Sankt Määtes

In diesen Tagen gehen in vielen Städten die Martinszüge. Aber es ist nicht mehr wie früher. Es fehlt am lokalen Dialekt. Und das bedauert unser Kolumnist.


Meine Mutter war traurig. “ Isch hann extra de Käätzje in de Finster gestellt. Dann koom de Zoch , de Kapell hätt tapfer jespellt, ävver meenste do hät eene metjesonge ?“

(Ich hatte extra die Kerzchen in die Fenster gestellt. Dann kam der Zug, die Kapelle hat tapfer gespielt, aber meinst Du einer hätte mitgesungen?)

Ich wusste nicht auf Anhieb, was sie meinte. Kerzen im Fenster, Zug, Kapelle, keiner hat mitgesungen ? Dann war es mir klar.

„Meenste de Määteszoch ?“. „Jo, die kenne die ahle Leeder all jar nit mieh. De Pänz net un de Eldere och net.“

(Meinst Du den Martinszug? – Ja, die kennen alten Lieder alle gar nicht mehr. Die Kinder nicht und die Eltern auch nicht.)
Wen kümmert’s, dachte ich zunächst, aber das kurze Gespräch mit meiner Mutter ging mir den ganzen Tag über nicht mehr aus dem Kopf. Ich war plötzlich wieder Kindergarten- und Grundschulkind. Der Martinzug war früher ein Ereignis. Schon Wochen vorher bastelten wir mehr oder weniger schöne Laternen. Mit echten Kerzen drin. Feuer, offenes Feuer. Die einzelnen Schulen wetteiferten um die schönsten Kreationen. Ältere Schüler begleiteten den Zug mit Pechfackeln. Wann bin ich endlich so alt, dass ich eine Pechfackel tragen darf, das war die Frage.

Muttersprooch verloore

Und während der Bastelphase wurden die Lieder geübt. Die hochdeutschen wie „St. Martin, St. Martin“, die man auch heute noch googeln kann, und für uns „Pänz“ noch viel wichtiger, die Lieder im heimischen Dialekt, nach denen man heute vergeblich googelt. Ein paar findet man noch in örtlichen Archiven, aber – und da hat meine Mutter recht – viele sind vergessen. Die Kapellen haben noch die Noten, die Texte kennt kaum noch einer. Schade.
„Dörch all die Strooße trecke mir, Sank Määtes, Sank Määtes,
met Fackel un met Määtesfüer, Sank Määtes, Sank Määtes,
mir don dich och veriehre,
moss os och aanhüehre,
Sank Määtes, Sank Määtes, Sank Määtes, Sank Määtes, „
und da verließen sie ihn. Auch mir fällt der ganze Text nicht mehr ein, obwohl ich meine Mundart, der Rheinländer spricht hier von „singer Muttersprooch“ (das „o“ offen , wie in Woche), im Gegensatz zu manch anderem nie verleugnet und neben dem rheinisch-gefärbeten Hochdeutsch immer gesprochen habe.
Dass im Zweifelsfall ein Großteil der Kinder und der Eltern gar nicht mehr weiß, warum sie mit den Laternen hinter einem Mann auf einem Pferd her rennen, soll hier nicht das Thema sein. Dafür gibt ja Matthias Matussek. Mir geht es nicht um den katholischen Hintergrund, sondern um die Sprache.
Was wird aus unseren heimischen Dialekten, wenn die Kinder sie nicht mehr sprechen ? Sie gehen verloren. Warum sprechen die Kinder nicht mehr im Dialekt ? Weil die Eltern es nicht mehr tun, sei es , weil sie es selbst schon nicht mehr lernen durften, sei es weil sie es zwar noch können, aber mit ihren Kindern nicht sprechen.

Plattdissing

In der Sozialisation der frühen 60er Jahre, der Zeit also, als neben Hochdeutsch vor allem in den Familien noch Dialekt gesprochen wurde, aber auch auch im Kindergarten, fing es langsam an. Plattdissing. Hochdeutsch sollte gesprochen werden. Die Bildungsbürgereltern meiner Freunde verboten ihren Kindern im Dialekt zu sprechen. „Das sagt man aber nicht so“. Dialekt gleich doof, Hochdeutsch gleich „jebildet“. „Watt ene Driss“, möchte man da schreien. Kein Mensch kommt aus „Hochdeutschland“, höchstens ein paar Hannoveraner. Jede Region, jeder Ort, ja teilweise jedes Stadtviertel hatte einmal ihre eigene Sprache. Pygmalion lebt von dieser Tatsache, Professor Higgins kannte sie alle. Und heute ?
Ist die Sprachkompetenz unserer Kinder heute besser als in den 60er Jahren, Alter ? Weit und breit kein Dialekt mehr zu hören, aber Hochdeutsch auch eher nicht. Was hat’s gebracht, die Dialekte auch aus den Schulen und Kindergärten zu verbannen ? Dass Sprache sich verändert, ist normal. Dass eine ganze Sprache bzw. eine ganze Reihe von Sprachen mit der Generation meiner Eltern ausstirbt, ist bedauerlich. Und dass der heimische Dialekt eine eigene Sprache ist, mit eigenen Wörten, eigener Grammatik und eigenem Wert, ist doch kein Geheimnis.

Dialekt  ein Karnevalsaccessoire?

Im Rheinland wird, nicht zuletzt durch die vielen Mundartgruppen, wie BAP, Bläck Föös, Brings und wie sie alle heißen, eine Art Mundart immerhin noch ein wenig am Leben erhalten – auch wenn es weder das echte Kölsch noch sonst irgendein echter Dialekt ist, der da in der Regel verwendet wird. Klingt aber wenigstens so ähnlich. Leider wird diese Sprache aber oft nur zu Karneval aus dem Giftschrank geholt und am Aschermittwoch mit dem Nubbel wieder verbrannt. Dialekt nur als Karnevalsaccessoire ?

Na und, fragt der ein oder andere Hochkulturer ? Diese niedere Sprache ist doch nicht wertvoll, nur etwas für Volkstheater. Falsch. Die Dialekte sind eine untergehende Kultur. Wenn es sich um andere untergehende Kulturen weit weg , am Arsch der Welt handelt, sind dieselben hochnäsigen Bildungsbürger gerne bereit ins Portemonnaie zu greifen und für deren Rettung zu spenden. Aber für die eigenen Wurzeln ? Kaum. Es gibt einige Projekte wie z.B. die in Köln ansässige „Akademie för uns kölsche Sproch “ (http://www.koelsch-akademie.de/) und kleiner örtliche Projekte. Gesprochen wird die „Sproch“ aber nur noch von Älteren, sie trocknet aus, sie verschwindet.

Vielfalt der Dialekte ist Kulturgut

Mir tut das weh. Bevor jetzt die Nationalisten denken, sie hätten eine deutsch-nationale Schwachstelle bei mir entdeckt und ich sei ein heimlicher Deutschtümeler. Falsch. Das Gegenteil ist der Fall. In der Vielfalt der Dialekte zeigt sich die Vielfalt der Menschen, ein buntes Deutschland, ein buntes Europa und eine bunte Welt. Es ist nicht nötig seine nationale oder regionale Herkunft zu verleugnen und seine Muttersprache , hier den Dialekt, zu verraten und zu verkaufen. Wer die Sprache beherrscht, beherrscht das Denken – und zwar im doppelten Sinne.
Natürlich ist das sogenannte Hochdeutsch als Amts- und Kommunikationssprache zwischen allen Bürgern wichtig und natürlich sollte jeder Bürger diese Sprache beherrschen. Aber nicht um den Preis, damit eine Einheitsidentität überzustülpen und seine Herkunft zu verleugnen. „Deutschsprach, Deutschsprach über alles“ kann nicht das Ziel sein. Vielmehr Erhaltung und Wiederbelebung der Dialekte.

Natürliche Immunisierung

Dass Dialekt und Nationalismus nichts, aber auch gar nicht miteinander zu tun haben, zeigen alle Künstler die an der größten antirassistischen und antinationalistischen Demonstration am 9.11.1992 und am 9.11.2012 teilgenommen haben. Die heißt nicht „Hintern hoch – Zähne auseinander“, nein, die heißt kraftvoll „ARSCH HUH – ZÄNG USSSENANDER“. Ich versteige mich mal zu der Behauptung, dass ein lebender Lokalpatriotismus eine natürliche Immunisierung gegen jede Form von Nationalismus mit sich bringt. Auf Hochdeutsch wäre eine solche Veranstaltung mit dieser emotionalen Intensität kaum vorstellbar, „do fählt et Hätz“.
Ich erinnere mich an eine „Einer wird gewinnen“ – Sendung mit Hans Joachim Kulenkampff, lange her. Auf der Bühne stand ein Statist in britischer Beefeater-Uniform für irgendein Zuordnungsspiel. Nach dem Spiel fragte der Moderator diesen Statisten, „where do you come from“ und der antwortet in herzerfrischendem Kölsch, „Isch bin uss Nippes“. So muss es sein, unvergesslich, mein Held, der Nippesser.
Vielleicht können die Kindergärten ja mal in den Altersheimen vorbeischauen. Vielleicht können die Alten ihnen die alten Martinslieder vorsingen. Vielleicht können die Kindergärtnerinnen das mit ihren schicken Smartphones aufnehmen und die alten Texte aufschreiben. Vielleicht kann meine Mutter beim nächsten oder übernächsten Martinszug wieder die alten  Lieder hören.
Nee, watt wör datt schön.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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