Täterversteher

In Augsburg stirbt ein Mann auf dem Heimweg vom Weihnachtsmarkt bei einer Auseinandersetzung mit einer Gruppe Jugendlicher nach einem Schlag gegen den Kopf. Die Reaktionen zeigen vor allem eines: Unkenntnis über die Regeln des Rechtsstaats. Die Samstagskolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Niek Verlaan auf Pixabay

Die Kenntnisse der meisten Deutschen über das deutsche Strafrecht, das Ermittlungsverfahren, das materielle Strafrecht, das Strafprozessrecht, die Strafzumessung, das Jugendstrafrecht und dessen Grundsätze stammen aus einem jahrelangen Studium von Krimis. Sonntags, spätestens um 20:20 Uhr, wird jemand ermordet und spätestens um 21:45 Uhr steht der Täter fest. Von der Polizei ermittelt und überführt. Gelegentlich auch erschossen. Egal wie das Filmopfer zu Tode gekommen ist, es ermittelt grundsätzlich eine Mordkommission, und es ist immer ein Mord. Die Tatortuniversität ist die größte juristische Lehranstalt Deutschlands. Und nahezu jede Woche ärgere ich mich über den juristischen Quark, der da verzapft wird. Meine Frau meint dann zwar immer, das solle ich nicht so ernst nehmen, es sei doch nur Unterhaltung, aber wie man sieht, ist es halt mehr und prägt das Bild, das Menschen von der Aufklärung von Straftaten haben.

Dass es auch andere Tötungsdelikte neben dem Mord gibt, ist kaum ins Bewusstsein der Bevölkerung gedrungen. Und dass es mitunter schwierig ist, einen Täter zu ermitteln und nicht immer innerhalb kürzester Zeit ein solcher mit validen Beweisen überführt werden kann, mag sich Monika Mustermann gar nicht vorstellen.

Mord und nur Mord

Auch bei der Tat vom Augsburger Weihnachtsmarkt war schnell die Rede von Mord. Und selbst die Staatsanwaltschaft ließ sich offenbar vom Druck der Öffentlichkeit leiten, als sie Haftbefehle wegen Totschlags, also sozusagen der kleinen Schwester des Mordes, und Beihilfe dazu beim Ermittlungsrichter beantragte und wohl auch bekam.

Dass das vermutlich nicht so ganz mit der Realität übereinstimmt, schien niemanden wirklich zu interessieren. Die Presse machte mit den schönen vier Buchstaben ihre Schlagzeilen. MORD sieht halt viel besser aus als die wesentlich wahrscheinlichere „Körperverletzung mit Todesfolge“. Das ist ja schon viel zu lang. Und auch Mörder klingt knackiger als Körperverletzer oder meinetwegen Schläger.

Es war also begrüßenswert, dass der ungekrönte König der Strafrechtskolumnisten, der ehemalige BGH-Richter Thomas Fischer, in einer Kolumne für den SPIEGEL die Fakten zurechtrückte.

Unter der Überschrift „Ein merkwürdiges Verbrechen“  dröselte Fischer den Fall anhand der bis jetzt bekannten Fakten juristisch korrekt auf und beklagte – zu Recht – dass die öffentliche Behandlung dieses Geschehens ein grelles Schlaglicht auf den Zustand der Gesellschaft wirft.

Ein „Totschlag“ liegt vor, wenn eine Person eine andere Person vorsätzlich tötet (§ 212 StGB). Vorsatz (§ 15 StGB) setzt voraus, dass der Täter die Möglichkeit des Taterfolgs (hier: Tod) erkennt und diesen Erfolg entweder will oder doch zumindest „billigt“, d.h. bewusst in Kauf nimmt. Es reicht also nicht aus, dass der Täter den Erfolgseintritt hätte voraussehen können oder müssen. Das sind vielmehr die Voraussetzungen für so genannte „Fahrlässigkeit“ (§ 15 StGB), und damit Mindestvoraussetzung für jede Strafbarkeit überhaupt: Was man nicht voraussehen und vermeiden kann, dafür kann man auch nicht bestraft werden. Das ergibt sich aus dem Grundgesetz und unterscheidet ein zivilisiertes Strafrecht von einer willkürlich bloßen „Zufalls“-Bestrafung.

Kürzer und präziser kann man das nicht ausdrücken. Da ich hier keine Redundanzen fabrizieren möchte, empfehle ich die Lektüre von Fischers Text und verzichte auf eigene Ausführungen.

Im konkreten Fall bedeutet das, dass es mehr als zweifelhaft sein dürfte, dass der mutmaßliche Täter das Opfer wirklich töten wollte oder auch nur dessen Tod billigend in Kauf genommen hat.

Schlag + Tod = Totschlag?

Es ist eben nicht so simpel, wie mancher sich das vorstellt. Ein Schlag plus ein Tod ergeben eben nicht in der Summe einen Totschlag.

Ein Beispiel: Als ich 16 Jahre alt war, wartete ich auf der Euskirchener Kirmes auf dem Alter Markt am Autoscooter auf ein paar Freunde, mit denen ich zum Chinesen essen gehen wollte. Bei mir stand ein weiterer Freund, und wir unterhielten uns miteinander. Urplötzlich bekam ich von hinten einen Faustschlag an die Schläfe und sackte zu Boden. Einen weiteren Schlag auf die danach gespaltene Lippe hatte ich schon gar nicht mehr gespürt. Mein Freund berichtete, der Angreifer habe geschrien, ich solle die Finger von seiner Schwester lassen. Okay, die kannte ich sowenig wie den Schläger. Ich ging also zunächst einmal zur Polizei, die eine Anzeige wegen einfacher Körperverletzung aufnahm, wusch mir danach das Blut aus dem Gesicht und ging dann mit blutigem Hemd zum Chinesen essen. Keine Schlagzeile, keine Pressekonferenz. Eine ganz normale Körperverletzung auf einem Volksfest. Wie Fischer recherchiert hat: eine von 550.000 Körperverletzungen jährlich. Und bei diesen 550.000 Körperverletzungen, die sämtlich ohne eine Tötungsabsicht erfolgen, weil der Täter das Opfer gar nicht töten, sondern ihm „nur“ weh tun will, kommt es in rund 80 Fällen pro Jahr zu einem unbeabsichtigten Todesfall. Das ist dann im Einzelfall für den Betroffenen und seine Familie tragisch, aber es ist kein Grund, den Untergang des Abendlandes auszurufen.

Staatsangehörigkeit egal

Ja, aber der mutmaßliche Täter hat doch eine dreifache Staatsangehörigkeit, schallt es aus der Ecke der besorgten Kritiker der Zuwanderung. Was allerdings die Frage der Staatsangehörigkeit mit der rechtlichen Einordnung einer Tat zu tun hat, weiß der Geier. Ich weiß es jedenfalls nicht. Ich kenne keine Vorschrift im StGB, in der drinstehen würde,

wird die Tat durch einen Doppelstaatler begangen, wird eine Körperverletzung als Angriff auf den Volkskörper angesehen und ist damit grundsätzlich als Mord zu bestrafen.

Kaum war Fischers Kolumne online, hagelte es schon bösartige Kommentare. Fischer sei – genauso wie ich – ein Täterversteher. Das war vermutlich als abwertende Bezeichnung gemeint. Dabei wäre es ja gar nicht verkehrt, wenn man im Rahmen der Aufklärung einer Straftat versucht, den Täter zu verstehen. Das bedeutet doch nicht, dass man damit seine Tat billigt. Aber die Suche nach dem Motiv für eine Tat ist schon deshalb sinnvoll, weil das Motiv auch bei der Strafzumessung eine Rolle spielen kann. Einen Täter verstehen bedeutet ihn besser beurteilen und damit gerechter verurteilen zu können. Und Täter allgemein zu verstehen, versucht man auch innerhalb der Kriminologie, um Strategien zu entwickeln, Taten künftig zu verhindern.

Kuscheljustiz

Der nächste Vorwurf an die Justiz, der laut wurde, bezog sich auf die zu erwartende Strafe. Forderungen nach lebenslang wurden laut, um gleich im Anschluss festzustellen, dass unsere Kuscheljustiz „den ja doch wieder nur in Watte packt und schnell wieder rauslässt“. Ja nun, der mutmaßliche Täter ist 17 Jahre alt und damit Jugendlicher. Für ihn gilt ohne Wenn und Aber das Jugendstrafrecht, d.h. eine lebenslange Strafe ist gar nicht möglich. Was möglich wäre, ist allerdings eine Jugendstrafe. Wie lang die nun sein wird, und ob die gegebenenfalls zur Bewährung ausgesetzt werden kann oder muss, entscheidet ein Jugendgericht und weder die BILD noch der Facebook-Gerichtshof. Ob die eilfertig erlassenen Haftbefehle wegen des Verdachts des Totschlags das Weihnachtslicht noch erblicken werden, ist eher unwahrscheinlich.

Statt Thomas Fischer mit Hass und Hetze zu überziehen, könnte man ihm einfach mal dafür danken, dass er immer wieder juristisch  ganz präzise erläutert, was aus seiner Sicht alles so schief läuft. Gut, es mag sein, dass sein triefender Sarkasmus und seine unüberlesbare Arroganz juristischen Laien gegenüber eher verhindert, dass diese seine Worte zur Kenntnis nehmen. Das ändert aber nichts daran, dass er kein Wort von dem, was er schreibt, zurücknehmen müsste. Ich mag seinen Stil, womöglich weil mir die inhaltliche Komponente seiner Texte eh klar ist. Vielleicht sollte er aber einmal zur Kenntnis nehmen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht Jura studiert hat und auch die wenigsten nur einmal einen Rechtskundekurs besucht haben. Dafür können die Menschen nichts, und diese Unwissenheit ist kein Grund, ihnen mit Herablassung zu begegnen. Dass viele sich aber für juristische Themen durchaus interessieren und sich auch darüber freuen, wenn ihnen die von kompetenter Seite in einfachen Worten erklärt werden. Das mag dann für die Juristen nicht ganz so vergnüglich sein, wie Fischers geile Schreibe, aber es könnte eventuell dazu beitragen, das Unverständnis von den Regeln unseres Strafrechts ein wenig abzumildern. Den Laien auf Augenhöhe zu begegnen und ihre Einwände ruhig und mit viel Geduld zu entkräften könnte weiter führen. Gleichwohl möchte ich Fischers Texte nicht missen. Die sprechen mir aus dem finsteren Teil meines Herzens.

Übrigens, das Wort Täterversteher nehme ich als Kompliment.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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