisch ist die Platte bärenstark. Neben Hits wie „Rebel Rebel“ gibt es großartige Momente wie „1984“ oder „Big Brother“. Doch ewiger Anspieltipp und eine seiner besten Sternstunden ist das finster pochende Herzstück „Sweet Thing/Candidate/Sweet Thing“. Wer diesen dreiteiligen Song liebt, hat Bowie verstanden. “If it’s good, it’s really good and if it’s bad I go to pieces.”
Der Albatross-Bowie mit sagenhafter Spannweite:

Nach dem Soudtrack zur Mondlandung (“Space Oddity”, 1969), nebenbei noch schnell theaterhaften Glamrock miterfunden oder elektronische Musik in ihrer Entwicklung beeinflusst. Nahezu jedes Genre souverän gemeistert und geadelt. Soul, Pop, Psychedelic, Funk, Artpop, Rock, Folk, Hardrock, Singer-Songwriter, Metal, Progrock, Blues, New Wave, Gothic-Rock, Chanson, Klassik, Jazz, Fusion, Punk, Ambient, Industrial-Rock, Club, Dance usw. Für jedes Glied dieser Kette findet sich ein passender Song. Alles dabei von lieblichstem Zucker bis hin zu fordernden Klangexperimenten und Avantgarde-Stücken. Keiner ist je weiter gegangen als Bowie, der gleichermaßen Konstruktion und Dekonstruktion der Stile lebte. Frei nach dem alten Gandalf-Zitat: “Ein Zauberer kommt nie zu früh oder zu spät. Er trifft genau dann ein, wenn er es für richtig hält.” scherte Bowie sich nicht darum,beim Aufgreifen trendy oder verspätet zu sein. Er definierte im Moment des Erscheinens. Bowie: “Auch als ich beschloß, Rhythm & Blues-Musiker zu werden, war ich keineswegs als kleiner, schwarzer Junge in New York zur Welt gekommen. Ich bin in gar keine Musikform hineingeboren worden und habe daher auch keinerlei Stilloyalitäten.“

Gleiches gilt für die Bandbreite seines Gesangs. Er konnte quietschen, wie ein Hundespielzeug („Oh! You Pretty Things, 1971), die Schlampe spielen („Amsterdam“, 1973), den Macker mimen („A Big Hurt“, 1991) oder den Dandy geben („Sound And Vision“, 1977). Besonders der späte Bowie entwickelt seiner voluminösen Stimme ein eigenes Markenzeichen erheblich weiter. Spätestens ab ca. „I’m Deranged“ (1995) mäandern seine Vocals – schwebend und doch gewichtig – als graue Eminenz durch viele Lieder. Ein Stil wie ein Maßanzug, der das kraftvoll-emotionale Timbre unterstreicht und im Klangbild ein Quentchen mystische Entrücktheit hinzu gibt. Einiges spricht dafür, dass Bowie für diese Perfektionierung essentiell von Scott Walker lernte. Bei großen Nachtsongs wie „Sunday“ (2002) hört man es deutlich.

Bowie der Schauspieler

Bowies Charisma überträgt sich lässig auf seine Filmrollen. Ein paar Momente stechen heraus. „Der Mann, Der Vom Himmel fiel“ (1975), „Furyo – Merry Christmas, Mr Lawrence“ (1982) und „Begierde“ (1982) avancierten nicht zuletzt wegen Bowies Präsenz zu Kultstreifen. Am Broadway spielte er 1980 die Titelrolle in „Der Elefantenmensch“. Dies jedoch ganz und gar ohne Maske, rein auf Mimik, Gestik und Tonfall begrenzt. Ausgerechnet von diesem – auch von Kritikern einhellig bejubelten – Auftritt gibt es keinerlei komplette Aufzeichnung. Dafür spielt er zwei Jahre darauf die Hauptrolle in „Brecht’s Baal“ und macht hier für die BBC eine gewohnt gute Figur. Auf dem Soundtrack zerrt Bowie den alten Berthold komplett in die Finsternis. Die sinistre Totenklage „The Drowned Girl“ garantiert unbedingte Gänsehaut. Nicht minder intensiv gerieten die Darstellungen historischer Persönlichkeiten wie Pontius Pilatus (“Die Letzte Versuchung Christi”, 1988), Andy Warhol “Basquiat”, 1996) oder Nikola Tesla (“Prestige”, 2006). Kein Wunder, dass berühmte Filmfestivals dieser Tage Bowie-Filme als Tribute zeigen und Tilda Swinton auf der Berlinale stolz verkündet: “David war unser Stammesführer!”

Bowie der Producer und Mentor

Egal ob als Produzent, Sommergwriter, Mixer oder Backing-Vokalist: Viele Alben von Kollegen, an denen er mitwirkte, wurden Legenden. Egal ob “Raw Power” (1973) der Stooges, Mott The Hooples “All The Young Dudes” (1972) oder Iggy Pops “The Idiot”, “Lust For Life” (beide 1977) und “Blah Blah Blah” (1986). Die womöglich brillantese Leistung bleibt dabei womoglich das Formen von Lou Reeds “Transformer” (1972) (u.A. Mit “Walk On The Wild Side” und “Perfect Day”) als Producer und Spielgefährte. In den Händen Bowies mutierte der verkannte Velvet Underground-Genius vom verbitterten Grantler zum anmutigen Glam-Rock-Animal. So trifft der Eastwood-coole NYC-Man auf den farbenfrohen Vogel aus London. Sobald letzterer mitten in „Satelite Of Love“ überraschend seine knuffige Blockflöte hervor holt oder die „New York Telephone Conversation“ fast schon zu niedlich illustriert, hat dieses unwiderstehliche unterschiedliche Gespann jeden komplett erobert.

80er-Bowie als Gentleman Rocker und Entertainer

Mit dem 80er-Bowie ist es ein wenig wie mit dem 80er-Miles Davis. Sein Schaffen in dieser Dekade wird unterschätzt. Obwohl sich in dieser Periode auf den Alben auch manch ein Füllsong findet, so bleiben genug Nummern übrig als helle Seite des Jahrzehnts. Mit “Cat People” (nur echt in der 1982er Soundtrack/12 Inch-Version; nicht die zerhackte LP-Variante von “Let’s Dance”) und dem prophetischen “Time Will Crawl” gelingen dem Mann aus Brixton zwei der besten melodischen Rockstücke aller Zeiten. “Loving The Alien” ist ein anmutiger Monolith epischen Pops. Der melancholische Protestsong “This Is Not America” (mit Pat Metheny), der sexy drei Minuten-Klopper “Blue Jean” oder das romantische “Absolute Beginners” sind allesamt Zierden ihrer Zunft. Seine einflussreiche Hymne “Let’s Dance” geriet zum Gradmesser zeitgenössicher Unterhaltungsmusik. Und mit den damals weitgehend unverstanden gebliebenen Tin Machine dekonstruiert er all dies 1989 konsequent. Mit dem Zorn des Punk und dem Weltschmerz des später folgenden Grunge tanzt er auf den Trümmern der Yuppie-Ära und feiert die Desillusion („Heaven’s In Here“, 1989).

3 ultimative Bowie-Raritäten

David Bowie & The Rebels – Revolutionary Song; Bowies Filmmusik für “Just A Gigolo”, einen berüchtigten “Diverse Legenden haben spaß und machen zusammen einen Trash-Movie”-Streifen. Das Lied ist mit Abstand das Beste am Film. Veröffentlicht als Japan-Single 1978.

“Cat People” – Full Length; eine 10 min Version – und die einzig komplette – die auf dem Soundtrack fehlt und lediglich 1982 in Australien als limitierte 12 Inch Veröffentlichung findet.

John Cale & David Bowie – Velvet Couch; spontaner Jam beider nach einem Zufallstreffen im Hotel 1979. Niemals offiziell veröffentlicht, dafür lange Zeit ungekrönter König gesuchter Bowie-Bootlegs.

Der experimentierende Avantgarde-Bowie:

„Aladdin Sane“ (1973), „Warszawa“ (1977), „Neukölln“ (1977) oder „A Small Plot Of Land“ (1995)

Der Balladen-Bowie

„Lady Grinning Soul“ (1973) ist zwar nicht das bekannteste, gleichwohl eines seinen intensivsten Stücke. Eine erotische Lobpreisung der Soulsängerin Claudia Lennear, die auf den Thin White Duke anscheinend ähnliche Wirkung hatte wie auf Kumpel Mick. Jagger hatte ihr bereits „Brown Sugar“ gewidmet. Zünglein an der Waage ist hier Mike Garsons großartiges Piano-Arrangement. Mehr Ausdruck geht kaum. Garsons herausragende Tasten-Momente ziehen sich wie ein roter Faden durch Bowies Schaffen.

Später gab er neben dem Romantiker oft den ebenso scharf beobachtenden wie mitfühlenden Melancholiker. „Slip Away“ (2002) ist eine dieser späten Killerballaden, bei der kein Auge trocken bleibt. „Don’t forget to keep your head warm. Twinkle. Twinkle, Uncle Floyd.“
Perfekte Bowie-Clubsongs:

„Looking for Lester“ (1993); die Herren Bowie & Bowie grooven erstaunlich modern. Auch ein wenig eine Vorwegnahme des später entstehenden Nu Jazz; schwitzend und kultiviert.
„Fascination“ (1975); Sex & Drugs & Funk’n’Soul; was für eine brodelnde Energie; schwitzend und dirty.

Die perfekte Bowie-Hook

Zwei Gitarren von hier in alle Ewigkeit – „The Man Who Sold The World“ (1970) und aus dem Hinterhalt seiner Außenseiterrolle das Intro auf „Because You’re Young“ (1980).

Fehlt noch etwas? So einiges und noch viel mehr. Dazu benötige ich ein paar 100 Seiten. Doch „Planet Earth is blue and there’s nothing I can do.“

So kann ich nur noch das Knie beugen und dem Meister aller Klassen salutieren.

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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