Schweigen, die Wand anstarren
Der heutige Tag ist eine Schweigeminute, in die unzählige Stimmen hineinbrüllen, sagt Kolumnist Sören Heim. Ich bin eine davon. Es geht nicht anders.
Die Betroffenheit
Das Folgende wird kurz: Eigentlich würde ich am liebsten den ganzen Tag schweigend die Wand anstarren. Natürlich könnte man einmal mehr den Kampf mit den diesmal zumindest deutlich leiseren Stimmen suchen, die (selten war das Wort besser am Platze) gebetsmühlenartig wiederholen, dass Terror mit dem Islam nichts zu tun habe. Natürlich kann man auch die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und darauf hinweisen, dass vielen, die nun den islamistischen Terror in aller Form verurteilen, dieser Terror, solange er außerhalb Europas stattfand absolut am Arsch vorbeiging. Und dass nicht wenige der nun wieder zerknirschten wenige Tage nach dem Attentat auf Charlie Hebdo einmal mehr darüber reden wollten, was nun aber wirklich die Grenzen der Satire seien. Und dass nicht selten von den gleichen Zerknirschten Israels täglicher Kampf mit dem islamistischen Terror selbst zum Staatsterror umgedeutet wird. All das könnte man – es sei hiermit abgehandelt.
Das Gründesuchen
Auf der anderen Seite könnte man drauf beharren, dass wir noch nicht sicher wissen, ob die Täter Islamisten sind. Auch im Falle von Anders Breivik wurden die Dampfplauderer der Publizistik von den Entwicklungen überrascht. Man könnte, ja man sollte, man müsste vielleicht auch an manche schnelltwitternde Kollegen die Frage richten, vorher sie ihre Informationen haben, die es ermöglichen Verbindungen von der sogenannten Flüchtlingskrise zu wahrscheinlich lange im Voraus geplanten Attentaten zu ziehen (nicht dass eine solche Verbindung allerdings unmöglich wäre). „Europa sei keine Festung? Wohl höchste Zeit, dass es eine wird!“ – so auch Kolumnist Alexander Wallasch. Doch wenn, wie im Falle der Attentate von London 2005 und Paris im Januar sich herausstellen sollte, dass die Täter Staatsbürger europäischer Länder sind? Richten wir die Mauern dann an der französischen Grenze auf? So könnte man fragen. Auch all das sei hiermit abgehandelt.
Reaktionsmuster
Aber ich verstehe die emotionalen Reaktionen gut, die hektischen und geheuchelt wirkenden Distanzierungen der Terrorversteher, auch die Aufrüstungsfantasien und die Versuche eine Brücke zur Flüchtlingsthematik zuschlagen – auch wo sie nicht bei dem viel zu einfachen Verweis stehen bleibt, dass dies genau die Art von Terror ist vor dem man im Nahen Osten flieht. Im Angesicht von Bedrohungsszenarien reagieren wir nach eingeübten Schemata. Ich auch, der während er die Faust in der Tasche ballt und sich fragt ob Heinrich Schmitz Artikel zur Todesstrafe wirklich in allen Ausnahmelagen zuzustimmen ist (ja, sagt der Kopf natürlich, ist ihm!) versuche zu ordnen, abzuwägen, wie ich es eben gewohnt bin, und mir die Illusion von Kontrolle und geistiger Sicherheit zu verschaffen, statt mich von der doch so angemessenen Wut und Verzweiflung (Worte allerdings, die längst schal geworden sind) hinreißen zu lassen.
Schweigen, Wand anstarren
Schweigen und an die Wand starren. Das würde ich heute gern. Es ist nicht möglich, weil in der Aufmerksamkeitsökonomie des Internets immer irgendwer irgendetwas sagt und wer dazu dann selbst nichts sagt, sagt, schweigend, doch etwas. Der heutige Tag ist eine Schweigeminute, in die unzählige Stimmen hineinbrüllen. Ich bin eine davon. Es geht nicht anders.
Ich geh jetzt die Wand anstarren.
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