Gerichtsshow ohne Cliffhanger

Im interaktiven Fernsehen werden die Zuschauer zu Richtern. Eine Chance zur Meinungsbildung, oder ein Risiko?


In Österreich hat der Privatsender Puls-4 ein neues Sendungsformat erfunden: In einer Art Gerichtsverhandlung streiten Befürworter und Gegner einer gesellschaftlich relevanten Position miteinander, es gibt Anwälte beider Seiten, Zeugen, Sachverständige, Kreuzverhöre und natürlich eine Richterin, in diesem Falle sogar eine „richtige“ – nämlich eine ehemalige OGH-Richterin. Und es gibt ein „Schöffengericht“ das aus den Zuschauern besteht. Im Falle der österreichischen Sendung sind das 500 repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger.

In der Tradition von „Terror“

Na gut, die Österreicher haben’s nicht erfunden. Die Sache kommt uns aus der Fernseh-Inszenierung Terror nach dem Bühnenstück von Ferdinand von Schirach bekannt vor, die im Oktober des vergangenen Jahres im deutschen und im österreichischen Fernsehen lief. Puls-4 macht daraus nun ein Dauer-Format: Einmal im Monat soll eine Frage von gesellschaftlicher Bedeutung „vom Volk“ entschieden werden. Bei der ersten Sendung ging es ums Kopftuchverbot und – Überraschung – 80% der repräsentativ ausgewählten Menschen hat fürs Verbot gestimmt. Vorausgegangen war dieser Abstimmung zwar keine Beratung des Gerichts, aber immerhin eine umfangreiche Präsentation und Diskussion der Für- und Gegenargumente.

Diskutiert haben, wie gesagt, nicht die Schöffen, sondern nur die Anwälte, Experten, Gutachter und Zeugen. Die Schöffen sollten sich das alles nur anhören und dann entscheiden. Man weiß, dass selbst in amerikanischen Gerichtsfilmen den Schöffen Zeit zum Nachdenken, Abwägen und diskutieren bleibt. Hier ist es anders, und genau das ist das Problem.
Vergleichen wir die Inszenierung von Terror mit der österreichischen Gerichtsshow. Wer Terror im Theater gesehen hat, weiß: Nach der eigentlichen Verhandlung, nach den Plädoyers, gibt es eine Pause, ca. 20 min, wie es im Theater üblich ist. Die Zeit ist kurz, zu kurz für eine ausführliche Diskussion, aber immerhin, man spricht, man wägt, man grübelt. Leute, die zusammen gekommen sind, rekapitulieren gemeinsam die Argumente, manchmal spricht man auch mit Fremden. Am Ende musste man sich entscheiden, sonst kam man nicht zurück in den Zuschauerraum. Alle Zuschauer, die da waren, haben also ihre Stimme abgegeben.

Es fällt auf, dass die Quote der Zuschauer, die für einen Freispruch stimmt, fast unabhängig vom Ort der Inszenierung ist. Offenbar spielt es fast keine Rolle, wie die Regisseure und Ensembles das Stück umsetzen, ob sie eher „auf Freispruch spielen“ oder nicht. Das deutet schon darauf hin, dass die Zuschauer durch das, was sie während des Theaterabends sehen und erleben, in ihrem Urteil gar nicht beeinflusst werden. Sie kommen mit einer Meinung ins Theater, finden sich mehr oder minder bestätigt, und stimmen dieser Meinung entsprechend ab. Selbst wenn sie durch das Stück ins Grübeln kommen, reicht die Pause nicht, um die vorher gefasste Meinung „über Bord zu werfen“.

Bei der Fernseh-Inszenierung im Oktober hatten die Zuschauer gar keine Zeit zum Nachdenken. Hier musste man schnell entscheiden, quasi sofort. Wer die Pause nicht optimal fürs Anrufen nutzte, hatte kaum eine Chance, durchzukommen. Die meisten, vor allem diejenigen, die durch die Sendung verunsichert waren, die zum Nachdenken neigen, werden nicht abgestimmt haben. Man darf deshalb die hohe Freispruchquote auch nicht überbewerten. Sie liegt interessanterweise deutlich über der Quote in den Theatern. Man kann annehmen, dass viele, die im Theater schwankend-spontan entschieden haben, vorm Fernseher eben gar nicht zum Telefon gegriffen haben.

Bei der neuen Sendung aus Österreich entscheiden wenigstens nicht diejenigen, die selbstsicher schnell zum Telefon greifen. Das „Österreich-Panel“ entscheidet komplett, wenn auch jeder für sich, ohne langes Nachdenken und ohne Diskussion. Die Situation ähnelt also eher der im Theater.

Dem ganzen Konzept liegt die Idee eines Menschen zugrunde, der vorurteilsfrei verschiedene Standpunkte anhört, abwägt, und dann danach entscheidet, welche Argumente ihm am meisten eingeleuchtet haben. Menschen seien, so meint man dann, dazu in der Lage, Argumente zu verstehen, zu bewerten, abzuwägen, und daraus plausible Urteile abzuleiten. Aber niemand ändert auf der Basis von Worten und Widerworten seine Meinung innerhalb von Minuten. Gerade wenn uns das neu Gehörte verwirrt oder sogar zum Nachdenken bringt, greifen wir, wenn man uns zur Entscheidung drängt, auf unsere Vor-Urteile zurück.

Nicht drängeln, bitte

Den Fehler machen wir auch im Alltag immer wieder: Wir diskutieren mit jemandem, präsentieren ihm Fakten und Argumente, ziehen wohl-durchdachte Schlussfolgerungen – und wundern uns, dass der andere uns trotzdem nicht zustimmen will, dass er auf seiner Meinung beharrt. Viel klüger wäre es, dem anderen Zeit zu geben, am Ende ein kühles kühlendes Bier zusammen zu trinken – und nach ein paar Tagen oder Wochen wieder mal das Gespräch auf die Sache zu bringen. Nach ein paar Wiederholungen dieses Vorgangs wundert man sich, dass der andere, oder man selbst, plötzlich seine Ansicht geändert hat.

Im Falle der Gerichts-Fernsehsendungen ist die schnelle Abstimmung aber fatal. Denn alle irritierenden Argumente, die mich vielleicht nachdenklich machen könnten, werden vom klaren Abstimmungsergebnis überlagert. Plötzlich zählt nicht mehr, was die eine oder die andere Seite als Argument vorgetragen hat, sondern was die Mehrheit sagt. Man fühlt sich bestätigt oder vor den Kopf gestoßen vom Urteil der Masse. Weiteres Nachdenken wird dadurch nicht befördert, sondern verhindert.

Es fehlt ein Cliffhanger

Wenn ich mir eine Änderung des Sendungskonzepts wünschen dürfte, ginge die so: Die 500 Schöffen des Österreich-Panels dürfen sofort ihre Stimme abgeben, aber das „Urteil“ wird nicht veröffentlicht. Niemand erfährt, wer, wie abgestimmt hat. Dann beteiligen sich alle Schöffen bis zum Tag vor der nächsten Sendung an einer Online-Diskussion, und einmal pro Woche kann jeder erneut sein Urteil treffen. Zu Beginn der nächsten Sendung wird dann präsentiert, wie sich die Meinungen verändert haben. Schon der Trend würde viel aussagen: Wenn Nachdenken und Diskutieren zum Meinungswandel führt, dann kann die Minderheitsmeinung, auch wenn sie nicht zur Mehrheitsmeinung wird, doch vielleicht einiges für sich haben. Das gäbe weiteren Stoff zum Nachdenken, das Ergebnis ist kein Schlusspunkt, sondern der Beginn eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses.
Aber das ist vielleicht von einem Privatsender etwas viel verlangt. Wobei so ein Cliffhanger ja durchaus etwas für sich hat.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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