„Rückzugsgefechte“? Europäische Demokratien nach der Versailler Konferenz und nach der „Zeitenwende“ im Vergleich

Vieles deutet darauf hin, dass die USA demnächst auf ihre Rolle als globaler Ordnungsfaktor verzichten könnten. Wiederholt sich die Geschichte?


Das Ende der Geschichte?

Vor rund 35 Jahren feierten die Europäer das Ende des 1914 bzw. 1917 begonnenen „kurzen“ 20. Jahrhunderts – des Jahrhunderts der „Extreme“ und der totalitären Versuchungen. Die Verfechter der Freiheit schienen die Feinde der „offenen Gesellschaften“ endgültig bezwungen zu haben. In der „Charta von Paris“ vom November 1990, die der neuen europäischen Ordnung zugrunde lag, konnte man folgende Sätze lesen:

Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen … Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken…Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht.

Der „letzte Krieg“?

Dieser Traum vom Ende der bisherigen Geschichte, die auf Gewalt und Unterdrückung basierte, erinnert an vergleichbare Träume, die viele Europäer kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erfasst hatten.  Voller Hoffnung blickte man auf den damals entstandenen Völkerbund, dessen zentrale Aufgabe darin bestand, eine Wiederholung solcher Katastrophen wie der von 1914-18 zu verhindern. Der Eintritt in eine neue Ära der friedlichen Regelungen von internationalen Konflikten schien damals nicht zuletzt deshalb möglich zu sein, weil es sich bei den Gründern des Völkerbundes in ihrer Mehrheit um demokratische Staaten handelte. Man ging davon aus, dass die Demokratien friedliebender als autoritäre Regime seien, denn die letzteren neigten dazu, ihre unterdrückten Untertanen durch abenteuerliche Außenpolitik von den innenpolitischen Konflikten abzulenken. Die Tatsache, dass es sich bei den Verlierern des Ersten Weltkrieges um autoritär regierte Staaten und bei den Siegermächten in der Regel um parlamentarische Demokratien handelte, trug stark zu einem europaweiten Siegeszug des demokratischen Gedankens bei. Sowohl in den besiegten Staaten als auch in den Nachfolgestaaten der zusammengebrochenen multinationalen Imperien Mittel- und Osteuropas wurden in der Regel demokratische Systeme errichtet. Der demokratische Triumphalismus von 1918/1919 ähnelte, wie bereits gesagt, demjenigen von 1989/90, als Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ sprach. Dies war die Atmosphäre, in der der Völkerbund entstand.

Die Brüchigkeit der Versailler Ordnung

Dennoch drohten der 1918–1920 entstandenen Nachkriegsordnung von Anfang an unabsehbare Gefahren. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Russland und Deutschland – die potentiell stärksten Mächte des europäischen Kontinents – sich nicht an der Gestaltung dieser Ordnung beteiligen durften und deren unversöhnliche Gegner wurden. Sowjetrussland wurde nach Versailles nicht einmal eingeladen. Die deutsche Delegation luden die Siegermächte nach Versailles nur dazu ein, um ihr die bereits beschlossenen Friedenbedingungen mitzuteilen.

Einen zusätzlichen empfindlichen Schlag erhielt die Nachkriegsordnung dadurch, dass der amerikanische Präsident Woodrow Wilson –   ihr eigentlicher Urheber – die politische Elite seines Landes nicht überzeugen konnte, diese Ordnung zu garantieren. Der amerikanische Senat weigerte sich, den Versailler Vertrag zu ratifizieren. Die Verfechter des amerikanischen Isolationismus setzten sich durch, die USA (damals bereits die mächtigste Demokratie der Welt) überließen Europa seinem Schicksal.

Die immer schärfer werdende europäische Nachkriegskrise, die 1923, während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung ihren Höhepunkt erreichte, war nicht zuletzt durch dieses Desinteresse der USA an den europäischen Angelegenheiten mitbedingt. Die „erste deutsche Demokratie“ (Weimar) stand damals, unter anderem wegen der beispiellosen Inflation, am Rande eines Zusammenbruchs. Der Chronist des Weimarer Staates Arthur Rosenberg sagt, dass Ende 1923 kein kritischer Beobachter fünf Mark auf das weitere Bestehen der Weimarer Republik gewettet hätte. Im Frühling sei indes der militärische Ausnahmezustand klanglos aufgehoben worden, die Währung sei stabil geblieben, und ohne viel Aufsehen und Kämpfe sei plötzlich die Demokratie wieder akzeptiert worden. Dieses Wunder sei durch die New Yorker Börse erreicht worden.

Im Oktober 1929 gingen aber die 1924 begonnenen „goldenen Zwanziger Jahre“ jäh zu Ende. Und dieses Ende wurde bekanntlich, ähnlich wie ihr Beginn, durch die Entwicklungen an der New Yorker Börse entschieden. Der Börsenkrach vom Oktober 1929 läutete den Beginn der Weltwirtschaftskrise ein, was zu einer erneuten Abwendung der Amerikaner von Europa führte. Nun blieben die Europäer, ähnlich wie 1919/1920, als die USA sich weigerten, dem Völkerbund beizutreten und den Versailler Vertrag zu ratifizieren, wieder unter sich.

Parallel zur Wirtschaftskrise fand in Europa auch eine beispiellose Erosion der demokratischen Werte statt. Ein besonders spektakuläres Indiz für die damalige Identitätskrise der westlichen Demokratien stellte ihre mangelnde Bereitschaft dar, die rechtsextremen Diktaturen in ihre Schranken zu weisen, was diesen erlaubte, einen aggressiven Akt nach dem anderen zu begehen. Die Willenslähmung der westlichen Demokratien stachelte Hitler nur dazu an, seine Eroberungspläne immer maßloser zu gestalten. So stand die europäische Nachkriegsordnung zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung am Rande ihres gänzlichen Scheiterns.

Die Truman-Doktrin und der Paradigmenwechsel der amerikanischen Außenpolitik

Nach der Bezwingung des Dritten Reiches durch die Anti-Hitlerkoalition bestand in den USA durchaus die Tendenz, sich aus den europäischen Entwicklungen, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, zurückzuziehen. Die im März 1947 verkündete Truman-Doktrin, die den vom Totalitarismus bedrohten Staaten amerikanische Hilfe versprach, besiegelte indes die Präsenz der USA auf dem europäischen Kontinent. So unterschied sich die europäische Ordnung, die nach 1945 entstand, grundlegend von der brüchigen und instabilen Ordnung der Zwischenkriegszeit. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ihr das gesamte machtpolitische und wirtschaftliche Potential der USA zur Verfügung stand.

Transatlantische Beziehungen nach 1989

Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ schien der amerikanische Schutzschild nicht mehr erforderlich zu sein, um europäische Sicherheitsstrukturen zu stabilisieren. Die zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Europäer begannen sich in einem immer stärkeren Ausmaß vor allem mit sich selbst zu beschäftigen – so mit der Vertiefung der europäischen Integration –, bis der 1991 ausgebrochene Krieg in Jugoslawien zeigte, wie stark die Sicherheitsstruktur des Kontinents von der Aufrechterhaltung der transatlantischen Bindungen abhing. Umso offensichtlicher wurde diese Abhängigkeit nach der russischen Annexion der Krim im März 2014, vor allem aber nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022.

Putins neoimperiale Wende

Droht sich nun die Konstellation der Zwischenkriegszeit in Europa zu wiederholen?  Die größte Gefahr für die europäische Ordnung der Zwischenkriegszeit hatten die auf eine uferlose Expansion fixierten rechtsextremen Diktaturen dargestellt, die diese Ordnung letztendlich auch zerstörten. Seit der Errichtung der Putinschen „gelenkten Demokratie“ im Jahr 2000 stellt  indes der russische Revisionismus die größte Bedrohung für die nach der Beendigung des Kalten Krieges entstandene neue Ordnung in Europa dar. Im Zentrum der Aufmerksamkeit Putins steht der Versuch, die Folgen der demokratischen Augustrevolution von 1991 (des russischen „Majdan“) sowie der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 rückgängig zu machen. Da die beiden Ereignisse untrennbar mit der Person Boris Jelzins verbunden waren, stilisiert sich Putin zu einer Art Anti-Jelzin, der die Folgen des Wirkens seines Vorgängers ungeschehen machen will. Dabei stellte sich heraus, dass vor allem die Ukraine der Verwirklichung der ehrgeizigen Pläne Putins im Wege stand. Die „europäische Wahl“, die die Ukraine 2004 und 2013/14 traf, bedeutete eine Absage an die Bevormundung der Gesellschaft durch den autoritären Staat und ein Bekenntnis zu authentischen Wahlen. Vor solchen Wahlen hat aber Putin panische Angst. Er war sich darüber im Klaren, dass der demokratische Aufbruch in einem Land, das mit Russland sprachlich so eng verwandt ist, an der Grenze der Ukraine nicht stehenbleiben wird. Daher sein Versuch die Ukraine zu spalten, zu destabilisieren und seit der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022 als souveränen Staat zu zerstören.

Der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022 ging das Debakel der NATO in Afghanistan im August 2021 voraus. Nicht die Angst vor der so „bedrohlichen“ NATO stellte die wichtigste Ursache für die damalige zerstörerische und selbstzerstörerische Entscheidung des Kreml-Diktators dar, wie dies z.B. der amerikanische Politologe John J. Mearsheimer meint, sondern Putins Überzeugung, dass die westliche Militärallianz nun kaum handlungsfähig wäre. Wie falsch diese Prämisse war, davon konnte sich Putin bald überzeugen. Durch ihre Solidarisierung mit dem heldenhaften Kampf der Ukrainer gegen den Aggressor erlebte die westliche Militärallianz eine Art Revitalisierung und Joe Biden entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem unumstrittenen Führer der freien Welt. Sollte aber Donald Trump die nächsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnen, könnten die USA erneut, ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit, als Ordnungsfaktor ausfallen. Dies könnte das Kräfteverhältnis zwischen den Verfechtern der Freiheit und ihren Verächtern dramatisch  zugunsten der letzteren verschieben.

Wie wird die künftige Weltordnung wohl aussehen? Anmerkungen zu den Thesen von Herfried Münkler.

Die außerordentlichen Gefahren die die „offenen Gesellschaften“ nun bedrohen, beflügeln eine Diskussion über die künftige Weltordnung, an der sich der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler besonders intensiv beteiligt. Aus der Sicht Münklers geht die Epoche der universalistischen Gesellschaftsmodelle, als die westlichen Demokratien versucht hatten, ihre Werte auch in den anderen Kulturkreisen zu verbreiten, zu Ende.  In seinem vor kurzem erschienen Buch „Welt in Aufruhr“ schreibt er:

(Der) „Westen“, wer immer dazugehören mag, (sollte) den globalen Geltungsbereich seiner Werte und Normen (einschränken) und sich stattdessen wesentlich auf sein eigenes Territorium (konzentrieren). Das ist realistisch, weil der Westen diese Werte und Normen gegen seine großen Konkurrenten und Widersacher ohnehin nicht durchsetzen kann… Je weniger von Werten die Rede ist, desto leichter werden sich Regeln im Umgang  der großen Mächte miteinander festlegen lassen. Man muss sich also entscheiden, was einem wichtiger ist: das folgenlose  Geltendmachen von Werten oder die Verständigung auf verbindliche Regeln.

Was die künftige Weltordnung betrifft, geht Münkler davon aus, dass sie von einer Art Pentarchie (ähnlich wie dies in Europa im 19. Jahrhundert der Fall war) geprägt werde, und meint damit die USA, die EU, China, Russland und Indien als Zünglein an der Waage.

Münklers Plädoyer für eine wertfreie Geopolitik weist gewisse Ähnlichkeiten mit den politischen Konstrukten von Carl Schmitt auf, dem Herfried Münkler in seinem Buch in der Tat viel Aufmerksamkeit widmet. Schmitt gehörte bekanntlich zu den radikalsten Kritikern universaler Wertvorstellungen wie Liberalismus oder Parlamentarismus. An ihrer  Verbreitung waren aus seiner Sicht in erster Linie angelsächsische Seemächte interessiert. Bei diesen Ideen habe  es sich um die „Instrumente der Weltpolitik“ Englands und der USA gehandelt , so Schmitt. Verfechter der universalen Ideen kriminalisierten ihre Gegner, neigten zu einem globalen Bürgerkrieg bzw. zu Vernichtungskriegen ohne jegliche Regeln, setzt Schmitt seine Gedankengänge fort.  Zur „Einhegung der Kriege“ neigten aus der Sicht Schmitts vor allem kontinentale Staaten, nicht aber die Seemächte.  Besonders pikant ist in diesem Zusammenhang die Schrift Schmitts „Völkerrechtliche Großraumordnung“ aus dem Jahr 1939, die Münkler ausführlich zitiert, in der ausgerechnet das nationalsozialistische „Deutsche Reich“ als ein Gegengewicht zum „Universalismus der Mächte des liberaldemokratischen… Westens  und (zum) Universalismus des bolschewistisch-weltrevolutionären  Ostens“ verklärt wird. Deutschlands „Mission“ sei es, so Schmitt, „nach beiden Fronten die Heiligkeit einer nichtuniversalistischen,… völkerachtenden Lebensordnung zu verteidigen“.

Dieses Konstrukt Schmitts scheiterte bekanntlich auf der ganzen Linie. Das Scheitern des Schmittschen Konzepts wird auch von Münkler kommentiert, der dazu schreibt:

Dass der nationalsozialistische Eroberungskrieg und die Ermordung der europäischen Juden Schmitt mit seiner Beschreibung des Reichs und seiner angeblichen „Mission“ Lügen strafte, muss hier nicht weiter ausgeführt werden.

Ungeachtet der Tatsache, dass das „Reichs“-Konzept Schmitts durch Hitler in einer derart spektakulären Form desavouiert wurde, hörte Schmitt auch nach 1945 nicht auf, gegen universalistische Wertvorstellungen zu wettern. In seinem Buch „Der Nomos der Erde …“ aus dem Jahr 1950 schreibt er: Nur demokratische Regierungen seien für die USA legitim. Es sei eine ungeheure Anmaßung und Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.

Diese Warnung Schmitts vor dem Eingreifen „raumfremder Mächte“ in die Einflusssphären anderer Staaten bzw. Kulturkreise ähnelt durchaus dem bereits erwähnten Plädoyer Münklers für eine Zurückhaltung bei der Propagierung der für den Westen konstitutiven Wertvorstellungen außerhalb des westlichen Kulturkreises. Würde aber eine solche Politik nicht zu einer Selbstaufgabe des Westens führen? Man darf nicht vergessen, dass die These von der universalen Bedeutung der Bürger- und Menschenrechte nicht nur in den westlichen Demokratien, sondern auch in beinahe allen Regionen und Kulturkreisen der Welt unzählige Anhänger hat. Nur auf diese Weise können sie sich gegen Gesinnungsdiktaturen unterschiedlicher Art zur Wehr setzen. Die Tatsache, dass Mitte der 1970er autoritäre Regime in Südeuropa und im ausgehenden 20. Jahrhundert in manchen anderen Regionen der Welt wie Kartenhäuser zusammenbrachen, war nicht zuletzt mit dem Streben der Regimekritiker in diesen Ländern verknüpft, den „universalen“ Menschen- und Bürgerrechten in ihren jeweiligen Ländern zum Durchbruch zu verhelfen. Ähnliches lässt sich auch über die im Jahr 2003 begonnenen „farbigen Revolutionen“ im postsowjetischen Raum sagen. Es ist zwar richtig, dass einige dieser Umwälzungen und Revolutionen im ersten Anlauf scheiterten. Dessen ungeachtet geht der Kampf zwischen den Verfechtern der Freiheit und ihren Widersachern weiter. Ob es den Verächtern der Freiheit in vielen autoritären Staaten der Welt gelingen wird, auf Dauer den bestehenden Zustand in ihren jeweiligen Ländern zu zementieren, bleibt offen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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