Die EM des Meckerns: Ein Nationalhobby
Es gibt Dinge, die gehören einfach zum deutschen Kulturgut: Brotbacken, Bierbrauen und natürlich das unvergleichliche Talent, sich über die eigene Nationalmannschaft zu beschweren. Diese Kunstform, die so tief in unserer DNA verankert ist wie der Hang zum Rasenmähen. Ein Phänomen, das eine eigene Kolumne von Heinrich Schmitz verdient hat.
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Die Wurzeln der Kritik: Historische Perspektive
Um das deutsche Meckern in seiner ganzen Pracht zu verstehen, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. Schon im alten Preußen wurde nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in den Tavernen über die Strategien und Taktiken des Königs gestritten. Diese Tradition hat sich nahtlos in den Fußball übertragen, dem modernen Schlachtfeld der Nation – wenn man mal von den realen Schlachtfeldern absieht. Es ist, als ob die Deutschen über Generationen hinweg einen feinen Sinn für strategische Unvollkommenheiten entwickelt hätten, den sie nun mit Leidenschaft ausleben.
Die deutsche Fußballgeschichte bietet hierfür reichlich Stoff. Vom „Wunder von Bern“ 1954 über die „Schmach von Cordoba“ 1978 bis hin zum „Sommermärchen“ 2006 – jede Ära hatte ihre Höhen und Tiefen, ihre Helden und Sündenböcke. Und immer waren da die Fans, die alles besser wussten, die selbst aus der Bequemlichkeit ihrer Sofas oder der Theke heraus die großen Trainer in den Schatten stellten.
Das Public Viewing: Das kollektive Meckern
Betrachten wir einmal die Szene: Es ist ein lauer Sommerabend, das Public Viewing ist in vollem Gange, und der Himmel ist in Schwarz-Rot-Gold getaucht. Die Mannschaft tritt zum ersten Gruppenspiel der Europameisterschaft an, und es dauert genau fünf Minuten, bis das erste Raunen durch die Reihen geht. Der Ball wird verloren, und schon hört man die ersten Stimmen: „Also, dieser Pass war ja wohl gar nichts!“
Ein wahres Public Viewing, also eine öffentliche Leichenschau , zeichnet sich nicht nur durch das Gemeinschaftsgefühl, sondern vor allem durch die kollektive Expertise aus, die in den Dialogen zum Ausdruck kommt. Hier ein Beispiel: „Warum spielt der Neuer heute ? Hat der Nagelsmann denn nichts gelernt? Mit Ter Stegen wäre das besser.“ Jeder ist plötzlich Bundestrainer, jeder hat die Lösung parat. Man könnte meinen, der DFB würde gut daran tun, seine Scouting-Abteilung direkt ins nächste Biergarten-Event zu verlegen oder das Training und die Mannschaftsaufstellung per KI-gesteuerter Demoskopie durchführen zu lassen.
Es gibt neben den Meckerern auch die prophetischen Meckerer, die bereits jetzt wissen, dass „der Neuer im entscheidenden Spiel dne Ball durchlässt und damit die EM vergeigt“. Wenn er das dann nicht macht, dann war nicht etwa die Vorhersage falsch, sondern irgendein außerhalb des Propheten liegender Zufall hat das Ding gerichtet.
Die hohe Kunst der selektiven Erinnerung
Der geneigte Deutsche braucht nicht lange, um sich in Rage zu reden. Jede verpasste Chance, jeder Fehlpass und natürlich jeder Gegentreffer ist ein gefundenes Fressen für den echten Meckerer. „Was macht der Nagelsmann da an der Seitenlinie? Der hat doch keine Ahnung !“ oder „Früher, da hatten wir noch echte Kämpfer, nicht so Weicheier!“ – Sätze wie diese fliegen schneller durch die Luft als ein perfekt getretener Freistoß von Toni Kroos.
Hier zeigt sich die hohe Kunst der selektiven Erinnerung. „Früher war alles besser“ ist ein Mantra, das vor allem in Fußballkreisen gerne wiederholt wird. Dass auch die „alten Helden“ ihre Fehltritte hatten, wird dabei großzügig übersehen. So wird Jürgen Klinsmann gerne für seine Tore gefeiert, aber seine Coaching-Experimente in Bayern werden dabei schnell vergessen. Die Vergangenheit wird verklärt, die Gegenwart verteufelt – und so wird das Meckern zur nostalgischen Reise in eine vermeintlich bessere Zeit. Ich warne dringend davor, sich die Spiele der alten Heroen noch einmal anzusehen. Würden die heute in der damaligen Form antreten, hätten sie keine Chance.
Der perfekte Nährboden für Kritik: Die Medienlandschaft
In Deutschland gibt es kaum ein Thema, das so umfassend und intensiv medial begleitet wird wie der Fußball. Jede Trainingseinheit, jede Pressekonferenz wird analysiert, jedes Spiel minutiös seziert. Da bleibt kein Fehlpass unbemerkt, kein Taktikfehler unkommentiert. Die Medien schaffen so einen perfekten Nährboden für das nationale Meckern.
Talkshows, in denen Experten und ehemalige Spieler hitzig debattieren, sind fest verankert im deutschen Fernsehprogramm. Formate wie „Doppelpass“ sind nicht nur für ihre fachlichen Analysen bekannt, sondern auch für die leidenschaftlichen Diskussionen, die oft ins Polemische abgleiten. Hier wird der Fan bestätigt, hier erhält er seine Argumente geliefert, die er am nächsten Tag am Arbeitsplatz oder in der Kneipe zum Besten geben kann.
Und auch die KommentatorInnen sind ein steter Quell der Freude für den Meckerer. Es reicht schon, dass der Kommentar von einer Frau gesprochen wird, dass jemand zuviel oder zu wenig kommentiert, dass er einen Namen falsch ausspricht oder einfach nur atmet. Ich glaube in keinem Bereich werden Berichterstatter dermaßen abgekanzelt wie beim Fußball.
Das Meckern als sozialer Kitt
Was wäre ein deutsches Fußballspiel ohne diese endlosen, hitzigen Diskussionen an der Kaffeebud?
Do Jipsjeseech, do Weihnachtsmann
Do wells Ahnung vun Fossball han
Sie sind das Salz in der Suppe, der Knall in der Bockwurst. Die eigentliche Frage ist doch: Wollen wir überhaupt, dass unsere Mannschaft gewinnt? Natürlich nicht! Denn was würde das aus unserem geliebten Mecker- und Kritisier-Ritual machen?
Stellen Sie sich vor, die deutsche Nationalmannschaft würde nun bei der EM jedes Spiel souverän gewinnen. Die Spieler glänzen durch perfekte Technik, unnachahmliche Taktik und eiserne Nerven. Was bliebe uns dann noch? Der Fan, umgeben von jubelnden Mitstreitern, würde plötzlich dastehen und sich fragen: „Ja, worüber sollen wir denn jetzt reden?“ Ein Sieg ist schön, aber ein hart erkämpftes Unentschieden oder gar eine Niederlage – das ist das wahre Elixier, das die deutschen Fußballseelen am Leben hält.
Das begeistert meckernde Publikum hat längst verstanden: Der Weg ist das Ziel. Jede misslungene Flanke, jeder vergeigte Elfmeter ist ein kleiner Sieg für den Kritiker. „Hab ich doch gesagt!“ Die unermüdlichen Analysen am Stammtisch, die taktischen Expertisen vor dem Fernseher – all das schafft eine Gemeinschaft, die weit über das eigentliche Spiel hinausgeht.
Und so lassen wir unsere Helden immer wieder aufs Neue antreten – deshalb heißt der Torwart auch immer wieder Neuer,- in dem Wissen, dass sie uns, unabhängig vom Ausgang des Spiels, ein unerschöpfliches Füllhorn an Gesprächsstoff liefern. Das Meckern ist ein Akt der Liebe, ein Beweis dafür, wie sehr wir uns für unsere Mannschaft interessieren. In diesem Sinne: Auf viele weitere Jahre der gepflegten Nörgelei. Denn nur wer liebt, der meckert.
In einer Gesellschaft, die oft als distanziert und kühl beschrieben wird, wirkt das gemeinsame Meckern wie ein sozialer Kitt. Es ist die perfekte Gelegenheit, um mit Fremden ins Gespräch zu kommen, um Gemeinsamkeiten zu entdecken und sich in der kollektiven Empörung zu vereinen. Wo sonst kann man so ungezwungen und emotional miteinander diskutieren, ohne dass es als unhöflich oder aufdringlich empfunden wird? Gut, das kann auch mal in wüsten Kloppereien enden, aber auch das gehört dazu, wie der Kater am nächsten Tag.
Von der Couch zum Stammtisch: Die evolutionäre Entwicklung des Meckerns
Die evolutionäre Entwicklung des Meckerns beginnt auf der heimischen Couch. Hier wird der erste Kommentar abgegeben, oft noch zaghaft und vorsichtig, um die Reaktion des Partners abzuwarten. „Der Müller, der trifft heute wieder nix“, lautet der erste vorsichtige Vorstoß. Wird dieser wohlwollend aufgenommen, steigert sich der Kritiker in seine Rolle hinein, bis er schließlich zum Experten avanciert, der in hitzigen Diskussionen am Stammtisch seine gesammelten Erkenntnisse zum Besten gibt.
Diese Stammtischrunden sind wahre Brutstätten der Fußball-Weisheit. Hier wird jeder noch so kleine Fehler seziert, jede Trainerentscheidung hinterfragt. Und überhaupt: man kennt die Statistiken, die Spielsysteme und die persönlichen Schwächen der Spieler sowie die Körbchengröße seiner Frau auswendig. Es ist ein Ort, an dem das Meckern zur Wissenschaft erhoben wird, und wo der leidenschaftliche Fan zur lebenden Enzyklopädie des deutschen Fußballs wird.
Der psychologische Aspekt des Meckerns
Doch warum ist das Meckern so tief in uns verankert? Psychologisch betrachtet erfüllt es mehrere Funktionen. Zum einen dient es der Stressbewältigung. Fußball ist ein emotionsgeladener Sport, und das Ventil der Kritik hilft, Frustrationen abzubauen. Zum anderen stärkt das Meckern das eigene Selbstwertgefühl. Indem man die Fehler der Profis aufzeigt, kann man sich selbst in eine überlegene Position versetzen. „Ich hätte das besser gemacht“ oder als Steigerung, „Den hätte meine Oma reingemacht!“, sind Gedanken, die in vielen Köpfen herumschwirren, auch wenn die Realität vermutlich ganz anders aussieht.
Es gibt auch eine soziologische Komponente. In einer Leistungsgesellschaft, in der Perfektion oft als erstrebenswert gilt, bietet der Fußball ein willkommenes Ventil. Hier darf, ja muss, Kritik geübt werden. Das Meckern über die Nationalmannschaft ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sich jeder als Experte fühlen darf, unabhängig von Alter, Beruf oder sozialem Status.
Die internationale Perspektive: Ein Vergleich
Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass das Phänomen des Meckerns nicht rein deutsch ist, aber in seiner Intensität doch einzigartig erscheint. In England wird genauso leidenschaftlich über die Three Lions diskutiert, in Italien werden die Azzurri kritisiert und in Brasilien die Seleção unter die Lupe genommen. Doch nirgends scheint die Kritik so systematisch, so durchdacht und gleichzeitig so emotional vorgetragen zu werden wie in Deutschland.
Vielleicht liegt es an der früher mal sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit, der Akribie, mit der jedes Detail analysiert wird. Vielleicht auch an der langen Geschichte des deutschen Fußballs, die immer wieder Grund zur Freude, aber auch zur Enttäuschung bot. Oder es ist einfach die Freude am gemeinsamen Erlebnis, die Lust daran, zusammen zu meckern und zu motzen, die das deutsche Fußballerlebnis so besonders macht.
Ein Hoch auf das Meckern
Und so lassen wir unsere Helden immer wieder aufs Neue antreten, in dem Wissen, dass sie uns, unabhängig vom Ausgang des Spiels, ein unerschöpfliches Füllhorn an Gesprächsstoff liefern. Das Meckern ist ein Akt der Liebe, ein Beweis dafür, wie sehr wir uns für unsere Mannschaft interessieren. In diesem Sinne: Geht’s raus und schaut’s Fußball.