Die Suche nach Gerechtigkeit: Ein unendlicher Weg
Eine Kolumne über den Weg zur Gerechtigkeit von Heinrich Schmitz.
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Ich will noch nicht ins Bett! Das ist so ungerecht!
Welche Eltern mögen diesen Satz eines Fünfjährigen noch nie gehört haben.
Ich möchte aber länger als bis 12 Uhr in der Disco bleiben. Der Tom darf das doch auch. Ihr seid so ungerecht.
Auch nichts Besonderes.
Warum stellt der Schiri unseren Verteidiger vom Platz und den von der Gegenmannschaft nicht. Das war doch genau das gleiche Foul. Ungerecht!
Mein Freund Paul ist tot und Putin lebt immer noch. Ungerecht!
Warum bekommt so ein Realityfuzzi 100000,´.–€ dafür, dass er ein paar Wochen am Strand rumpoppt. Das verdiene ich ja in zwei Jahren nicht. Das ist doch ungerecht.
Was ist gerecht?
In der Welt der Jurisprudenz und der ethischen Debatten ist die Frage nach Gerechtigkeit seit ewigen Zeiten ein immerwährendes Thema. Doch was genau ist Gerechtigkeit?
Ist es gerecht, wenn ein Kuchen in gleich große Stücke geteilt wird und jeder ein Stück bekommt, ganz gleich, ob er 10 oder 100kg wiegt?
Ist es gerecht, wenn eine Mehrheit auf Kosten einer Minderheit in deren Rechte eingreift?
Ungerechtigkeit kann in verschiedensten Facetten des Alltags auftreten, sei es in persönlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft als Ganzes. Hier sind einige Beispiele:
Diskriminierung am Arbeitsplatz:
Wenn Personen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, sexuellen Orientierung oder anderer persönlicher Merkmale benachteiligt werden, obwohl sie die erforderlichen Qualifikationen und Fähigkeiten für eine Position besitzen.
Ungerechte Entlohnung:
Situationen, in denen Personen für die gleiche Arbeit unterschiedlich entlohnt werden, basierend auf Faktoren wie Geschlecht, Herkunft oder anderen nicht-relevanten Kriterien, anstatt aufgrund ihrer Leistung und Erfahrung.
Soziale Ungleichheit:
Ein breites Spektrum von Ungleichheiten, die sich aus strukturellen Unterschieden in der Gesellschaft ergeben, wie zum Beispiel Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Beschäftigungsmöglichkeiten. Personen aus benachteiligten Gruppen haben oft weniger Chancen und Ressourcen als andere. Wer in eine unterprivilegierte Umgebung geboren wird, hat schon schlechtere Starchancen als andere. Ein Rückstand, den viele nie mehr aufholen. Ich hatte in einem Jugendstrafverfahren mal einen 15-jährigen, der meine Frage, was er später einmal machen wolle, rundheraus mit Hartzen beantwortete. Er kannte nichts anderes und wollte auch nichts anderes. Sicher ein Extremfall, denn die meisten wollen etwas aus sich machen, aber woher hätte der Junge seine Motivation auch hernehmen sollen.
Justizirrtümer:
Fehlurteile oder ungerechte Behandlung im Justizsystem, sei es aufgrund von Vorurteilen, unzureichender Beweislage oder unangemessener Verfahren. Unschuldige Personen können verurteilt werden, während Täter mitunter straffrei ausgehen. Da mag dann zwar ein Dexter Morgan regzulierend eingreifen, mit Gerechtigkeit haben aber weder der noch sonstige selbsternannte Rächer etwas zu tun.
Familieninterne Ungerechtigkeiten:
Situationen, in denen Familienmitglieder, insbesondere Kinder und Ehepartner, in unfairen oder schädlichen Umständen leben müssen, sei es aufgrund von häuslicher Gewalt, Vernachlässigung, Alkoholismus oder ungerechter Verteilung von Ressourcen innerhalb der Familie.
Ungerechte Verteilung von Ressourcen:
Wenn grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Wohnraum und Gesundheitsversorgung ungleich verteilt sind und bestimmte Gruppen oder Gemeinschaften davon benachteiligt sind.
Kulturelle und politische Unterdrückung:
Situationen, in denen bestimmte Gruppen aufgrund ihrer kulturellen, politischen oder religiösen Überzeugungen unterdrückt werden, sei es durch Zensur, Einschränkung der Meinungsfreiheit oder Gewalt seitens einer Regierung oder anderer Gruppen. Das ist bisher in Deutschland nicht der Fall, auch wenn interessierte Gruppen das gerne behaupten.
Die Aufzählung ließe sich beliebig verlängern.
Was tun?
Diese Beispiele zeigen, dass Ungerechtigkeit in vielen Formen und Kontexten existiert und oft tiefe Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen hat. Die Bekämpfung von Ungerechtigkeit erfordert daher ein breites Engagement auf individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene, um eine gerechtere Welt für alle zu schaffen
Kann sie in einem oder durch einen Rechtsstaat wirklich erreicht werden, oder bleibt sie ein Ideal, dem wir zwar stets nachstreben, das wir aber nie vollständig realisieren können?
Gerechtigkeit ist ein Konzept, das tief in den Grundfesten der menschlichen Gesellschaft verwurzelt ist. Es geht darum, jedem das zu geben, was ihm gebührt, basierend auf objektiven Maßstäben von Recht und Moral. Doch die Realität ist komplexer.
In einem Rechtsstaat wird Gerechtigkeit durch Gesetze, Verfahren und Institutionen angestrebt. Aber trotz aller Bemühungen bleibt sie oft ein schwer fassbares Ziel.
Die Idee von Gerechtigkeit ist eines der grundlegendsten und zeitlosesten Konzepte in der menschlichen Entwicklungsgeschichte und findet sich in verschiedenen Formen in fast allen Kulturen und Zivilisationen der Welt wieder. Die Wurzeln dieser Idee können bis in die frühesten Aufzeichnungen der menschlichen Geschichte zurückverfolgt werden.
In den alten Zivilisationen des Nahen Ostens, wie zum Beispiel im antiken Mesopotamien und Ägypten, finden wir bereits Gesetze und Kodizes, die darauf abzielen, gerechte Behandlung sicherzustellen und Recht und Ordnung in der Gesellschaft zu wahren. Zum Beispiel wurden in Mesopotamien Gesetzsammlungen wie der Codex Hammurabi (circa 1750 v. Chr.) eingeführt, der Standards für Verhalten und Strafen festlegte, um Gerechtigkeit zu fördern.
Die alten Griechen
Auch in den philosophischen Traditionen des antiken Griechenlands spielte die Idee der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. Die Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles diskutierten ausführlich über die Natur der Gerechtigkeit und ihre Bedeutung für das gute Leben und die moralische Ordnung der Gesellschaft. Insbesondere Platons Werk „Der Staat“ prägte das Verständnis von Gerechtigkeit als harmonisches Funktionieren der Gesellschaft, in der jede Person ihre angemessene Rolle erfüllt.
Im Laufe der Geschichte haben auch Religionen ihren Beitrag zur Vorstellung von Gerechtigkeit geleistet. Viele religiöse Texte und Traditionen betonen die Bedeutung von Fairness, Mitgefühl und Rechtschaffenheit im Umgang mit anderen Menschen und fordern ihre Anhänger auf, nach Gerechtigkeit zu streben. Beispiele hierfür sind die zehn Gebote im Judentum und Christentum sowie das Konzept des Dharma in Hinduismus und Buddhismus.
Jesus soll gesagt haben:
Glücklich sind die, die Hunger und Durst nach Gerechtigkeit haben, denn sie sollen satt werden. Gottes Gerechtigkeit soll zur Grundlage unseres Lebens werden. Seine Maßstäbe sollen unser Leben bestimmen
Im Koran (Sure 4 Vers 135) heißt es:
„O ihr, die ihr glaubt, bleibt fest in der Gerechtigkeit, wenn ihr Zeugnis ablegt gegenüber Gott, und sei es auch gegen euch selber oder eure Eltern und Verwandten, handle es sich um arm oder reich, denn Gott steht näher als beide. Und folgt nicht der Leidenschaft, sodass ihr abweicht vom Recht. Ob ihr euch auch hin und her wendet und abkehret, siehe, Gott weiß, was ihr tut.“
In der modernen Zeit haben politische Philosophen wie u.a. John Locke, Jean-Jacques Rousseau und John Rawls die Idee der Gerechtigkeit weiterentwickelt und diskutiert, wie sie in modernen Gesellschaften realisiert werden kann. Ihre Werke haben dazu beigetragen, unsere Vorstellung von Gerechtigkeit als grundlegendem Wert in demokratischen Gesellschaften zu vertiefen und die Grundlage für rechtliche und politische Institutionen zu schaffen, die darauf abzielen, Gerechtigkeit zu fördern.
Verankert
Insgesamt ist die Idee von Gerechtigkeit also eine universelle und zeitlose Konzeption, die tief in der menschlichen Natur und den moralischen Überzeugungen verankert ist und weiterhin eine zentrale Rolle in der Philosophie, Religion, Politik und Rechtsprechung spielt bzw. spielen sollte.
Eine der größten Herausforderungen bei der Verwirklichung von Gerechtigkeit liegt in der Subjektivität menschlicher Entscheidungen und Erkenntnismöglichkeiten. Richter, Staatsanwälte und Anwälte sind fehlbare Menschen, die von persönlichen Vorurteilen, Vorlieben und Fehleinschätzungen beeinflusst werden, ob sie wollen oder nicht. Zwar darf man den meisten Richtern unterstellen, dass sie sich um eine gewisse professionelle Neutralität redlich bemühen; das ändert aber eben nichts daran, dass ebenfalls sie bloß Menschen sind. Dies kann und muss zwangsläufig auch zu Ungerechtigkeiten führen, selbst dann wenn das Gesetz objektiv angewendet wird.
Nehmen wir z.B. Bußgeldverfahren, also das allseits bekannte Knöllchen. Nach dem Bußgeldkatalog wird für eine Geschwinsigkeitsüberschreitung außerorts bei 26-30 km/h zu schnell ein Bußgeld in der Höhe vom 178,50 € fällig. Daneben wird man nicht mal gefragt, ob man die Punkte sammelt, sondern bekommt gleich einen angeschrieben und man darf auch noch einen Monat nicht fahren. Für eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, von denen eines in den Kindergarten gebracht werden muss und das andere mehrere Kilometer entfernt zur Tagesmutter, die täglich 15 Kilometer in der Sackeifel zur Arbeit fahren muss, eine wahnsinnig hohe Strafe. Für einen Millionär ein Witz, der nimmt sich halt einen Fahrer und zahlt die Knolle aus der Portokasse. Gleiches Delikt, gleiche Strafe, jaja, aber Gerechtigkeit? Eher nicht.
Zielkonflikt
Darüber hinaus steht die Idee der Gerechtigkeit oft im Konflikt mit anderen gesellschaftlichen Zielen, wie zum Beispiel Effizienz, Sicherheit oder Wohlstand. Manchmal müssen Kompromisse eingegangen werden, die dazu führen, dass das Streben nach Gerechtigkeit zurückgestellt wird. Ist es gerecht, wenn eine Familie ihr seit Generationen in Familienbesitz befindliches Wohnhaus verlassen muss, weil ein Konzern nach Kohle baggert? Wenn ganze Dörfer und ihre Geschichte verschwinden und das auch noch, obwohl abzusehen ist, dass man die Kohl, also die zum Verbrennen, gar nicht mehr brauchen wird?
Ein weiteres Hindernis für die Verwirklichung von Gerechtigkeit in einem Rechtsstaat ist die soziale Ungleichheit. Menschen mit mehr Ressourcen können sich oft bessere Schulen, Ärzte, Anwälte oder Nahrungmittel leisten oder haben Zugang zu privilegierten Positionen in der Gesellschaft, die ihre Chancen verbessern. Dies führt auch zu einem Ungleichgewicht in der Rechtsprechung, das die Ideale der Gerechtigkeit untergräbt. Ich hatte bereits beim Thema Pflichtverteidigung mehrfach darauf hingewiesen, dass die Auswahl der PflichtverteidigerInnen ausgerechnet bei dem Gericht liegt, das über den Fall zu entscheiden hat. Und welcher Mensch wählt sich schon freiwillig einen „Gegner“ aus, der mehrere Gewichtsklassen über ihm boxt und verspricht eine Konfliktverteidigung durchzuziehen? Da nimmt man doch lieber den willfährigen Geständnisbegleiter, der kurze Prozesse und wenig Gegenwehr zu bieten hat. Den nimmt man dann auch immer wieder, was alle erfreut bis auf den Angeklagten. Hier liegt das Hindernis für Gerechtigkeit bereits im System selbst angelegt. Und ja, es gibt durchaus Ausnahmen. Man hätte das längst ändern können, macht man aber wohl wegen des Widerstands der Richterschaft nicht.
Trotz all dieser Herausforderungen möchte ich jedoch nicht resignieren. Auch wenn perfekte Gerechtigkeit vielleicht unerreichbar ist, kann man dennoch bestrebt sein, sie zu verwirklichen, indem man unsere Institutionen verbessert, Vorurteile bekämpft und für mehr soziale Gleichheit eintritt.
Letztendlich ist die Suche nach Gerechtigkeit ein unendlicher Weg, den die Gesellschaft gemeinsam gehen muss, wenn es denn was werden soll mit einer annähernden Gerechtigkeit. Es erfordert ständige Reflexion, Engagement und den Glauben daran, dass eine gerechtere Welt möglich ist. In einem Rechtsstaat können wir niemals vollständige Gerechtigkeit erreichen, aber indem wir unablässig danach streben, können wir zumindest sicherstellen, dass sie immer unser Leitstern bleibt. Leider gibt es genug Menschen, die mit Gerechtigkeit nichts am Hut haben und immer nur auf ihren Vorteil bedacht sind. Die machen es noch schwieriger die Gesellschaft in eine gerechtere umzuwandeln. Ich fürchte daher, die Gier ist im Zweifel stärker als der Wunsch nach Gerechtigkeit. Trotzdem mag ich nicht aufgeben, daran zu glauben.