Geht’s raus und spielt’s Fußball!

Zu viel Masterplan tötet die Kreativität. Das deutsche Spiel benötigt dringend mehr Individualisten und Querdenker, fordert Kolumnist Henning Hirsch nach dem gestrigen Match gegen Schweden


Als ich schon die CD mit dem Requiem rausgesucht hatte und auf „play“ klicken wollte, erwachte Toni Kroos endlich aus seiner Frühsommerlethargie und schlenzte den Schweden das Ding mit feinem Kunstschuss oben in den rechten Winkel. Die biederen skandinavischen Handwerker, die unserer Elf das (Über-) Leben wirklich schwer gemacht hatten, blickten erst erstaunt hinter sich und dann bedröppelt auf den Rasen. Ich ließ das Requiem Requiem sein, riss beide Arme hoch und brach in Jubel aus. »Nun wird alles gut«, riefen wir aus fünfzig Kehlen. »Die Mannschaft ist im Turnier angekommen.« Aber: Ist das wirklich so, oder drohen jetzt ständige Zitterpartien bis zum frühzeitigen Ausscheiden im Achtel- oder Viertelfinale? In Abhängigkeit vom Ergebnis Mexiko-Schweden sei für Deutschland von Platz 1 bis 3 in Gruppe F noch alles drin. Sollten wir Erster werden, entgehen wir im AF den bärenstarken Brasilianern. Es sei denn, die werden Zweiter in ihrer Gruppe. In diesem Fall würden wir wieder auf sie treffen. Behauptet mein Kumpel Jupp, der sich seit Tagen mit der WM und den damit verbundenen Rechenspielen intensiv beschäftigt. Ich tue das nicht, weil ich denke: das nächste Match ist immer das schwerste, und da es eh ständig anders kommt, als man die Ergebnisse vorher kalkuliert hat. Ich vertraue eher meinem Bauchgefühl, das mich zwar auch oft täuscht; aber zumindest muss ich mich nicht mit all den komplizierten Tabellen und Überkreuzwahrscheinlichkeiten auseinandersetzen.

1982 startete ebenfalls grauenvoll

Grottige Vorrunden, nach deren haarscharfem Überstehen das deutsche Team noch sehr weit im Turnier kam, gab’s schon. Ich erinnere mich an die WM 82 in Spanien mit diesen Ergebnissen: Auftaktmatch gegen Algerien 1 zu 2 verloren, darauf folgte ein 4-1-Sieg gegen Chile und im Anschluss das abgekartete Spiel gegen Österreich, das nach früher 1-0-Führung für Deutschland für die restlichen 80 Minuten aus zweikampflosem Rasenschachgeplänkel bestand. Auch in der zweiten Runde wurde es mit 0-0- (England) und 2-1 (Spanien) – Langweilern nicht unbedingt besser. Unvergessen die Kickbox-Einlage Toni Schumachers gegen Frankreichs Patrick Battiston im HF, das die Deutschen knapp im Elfmeter-Showdown für sich entschieden. Endstation erst im Finale, als unseren Kickern eine 1-zu-3-Klatsche von den Italienern verabreicht wurde. »Tu sei Tedesco? …. Rossi, Tardelli, Altobelli«, durfte ich mir in den darauffolgenden Jahren in meinen Sommerurlauben an den Stränden Riminis und Forte dei Marmis ungezählte Male anhören. Dieser Dreiklang hat sich mir für die Ewigkeit ins Gedächtnis eingebrannt.

Gary Lineker und der verlorengegangene Respekt vor deutschen Teams

Besteht also Hoffnung, dass auch die 2018er-Mannschaft nun durch den restlichen Wettbewerb marschieren wird? Dabei gemäß der Devise Gary Linekers handelnd: Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer stehen auf dem Feld und jagen einem Ball nach. Und am Ende gewinnt Deutschland. Mal abgesehen davon, dass diese Regel schon früher nicht immer zutraf, jede Menge Ausnahmen kannte – ich erinnere mich an das verlorene Finale 86 gegen Argentinien mit dem damals fulminant dirigierenden Maradona –, frage ich mich bereits seit geraumer Zeit, ob den Jungs eventuell die früheren Kardinaltugenden Siegeswille, Kampf und Effizienz abhandengekommen sind. Deutsche Mannschaften spielten häufig nicht schön, mitunter war es grausam, sich das Gebolze 90 Minuten lang anzuschauen, aber sie fighteten bis zum Umfallen, was man der Schmutzkruste ihrer Trikots und Hosen dann auch ansah. Heute hingegen habe ich oft den Eindruck, dass die Wäsche nach dem Schlusspfiff noch genauso sauber aussieht wie beim Münzwurf. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Im Alter lässt die Sehschärfe nach.

Zu viel Analyse tötet das Spiel

Die NM hinterlässt bisher einen phlegmatischen Eindruck. Jeder kennt seinen Quadranten, hat vom Trainerstab einen Masterplan in die Hand gedrückt bekommen, die Spielzüge wurden vorher tausendfach einstudiert, exakte Videoanalysen jedes Gegners, stündliche Kontrolle der Laktatwerte. Ernährungsexperten, Psychologen, Physiotherapeuten, Personal Coaches alle mit dabei im Riesentross des DFB. Logiert wird nicht mehr in ordinären Trainingslagern wie weiland 1974 in Malente, sondern in 5-Sterne-Tempeln mit vorher ausgesuchten Spitzenköchen. Mancher Feldzug der Antike war weniger minutiös vorbereitet als die Reise der deutschen Mannschaft zu einem Turnier. Und trotz all dieses Heidenaufwands wirken viele Spieler uninspiriert bis hin zu konzeptlos. Wobei: Konzept wurde ihnen ja schon eins eingetrichtert. Bloß ob dieses Konzept immer hinhaut – darüber scheint sich vorher niemand ernsthafte Gedanken zu machen. Heikel wird es nämlich immer dann, sobald sich das andere Team nicht an die ihm theoretisch zugewiesene Rolle hält: Hoch- und nicht tiefsteht, angreift statt verteidigt (oder umgekehrt), 4-4-2 statt 4-3-3 befolgt, oder was sonst noch alles für Abweichungen möglich sind; sich also einen Dreck um den deutschen Masterplan schert. In diesen Fällen – die sich aus meiner laienhaften Beobachtung heraus mittlerweile häufen – weiß auf dem Platz niemand mehr, wie er mit der neuen Situation umgehen soll. Plan A ist sakrosankt, weshalb es Plan B nicht gibt, und den Akteuren, die allesamt seit früher Jugend in DFB-Nachwuchszentren geschult und schablonisiert wurden, fehlt der Instinkt des Straßenkickers. Der es von klein auf gewohnt ist, dass der Gegner prinzipiell das tut, was keiner der schlauen Analysten vorhergesehen hat, die Ärmel hochkrempelt, auf den unnützen Masterplan pfeift und das macht, was Franz Beckenbauer von seinen Teams forderte: »Geht’s raus und spielt‘s Fußball!« Die gemäß dieser simplen Vorgabe erzielte Erfolgsstatistik des Kaisers war nicht schlecht: 1x Vizeweltmeister 86, HF EM 88, Weltmeister 1990. Und das alles ohne Laptop und Sportprofessoren, die die Laufwege und den Kalorienverbrauch der Spieler aufs Komma genau ausrechnen.

Deshalb mein Wunsch: weniger Mastergedöns und stromlinienförmige Akteure, mehr individuelle Typen, die sich nicht scheuen, vom Plan abzuweichen und, sobald es Spitz auf Knopf steht, die Ärmel hochkrempeln, die lethargischen Kollegen anschreien und am Ende in dreckverschmierten Klamotten das Feld verlassen.

Bei Reus mache ich mir Hoffnung, dass er die Rolle des Antreibers einnehmen wird. Der Mann wirkt 90 Minuten lang hochmotiviert, was ich bisher von Kroos, Müller, Gündogan, Khedira und Özil nicht behaupten kann.

Wo ist der neue Schweinsteiger?

Nach dem glücklichen Ende der gestrigen Partie fachsimpelte ich noch eine halbe Stunde mit dem Mann neben mir – der ein Schweinsteigertrikot trug, weil er irrtümlich annahm, dass der Münchner immer noch mit dabei ist – über die guten alten Zeiten ohne Masterplan. Ich überlege, in welcher Umzugskiste ich meinen 1974 erworbenen Wolfgang-Overath-Dress verstaut habe. Falls ich in dieses Shirt vierzig Jahre später überhaupt noch reinpasse.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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