Ein unbekanntes Virus
Warum er jedes Jahr in der Adventszeit den Kölner Südfriedhof besucht – darüber berichtet Henning Hirsch in dieser kurzen Geschichte.
Ulla war so alt wie ich
vielleicht ein Jahr jünger oder älter
wir kannten uns aus der Tanzstunde
hatten in der Pfarrdisco
zu Rod Stewarts „Sailing“ wild gefummelt
dann verlor ich Ulla aus den Augen
hörte, dass sie die Schule geschmissen hatte
mit Freiern rumzog,
in Clubs tanzte
trank und Linien zog
eine Welt, die mir Milchbubi fremd war
In einer lauen Frühlingsnacht traf ich sie vor dem Coconut
Ulla balancierte auf roten Pumps
hatte eine riesige Designertasche umgehängt
„Du hier?“, sagte sie
fischte mich aus der langen Schlange heraus
und hakte sich bei mir ein
„Das ist mein kleiner Bruder“, erzählte sie dem Hünen von Türsteher
„Blamier mich bloß nicht“, flüsterte sie mir ins Ohr
An der Theke bestellte ich ein Bier
„Du Kleinkind“, kicherte Ulla
sie schob mir einen Whiskey Sour zu
„Auf ex!“
ich gehorchte. Mir wurde es warm im Bauch und
heiß ums Herz
eine halbe Stunde später knutschten wir auf dem Männerklo
„Wo hast du gesteckt?“, fragte Ulla
„Schule, Fußball, Partys mit den Kumpels“
„Wie langweilig“
wir tranken abwechselnd Wodka, Gin und bunte Cocktails
Um drei Uhr nahm sie mich mit in ihre Wohnung
„Du weißt, wie es funktioniert?“
„Klar!“
ich versagte komplett
wusste nicht, wohin mit meinem Schwanz
spritzte nach drei Minuten ab
„Du bist ein elender Lügner. Es war deine allererste Nummer, und
die war das Schlechteste, was ich bisher erlebt habe“
danach schlief sie an meiner Schulter ein
während ich stundenlang wach lag
Wir vögelten nun ein- oder zweimal in der Woche
meistens Dienstag- und Mittwochnachmittag, wenn Ulla frei hatte
ich erkundigte mich nicht nach ihrem Job
ahnte, womit sie ihre Kohle verdiente
wollte es aber nicht so genau wissen
abends lernte ich für meine Prüfungen
Ulla tanzte in den Clubs der Stadt
Sie kannte viele Männer. ließ mich gerne zappeln, versetzte mich
ging nicht ans Telefon
öffnete nicht, wenn ich wütend sturmklingelte
„Du bist süß, aber zu jung für mich“, hauchte sie im Bett
und fuhr mit der Zunge durch mein Ohr
„Leck mich!“, schrie ich
sprang auf und zog mich in Windeseile an
„Du wirst zurückkommen. Immer wieder“, lächelte sie
„Nein!“
ich knallte die Tür ins Schloss und schwor
sie nie mehr wiedersehen zu wollen
FUNKSTILLE
Ein paar Monate später war Ulla tot
„Das neue unbekannte Virus. Hochgradig ansteckend“,
erklärte mir eine gemeinsame Freundin
ich schwitzte, ging zum Urologen
und ließ mich durchchecken
große Beerdigung
zig hundert Menschen, etliche weinten
ich hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Leute Ulla kannte
Das nächste halbe Jahr rührte ich keine Frau an
döste in der Schule, konnte mich auf nichts konzentrieren
wurde beim Fußball auf die Ersatzbank gesetzt
war ständiger Gast im Coconut, trank alleine Whiskey Sour
bekam Herzstiche am Urinal
während ich ihren Namen an die Kacheln pisste
In der Adventszeit besuche ich regelmäßig ihr Grab
Ulla D. … † Dezember 1983
steht dort in schlichten weißen Buchstaben auf schwarzem Stein geschrieben
manchmal bringe ich Blumen mit, aber nicht immer.
© H.H.
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