Wollen wir eine Kampagnendemokratie?

Der Bürgerentscheid zur Abschaltung des Münchner Kohlekraftwerks ist ein Paradebeispiel, wie die „Union in der Mitte“ funktioniert. Erst macht man sich wünschenswerte Ziele zu eigen, bei Abstimmungen wird aus Angst vor Niederlagen alles offengehalten und zum Schluss treiben einen Aktivisten vor sich her, gegen deren moralische Drohkulisse niemand mehr ankommt.


München soll raus aus der Kohle

Robert Brannenkämper, Landtagsabegordneter der CSU aus dem Münchner Stadtteil Bogenhausen, sagt „JA“ zur Abschaltung des mit Steinkohle betriebenen Blocks des Heizkraftwerks Nord innerhalb von fünf Jahren. Das ist einerseits bemerkenswert, insofern die Initiative für den Bürgerentscheid aus den Reihen der Grünen mit breiter Unterstützung der einschlägigen Umweltverbände kommt. Daher hatte sich zwar der CSU-Bezirksverband in einem Rundschreiben an die Mitglieder in deutlichen Worten gegen eine Abschaltung positioniert: „Der grünen Ideologie darf nicht alles andere untergeordnet werden.“ Auch die SPD ist dagegen. In der breiten Öffentlichkeit haben sich die Parteien allerdings eher ruhig verhalten.

In Anbetracht dieser Zurückhaltung ist Brannenkämpers Position andererseits nichts Besonderes. Schließlich ist es ja durchaus kein Novum, dass sich auch christsoziale Politiker zu ökologischer Nachhaltigkeit bekennen, wozu schlechterdings wohl auch der Ausstieg aus der Steinkohle gehört. Und so wirbt der CSU-Landespolitiker in einem Facebook-Video mit den schmissigen Begründungen der Initiatoren: Das Kraftwerk stoße mehr CO2 als der gesamte Münchner Straßenverkehr aus und in den Emissionen befänden sich auch eine Menge giftiger Schadstoffe wie Quecksilber.

Gehetzte Demokratie

Bei einer derart unkritischen Aneignung von Positionen darf man, ökologische Nachhaltigkeit hin oder her, nun doch stutzig werden. Kohle ist schädlich für das Klima und giftig für den Menschen. Das ist bekannt und durchaus nicht neu. Aus Gründen wie diesen ist die Energiewende in Deutschland beschlossene Sache, weshalb die Stadtwerke München inzwischen durchaus als grüner Musterbetrieb eines nachhaltigen, regionalen und insgesamt modernen Energieversorgers durchgehen dürften. Dementsprechend ist längst geplant, den Kohleblock des Kraftwerks 2028 außer Betrieb zu nehmen. Brannenkämper und den grünen Umweltaktivisten kann es aber nicht schnell genug gehen. Für sie muss es vier Jahre früher sein, koste es, was es wolle.

Nun braucht man Vertretern privatwirtschaftlicher Interessen nicht jede Kostenkalkulation abnehmen, die Stadtwerke München geben zwischen 140 und 320 Millionen an. Aber dass eine Abschaltung Verluste mit sich bringt, die auch die Landeshauptstadt München als Eigentümerin und somit die Bürgerinnen und Bürger treffen, dürfte von sich aus einleuchten. Jedenfalls wäre diese Frage ein hervorragendes Betätigungsfeld einer Politik der Mitte, nämlich Kosten und Nutzen einer solchen Aktion zu evaluieren und die Bürger sachgerecht zu informieren – und erst danach Partei zu ergreifen. Dann würde deutlich, dass es bei der Abstimmung darum geht, einen, wie man so sagt, ohnehin schon „katholischen“ Energieversoger „noch katholischer“ zu machen.

Lähmende Angst vor Niederlagen

Dafür ist es aber zu spät, denn die grünen Aktivisten haben die Agenda längst an sich gerissen und eine moralische Drohkulisse aufgebaut, der man sich als Politiker kaum mehr schadlos erwehren kann. Gerade die CSU hat, was das angeht, so ihre Erfahrungen mit Bürgerentscheiden gemacht, sei es bei den Rauchverboten in Wirtshäusern, beim Transrapid, der Winterolympiade in Garmisch-Partenkirchen oder dem Ausbau der dritten Startbahn des Flughafens Franz-Josef-Strauß. Alles endete mit mehr oder weniger empfindlichen Schlappen. Also kämpft niemand, der noch ganz bei Trost ist, mit allzu offenem Visier gegen die Wünsche einer bewundernswert schlagkräftigen und mobilisierungsstarken Kampagnenmaschinerie wie der des Bündnisses „Raus aus der Steinkohle“.

Sich nicht angreifbar zu machen, indem man den politisch aktiveren Gegner in die Mitte zieht, um ihn dort ins Leere laufen zu lassen, ist deshalb in den Unionsparteien zur Räson geworden. Der sozusagen populistische Gegenaktivismus, der sich mit einem „linksgrünen Gutmenschentum“ anlegt, wurde den rechten Schmuddelkindern aus dem Umfeld der AfD überlassen. Das ist parteipolitisch gesehen keine unkluge Taktik, denn die unionsgeführten Mitte-Links-Regierungen erfreuen sich in der Bevölkerung nach wie vor einer hinreichend breiten Unterstützung.

Die Mitte wird erpressbar

Auch wenn also das Modell bestehend aus CDU und CSU als Regierungsparteien in der Zentrale mit wechselnden progressiv, liberal oder auch links ausgerichteten Koalitionspartnern Perspektive haben sollte, gibt es noch eine Kehrseite. Denn die Union, und mit ihr – zumindest in der genannten Mitte-Links-Konstellation – die Regierung, macht sich auf zweifache Weise erpressbar: Erstens im Falle selbst aktivistisch agierender Koalitionspartner, deren Positionen sie zumindest im Grundsatz übernehmen muss, um sich nicht angreifbar zu machen. Zweitens gegenüber den Reaktionen alternativer, zumeist rechtspopulistischer Protestbewegungen, von denen es sich um jeden Preis zu distanzieren gilt.

Wer das zu Ende denkt, wird sich fragen müssen, ob die Bundesrepublik zu einer Kampagnendemokratie werden soll, eingeklemmt zwischen breiten Bündnissen aus dem zumeist grünen Milieu und einer rechten Gegenöffentlichkeit. Wenn in diesem Zwischenraum programmatisch beliebige Kompromisse geschlossen werden, die kaum noch parteipolitisches Profil erkennen lassen, ist oftmals von der Verantwortung für das Land die Rede. In den Bereich dieser Verantwortung gehören allerdings auch die mit der Beliebigkeit und letztlich auch Erpressbarkeit einer „Union in der Mitte“ einhergehenden Nebeneffekte für die politische Kultur der Republik und die demokratischen Bindungskräfte der Volksparteien. So sehr das rechte Maß eine Tugend der Union sein mag, die christliche, liberale und konservative Politikansätze verbindet, wenn sie zügellos wird, führt sie in die Beliebigkeit mit einer hässlichen populistischen Kehrseite.

Philipp Mauch

Philipp Mauch ist von Berufs wegen Stratege für Regulierungsmanagement in der Konsumgüterindustrie. Als Stipendiat der Hanns-Seidel-Stiftung hat er über Nietzsche promoviert – eine Kombination, die er als Ausweis seines liberal-konservativen Nonkonformismus verstanden wissen möchte. In seinem Blog „Variationen der Alternativlosigkeit“ grübelt er über Deutschlands politische Kultur.

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