Russland als das „schwächste Glied“ der internationalen Ordnungen zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts? – eine vergleichende Betrachtung
Lenin bezeichnete das Zarenreich wiederholt als das „schwächste Kettenglied des Imperialismus“. Die Ereignisse des Jahres 1917 schienen diese These zu bestätigen. Im Februar 1917 zerbrach die Zarenmonarchie als das erste Regime im damaligen Europa an den Herausforderungen des Ersten Weltkrieges. Acht Monate später erging es der auf den Trümmern der Zarenmonarchie errichteten „ersten“ russischen Demokratie ähnlich. Auf deren Ruinen wiederum wurde das erste totalitäre Regime der Moderne aufgebaut. Im August 1991 wurden die bolschewistischen Bezwinger der „ersten“ russischen Demokratie ihrerseits entmachtet. Dennoch entwickelte sich der nach der Auflösung des Sowjetregimes entstandene russische Staat erneut zum „schwächsten Glied“ der internationalen Ordnung und zum Experimentierfeld für utopistische Entwürfe unterschiedlichster Art. Man kann sich insoweit nicht des Eindrucks erwehren, dass die russische Geschichte in gewisser Hinsicht einen zyklischen Charakter hat. Historischer Essay von Leonid Luks.
Die Erosion des zarischen Regimes
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Russland zu denjenigen europäischen Ländern, in denen sich die sozialen und politischen Konflikte fortwährend verschärften. Dies ungeachtet der umwälzenden Reformen des Zaren Alexander II. (1855-1881), die u.a. zur Abschaffung der Leibeigenschaft und zur Erschaffung der unabhängigen Gerichte führten. Die Polarisierung der Gesellschaft, die Karl Marx und Friedrich Engels für den Westen vorausgesagt hatten, trat im ausgehenden 19. Jahrhundert in Russland ein. Dorthin verlagerte sich das revolutionäre Zentrum des Kontinents. Damals spitzten sich im Zarenreich gleichzeitig drei Konflikte zu, die im Westen bereits weitgehend gelöst waren: die Verfassungs-, die Arbeiter und die Agrarfrage. Dies entzog der zarischen Autokratie weitgehend ihre soziale Verwurzelung. Die erschreckende Leere, die sie umgab, offenbarte sich während des Russisch-Japanischen Krieges von 1904-1905.
Statt nationale Begeisterung hervorzurufen, gab der Russisch-Japanische Krieg nur ein Signal zu einer allgemeinen Auflehnung der Bevölkerung gegen das bestehende System. Auf die verheerenden Niederlagen der russischen Armee reagierte die Mehrheit der Bevölkerung im Wesentlichen gleichgültig. Die revolutionären Gruppierungen konstatierten diese Niederlagen sogar mit Befriedigung. Nicht das russische Volk, sondern sein größter Feind – die zaristische Regierung – sei in diesem Krieg besiegt worden, erklärte Lenin Anfang 1905. Mit dieser extrem defätistischen Haltung stand der Führer der 1903 gegründeten bolschewistischen Partei (der „Partei neuen Typs“) im damaligen oppositionellen Lager keineswegs allein.
Angesichts ihrer völligen Isolierung im Lande konnte die Selbstherrschaft in ihrer bisherigen Form nicht aufrechterhalten werden. Sie musste die Gesellschaft um Zusammenarbeit bitten. So kam es auf Vorschlag des damaligen Ministerpräsidenten, Sergej Witte zum Manifest des Zaren vom 17. Oktober 1905, in dem Nikolaus II. den Untertanen Grundrechte und die Einberufung eines Parlaments versprach. Dies war das Ende der uneingeschränkten russischen Autokratie. Im April 1906 erhielt Russland eine Verfassung (Staatsgrundgesetze) – die erste in seiner Geschichte.
Der russische Historiker Viktor Leontovitsch sagt, die Verfassung von 1905/06 sei von den Kräften erzwungen worden, die an der Verfassung nicht interessiert gewesen seien, deren eigentliches Ziel die Vertiefung der Revolution gewesen sei. Dessen ungeachtet, so Leontovitsch in Anlehnung an den liberalen russischen Politiker Wassili Maklakow, habe die Verfassung allmählich begonnen, sowohl auf die Regierung als auch auf die Öffentlichkeit erzieherisch zu wirken.
Indes betrafen alle diese Entwicklungen in erster Linie die russische Bildungsschicht. Die Volksschichten partizipierten kaum an ihnen. Sie waren an den politischen Zielsetzungen der sogenannten „Zensusgesellschaft“ kaum interessiert. So stand im Vordergrund des Interesses der russischen Bauernschaft – der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, auch nach der Verabschiedung der Verfassung – nicht die Verankerung der Rechtsstaatlichkeit in Russland, sondern die aus ihrer Sicht ungelöste Agrarfrage. Sie träumten von einer gänzlichen Enteignung der Gutsbesitzer, von der sogenannten „Schwarzen Umverteilung“, und wollten deshalb das Prinzip der Unantastbarkeit des Privateigentums, das die Verfassung in Artikel 77 garantierte, nicht anerkennen.
Die Kluft zwischen den russischen Bildungsschichten und den Volksschichten offenbarte sich besonders deutlich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Allein die Loyalität zum Zaren konnte die russischen Bauern, die die Hauptlast des Krieges trugen, zur außergewöhnlichen Ausdauer in dem sich in die Länge ziehenden Konflikt bewegen. Diese Loyalität war aber seit der Jahrhundertwende ins Wanken geraten. So wurden die russischen Volksschichten – die bis dahin wichtigste Stütze der russischen Autokratie – zu ihrem gefährlichsten Gegner. Ihre Hoffnung auf die Errichtung einer sozial gerechten Ordnung begannen sie in einem immer stärkeren Ausmaß vom Zaren auf revolutionäre Parteien zu übertragen.
Bereits einige Monate nach Kriegsbeginn (im Dezember 1914) sagte der russische General Kuropatkin, dass ganz Russland nur einen Wunsch habe – den Frieden.
Die „nationale Renaissance“ innerhalb der russischen Bildungsschicht
Die Aussage Kuropatkins bezog sich allerdings in erster Linie auf die russischen Volksschichten, die die Hauptlast des Krieges trugen. In einem ganz anderen mentalen Zustand befanden sich damals die russischen Bildungsschichten, zumindest viele ihrer Vertreter. Sie wurden nämlich nach Kriegsausbruch, wenn man von den Bolschewiki und einigen anderen linksradikalen Gruppierungen absieht, von einer nationalistischen Euphorie erfasst, die sich nicht allzu stark von der Stimmung unterschied, die auch in solchen Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien den Ausbruch des Weltkrieges begleitete. Wenn man bedenkt, mit welcher Gleichgültigkeit die russische Öffentlichkeit noch ein Jahrzehnt zuvor die verheerenden Niederlagen der zarischen Armee im russisch-Japanischen Krieg hingenommen hatte, verwundert der Stimmungswandel, der sich innerhalb kürzester Zeit im Lande vollzogen hatte. Zur Popularität der Romanow-Dynastie trug aber diese nationale Renaissance innerhalb der politischen Klasse Russlands nur wenig bei, denn die national gesinnten Kreise im damaligen Russland verdächtigten die Zarenfamilie, sie identifiziere sich nicht ausreichend mit dem Krieg. Die Tatsache, dass der im Dezember 1916 ermordete Favorit der Zarin, Grigorij Rasputin, das Land praktisch mitregierte, trug zur Diskreditierung der Zarenfamilie besonders stark bei. Ende 1916 erreichte die Auseinandersetzung der Opposition mit dem Regime ihren Höhepunkt. Der Vorsitzende der Partei der Konstitutionellen Demokraten. Pawel Miljukow, fragte, als er die Unfähigkeit der damaligen Regierung beschrieb: „Was ist das? Dummheit oder Verrat?“.
Von der Regierung wandten sich damals nicht nur die liberalen und sozialistischen, sondern auch manche konservative Gruppierungen ab. Sogar einige Hofkreise planten damals eine Palastrevolution. Die Erosion des Glaubens an den Zaren hat der Monarchie ihre legitimatorischen Grundlagen weitgehend entzogen. Russland ließ sich damals in der Tat als das „schwächste Glied“ in der Kette der kriegführenden Mächte bezeichnen.
Lenins Defätismus
Die Tatsache, dass die Pariser Kommune auf den Zusammenbruch des französischen Heeres und die russische Revolution von 1905 auf ein Debakel der zarischen Armee folgten, führte Lenin zur Überzeugung, dass eine revolutionäre Partei während eines „imperialistischen“ Krieges vor allem auf die Herbeiführung der Niederlage der eigenen Regierung hinarbeiten sollte. So sah er den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, anders als z. B. Rosa Luxemburg und viele andere Vertreter des linken Flügels der Sozialistischen Internationale, keineswegs als Anlass für Verzweiflung oder als beispiellose Tragödie. Im Gegenteil, dieser Krieg stellte für ihn eine gewaltige Chance dar, revolutionäre Prozesse zu beschleunigen; er nannte ihn den „größten Regisseur der Weltgeschichte“.
Für die Pazifisten, die diesen Krieg so schnell wie möglich beenden wollten, hatte Lenin nichts als Verachtung übrig. Kurz nach dem Ausbruch des Krieges schrieb er an seinen Parteifreund Schljapnikow, die Epoche des Bajonetts sei angebrochen. Dies bedeute, dass man mit dieser Waffe auch kämpfen müsse.
Als Lenin diesen Gedanken formulierte, standen ihm keine eigenen Bajonette zur Verfügung. So musste er sich zwangsläufig mit den Kräften solidarisieren, die über solche Bajonette verfügten und das gleiche Ziel wie er verfolgten, nämlich die Zerschlagung der zarischen Armee – und dies waren die Kriegsgegner Russlands. Dieses Vorgehen verstand Lenin keineswegs als Verrat an Russland. In seinem Artikel über den Nationalstolz der Russen vom Dezember 1914 schrieb er: Die russischen Sozialdemokraten liebten ihr Vaterland wie andere Russen. Aber gerade deswegen wünschten sie der Zarenherrschaft die größten Niederlagen in jedem Krieg. Die Hilfe zur Vernichtung der Zarenmonarchie sei der beste Dienst, den jeder russische Patriot seinem Vaterland erweisen könne.
Den Ausbruch der Februarrevolution von 1917, nicht zuletzt infolge der ungewöhnlichen Destabilisierung der zarischen Monarchie durch den Krieg, fasste Lenin als eine Bestätigung seiner Taktik auf. Im März 1917 schrieb er:
Die revolutionäre Krise wurde durch eine Reihe schwerster Niederlagen beschleunigt, die Russland und seinen Verbündeten beigebracht wurden. …Jene, …die gegen den ´Defätismus´ schrien und tobten stehen jetzt vor der Tatsache, dass die Niederlage … des Zarismus mit dem Beginn der (Revolution) historisch verbunden ist.
Lenin und die „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“
Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 sagte Lenin in seinen „April-Thesen“, Russland sei nun „von allen kriegführenden Ländern das freieste Land der Welt“. Dessen ungeachtet setzte er, diesmal gegen das „freieste Land der Welt“, seinen defätistischen Kurs unvermindert fort. Seine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich erreichte gerade zu dieser Zeit ihren Höhepunkt. Mit besonderer Häme übergoss Lenin diejenigen politischen Gruppierungen in Russland, die meinten, dass nach dem Sturz des unpopulären Zaren die russische Revolution nun vor den äußeren Feinden verteidigt werden müsse. Diese Gruppierungen bezeichnete Lenin verächtlich als „revolutionäre Vaterlandsverteidiger“, und meinte, sie seien die „(schlimmsten Feinde) der weiteren Entwicklung und des Erfolgs der russischen Revolution“. An die kriegsmüden russischen Soldaten, die infolge der Revolution von den Fesseln der Militärdisziplin befreit worden waren, richtete Lenin den Appell: „Beendet sofort den imperialistischen Krieg“, der außerordentlich wirksam war. Denn die zarische Armee, die zu Beginn der Februarrevolution etwa 9 Millionen Soldaten zählte, löste sich in den folgenden Monaten beinahe gänzlich auf. Allerdings hatte Lenins Friedenpropaganda nichts mit Pazifismus zu tun. Denn Lenins Ziel war keineswegs die Beendigung des Weltkrieges, sondern seine Verwandlung in einen weltweiten revolutionären Bürgerkrieg, der die wichtigste Ursache aller Kriege beseitigen sollte – das sogenannte „Weltkapital“. In Russland – dem „schwächsten Glied der imperialistischen Kette“ – mit seiner schwachen Bourgeoisie sollte die von Lenin konzipierte proletarische Revolution zuerst siegen, und dann sollte der revolutionäre Funke auf die hochentwickelten Industrieländer des Westens überspringen – das war der Plan. Die wichtigste Voraussetzung für den Sieg der proletarischen Revolution in Russland stellte aus der Sicht Lenins die Zerstörung des bürgerlichen Staates samt all seiner Institutionen dar, nicht zuletzt der Armee. In seiner Polemik mit Karl Kautsky aus dem Jahre 1918 (also bereits nach dem Sieg der bolschewistischen Revolution) schrieb Lenin Folgendes: „Ohne ´Desorganisation´ der Armee ist noch keine große Revolution ausgekommen…Denn die Armee ist das am meisten verknöcherte Werkzeug, mit dem sich das alte Regime hält, das festeste Bollwerk der bürgerlichen Disziplin“.
Die Erosion der „zweiten“ russischen Demokratie
Im August 1991 wurde die bolschewistische Partei entmachtet, die Russland seit der Oktoberevolution selbstherrlich regierte. Die russischen Demokraten, die von den Bolschewiki im Oktober 1917 auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“ (Trotzki) verwiesen worden waren, kehrten auf die politische Bühne zurück. Der Rückkehr Russlands nach Europa, von der die russischen Demokraten jahrelang geträumt hatten, schien nichts mehr im Wege zu stehen. Dennoch währte dieser Triumph der „zweiten“ russischen Demokratie nicht allzu lang. Die euphorische Stimmung vom August 1991 flaute sehr schnell ab. Denn auf den August folgte der Schock vom Dezember 1991 – die Auflösung der Sowjetunion, die viele imperial gesinnte Kreise Russlands als eine Art Apokalypse erlebt hatten, und dann das Trauma vom Januar 1992 – die wirtschaftliche Schocktherapie, die den Lebensstandard der Bevölkerung beinahe halbierte. Nicht zuletzt deshalb wurde der Begriff „Demokratie“ in den Augen vieler Russen weitgehend diskreditiert. Die demokratischen Werte erlebten jetzt eine ähnliche Erosion wie früher die kommunistischen, schrieb Mitte 1992 der Publizist Leonid Radsichowski. Der Begriff „Demokratie“ werde allmählich zum Schimpfwort. So verwandelte sich das postsowjetische Russland, ähnlich wie seinerzeit die Weimarer Republik, in eine „gekränkte Großmacht“, die nach einer Wiederherstellung der verlorenen Hegemonialpositionen strebte. Ähnlich wie das Zarenreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Russland erneut zum „schwächsten Glied“ der europäischen Ordnung – diesmal der Ordnung, die nach der Beendigung des Kalten Krieges entstanden war.
46% der befragten Russen bezeichneten 1994 den Zerfall der UdSSR als „Katastrophe“ oder „Unglück“. Auch viele demokratisch gesinnte russische Politiker vertraten damals die Meinung, dass die Grenzen der 1991 entstandenen Russischen Föderation nicht endgültig seien, dass der gesamte postsowjetische Raum eine „vitale Interessensphäre“ Russlands sei.
Für die militantesten Vertreter der imperialen Revanche war indes das oben geschilderte Streben nach der Wiederherstellung der alten Größe Russlands ein viel zu bescheidenes Vorhaben. Sie hielten den Sieg des Westens im Kalten Krieg für eine beispiellose Schmach, die sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ungeschehen machen wollten. Ihr Ziel war keineswegs die Wiederherstellung eines Gleichgewichts im Verhältnis zwischen Ost und West, sondern eine gänzliche Bezwingung der westlichen „Globalisten“. Ähnlich wie seinerzeit die Weimarer Rechte dämonisierten sie die mit dem Westen assoziierten Werte. In erster Linie den Liberalismus, den sie als einen tödlichen Feind der gesamten nicht okzidentalen Welt bezeichneten. Nicht anders wurde der Liberalismus von einem der wichtigsten Vertreter der deutschen Konservativen Revolution, Arthur Moeller van den Bruck, im Jahre 1923 definiert.
Mit besonderer Vehemenz vertrat die 1992 vom rechtsgerichteten russischen Publizisten Alexander Dugin gegründete Zeitschrift „Elementy“ all diese Ideen. Die Zeitschrift hielt einen Kompromiss zwischen den liberalen Verfechtern der „mondialistischen“ Ideen und ihren Gegnern für undenkbar. Im Leitartikel des 7. Heftes der Zeitschrift (1996) konnte man Folgendes lesen:
Zwischen ihnen herrscht nur Feindschaft, Hass, brutalster Kampf nach Regeln und ohne Regeln, der Kampf auf Vernichtung, bis zum letzten tropfen Blut…Wer von ihnen wird das letzte Wort haben? Dies wird der Krieg entscheiden, der ´Vater aller Dinge‘.
Diese Auseinandersetzung bezeichnete Dugin an einer anderen Stelle als „Endkampf“ und benutzte diesen Begriff im deutschen Original. Die Hasstiraden Dugins in Bezug auf die westlichen „Globalisten“ erinnern durchaus an Lenins Invektiven in Bezug auf das Welt- bzw. Finanzkapital. Die Bezwingung des „Weltkapitals“ sollte aus der Sicht Lenins eine neue gerechte Weltordnung ohne Kriege und Ausbeutung ermöglichen. Für Dugin stellt die Bezwingung des Westens bzw. des sogenannten „Mondialismus“ die unabdingbare Voraussetzung für die Erschaffung einer patriarchalischen Idylle auf diesem Planeten dar. Den Kampf um die Macht in Russland hielten weder Lenin noch Dugin für einen Selbstzweck. Russland sollte lediglich zum Sprungbrett für die Verwirklichung von Ideen werden, die weit über das spezifisch Russische hinausgingen.
Dugin und Putin
Es gehörte zu den wichtigsten Anliegen Dugins, der, anders als Lenin, über keine „Partei neuen Typs“ verfügte, seine „Endkampfideologie“ an Vertreter des politischen Establishments in Russland zu vermitteln. Insbesondere nach der Errichtung der Putinschen „gelenkten Demokratie“ begannen Dugins extremistische Ideen in einem immer stärkeren Ausmaß den innerrussischen Diskurs zu beeinflussen. Damals verwandelte sich Russland aus dem „schwächsten Glied“ der im ausgehenden 20. Jahrhundert errichteten europäischen Ordnung in ihren radikalen Widersacher. Putins Dämonisierung des Westens, die insbesondere nach seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2007 immer deutlichere Konturen annahm, war durchaus im Sinne Dugins. Ähnliches konnte man auch von der russischen Annexion der Krim im März 2014 sagen, als Putin durch diesen abenteuerlichen Akt die gesamte internationale Ordnung sprengte. Lediglich die Tatsache, dass Putin sich damals nur auf die Krim beschränkte und nicht den gesamten Südosten der Ukraine annektierte, rief Dugins Empörung hervor. Kurz vor der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022 befanden sich aber Dugin und Putin bereits in einem Boot. Unmittelbar nach dem Debakel der NATO in Afghanistan im August 2021 veröffentlichte Dugin eine Schrift, die man als eine Art gedankliche Vorwegnahme des Krieges gegen die Ukraine betrachten kann, und in der er von dem sich anbahnenden „Endkampf der Menschheit gegen den Liberalismus“ sprach. Einen vergleichbaren „Endkampf“, allerdings gegen das „Weltkapital“, hatte Lenin kurz nach der bolschewistischen Machtergreifung in Russland angekündigt. Lenins weltrevolutionäre Pläne sollten bekanntlich ein totales Fiasko erleiden. Nicht anders wird es wahrscheinlich auch dem Duginschen Rachefeldzug gegen den sogenannten „kollektiven Westen“ ergehen. Welcher Preis aber dafür bezahlt werden wird, ist noch offen. Ebenso offen ist die Frage, welche Auswirkung der Sieg Donald Trumps bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen vom November 2024 auf die künftige Position Russlands in der internationalen Ordnung haben wird.
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