Week van de lentekriebels – Frühlingsgefühle in der niederländischen Grundschule

Projektwoche „Week van de lentekriebels“ an der niederländischen „basisschool“ – Kindgerechte Vermittlung von Gefahren im realen und digitalen Leben oder Indoktrination? Nicole Krey ist der Meinung, es gibt durchaus Optimierungsbedarf beim Lehrstoff über Sexualität und Cyberkriminalität an niederländischen Grundschulen.

Bild von garten-gg auf Pixabay

In der Woche vom 4. bis 8 März wurde in den Niederlanden die „week van de lentekriebels“ (was so viel bedeutet wie „Woche des Frühlingskribbelns“) diskutiert. Diese jährliche Projektwoche im März soll dazu dienen, Grundschulkindern die Themen Beziehungen und Sexualität näher zu bringen.

Die Grundschule in den Niederlanden dauert 8 Jahre. Kinder sind 4-5 Jahre alt wenn sie in die 1. Gruppe der niederländischen „basisschool“ gehen und durchschnittlich 12 Jahre, sobald sie auf die weiterführende Schule wechseln. Die Projektwoche soll in den diversen Jahrgängen dem Alter entsprechend durchgeführt werden.

Organisiert wird die Woche „week van de lentekriebels“ von der niederländischen Organisation Rutgers und dem GGD (dem niederländischen öffentlichen Gesundheitsdienst auf kommunaler Ebene). Dieses Jahr lautete das Motto der Projektwoche „weerbaar online“, also „widerstandsfähig online“.

Eltern und Schulen sehen Themenwoche teilweise kritisch

Seit letztem Jahr sorgt die „week van de lentekriebels“ nun vermehrt für Unruhe. In der Kritik stehen dabei insbesondere diverse Bücher, die über Rutgers promotet werden und von denen bei Eltern und Schulen in den Niederlanden der Eindruck entstanden ist, sie seien das entsprechende Lehrmaterial zu der Projektwoche. Es gibt Buchempfehlungen für Gruppen 1-2 (ca. 4-6 Jahre), Gruppen 3-4 (ca. 6-8 Jahre), Gruppen 5-6 (ca. 8-10 Jahre), Gruppen 7-8 (ca. 10-12 Jahre). Die jüngsten Kinder befinden sich also nach deutschem Verständnis im Kindergartenalter.

Rutgers ist laut ihrer Webseite das niederländische Zentrum für Sexualität:

Rutgers is the Netherlands Centre on Sexuality. We work to improve the sexual and reproductive health and rights of all (young) people in the Netherlands and in more than 29 countries around the world. In partnership with other organisations we advocate for sexual and reproductive health and rights, promote public support and do (scientific) research. Together with partners, we work within countries and internationally to improve sexual rights, access to sexuality education and information, access to contraception and safe abortion services and to prevent sexual and gender-based violence.
(c) Rutgers

Über X lässt Rutgers wissen, dass eine Illustration mit erfundenem Text viral gegangen ist und teilt das Bild mit dem originalen Text:

Die Illustration ist auch in meinem Newsfeed auf Facebook mit dem gefälschten Text gelandet. In der falschen Version ist das Bild mit einer Konversation versehen, in der die beiden Jungs oralen und analen Geschlechtsverkehr miteinander haben möchten. Diese Fake-Illustration habe ich zum Anlass genommen, sowohl online als im realen Leben zu untersuchen, was nun in dem Lehrmaterial tatsächlich drinsteht, und inwieweit Schulen und Lehrer verpflichtet sind das Lehrmaterial umzusetzen. Dazu hatte ich neben der Online-Suche in meinem Umfeld Elternpaare mit Grundschulkindern befragt. Es stellte sich als einigermaßen schwierig heraus, an Informationen zu kommen, da Unklarheit herrscht, was nun Pflicht ist, und was lediglich Empfehlung.

Mein kleiner Praxistest ergab = an keiner der Schulen der Eltern aus meinem Umfeld wurde das Lehrmaterial von Rutgers angeboten. Folgende Rückmeldungen habe ich aus meinem erweiterten Umfeld erhalten:

1) An einer Grundschule sollte die Projektwoche letztes Jahr durchgeführt werden, aber aufgrund des Widerstands mehrerer Lehrer wurde davon abgesehen;
2) Ein Kind war mit einem Buch aus der Schulbibliothek nach Hause gekommen in dem ein Pinguin eine falsche Jacke trägt. Die Mutter hatte eine Lehrkraft auf das Buch angesprochen, aber dieses schien nicht zum Lehrmaterial zu gehören.

Viel Interpretationsspielraum für Lehrer bei der Umsetzung der staatlichen Vorgaben

Zur Rechtslage: Auf der Seite der niederländischen Regierung steht zunächst, dass Sexualität und sexuelle Diversität Lernziele sind (Lernziele 38 und 41) und Schulen deswegen verpflichtet sind, den Themen Aufmerksamkeit zu schenken. Wie Schulen das umsetzen, wird ihnen in Eigenregie überlassen. Es wird beispielhaft auf die „week van de lentekriebels“ und das Lehrmaterial von Rutgers verwiesen. Online findet man diverse Orientierungshilfen von Rutgers, wie die staatlichen Lernziele umgesetzt werden können:

1) Orientierungshilfe zum Motto für die Projektwoche 2024 „weerbaar online“: Anhand der vorgenannten Orientierungshilfe soll mit Kindern erörtert werden, wie man umgehen sollte mit unsicheren Situationen im Netz. Es werden Beispiele genannt wie Cybermobbing, Grooming, eine Werbung mit Kriegsbildern aus Israel die während des Spiels Angry Birds auftaucht und Deepfakes von einer unbekleideten 11-Jährigen.

2) Orientierungshilfe zum Lehrmaterial „Kriebels in je buik“ (also „Kribbeln in deinem Bauch“): In der Orientierungshilfe wird aufgezeigt, dass niederländische Schulen seit 2012 verpflichtet sind, den Themen Sexualität und sexuelle Diversität Aufmerksamkeit zu schenken, dass Schulen jedoch nicht verpflichtet sind, an der „week van de lentekriebels“ teilzunehmen und dass es sich bei „kriebels in je buik“ um anerkanntes Lehrmaterial handele. Das „kriebels in je buik“-Paket würde oft verwechselt mit der „week van de lentekriebels“.

3) Des Weiteren hat Rutgers einen Plan mit Lernzielen pro Schulgruppe herausgegeben: Ab der 1. Gruppe sollen sich Kinder bewusst sein über positive oder negative Gefühle beim Anfassen von Gegenständen oder (bestimmten) Körperteilen und das anderen Kindern auch aufzeigen können. Hier ist daher viel Interpretation seitens der Lehrkräfte möglich. In den Lernzielen für die 8. Gruppe (Kinder von 11-12 Jahre) ist dann ausdrücklich genannt, dass die Kinder lernen, wie sie masturbieren können, und dass das ein schönes Gefühl sein kann. Ein weiteres Lernziel für Kinder dieser Gruppe ist Kenntnis über Intersexualität, Transgeschlechtlichkeit und nichtbinäre Geschlechtsidentität.

Umstrittene Bücherliste und Fake News-Verbreitung

Für die Erreichung der Lernziele hat Rutgers eine Bücherliste mit Empfehlungen für die verschiedenen Altersgruppen und diversen Kategorien zusammengestellt: Für Kinder aus der 1. Gruppe wird z.B. das Buch „Saar und Jop praten over seksualiteit“ empfohlen, in dem Genitalien illustriert werden. Zum Thema Widerstandsfähigkeit schlägt Rutgers ab 4 Jahren vor: „Voor dat geheim ben ik te klein“, bei dem ein Erwachsener den Penis eines kleinen Jungen zu lange festhält. Der Junge soll die Sache geheim halten und vertraut sich dann doch seinen Eltern an. Hinsichtlich Diversität steht u.a. das Buch „De boer en de dierenarts“ auf der Liste, das über die Liebe zwischen einem Bauern und einem Tierarzt handelt. Ab 5 Jahren wird das Buch empfohlen: „Mijn papa heeft een piemel“ in dem verdeutlicht wird, dass es verschiedene Pi*mel gibt. Für Kinder aus den Gruppen 3-4 empfiehlt Rutgers in der Kategorie Diversität beispielsweise das Buch „Het lammetje dat een varken is“: „Das Lämmchen das ein Schweinchen ist“. Die Geschichte handelt von einem Lämmchen das sagt, dass es eigentlich ein Schweinchen ist. Der Tierarzt schert daraufhin seine Wolle ab und ändert sein Schwänzchen in ein Kringelschwänzchen. Ferner wird „Je kunt niet kiezen op wie je verliefd wordt“ (“Du kannst dir nicht aussuchen in wen du dich verliebst”) empfohlen. Darin sagen Kinder, welchen Beruf sie später ausüben möchten, und ein Kind antwortet, dass es später „Homo“ werden möchte. Das Buch „Zin in jezelf“ („Lust auf mich selbst“) ist ab 9 Jahre und wurde bis Ende Februar als Lehrstoff empfohlen. Rutgers hat es inzwischen von der Bücherliste genommen. Darin wird beschrieben wie Jungs und Mädchen masturbieren.

Ein Sprecher von Rutgers erklärt zu den Vorwürfen sinngemäß, dass online vor allem viel Fake News verbreitet würden und die „week van de lentekriebels“ zu einem positiven Selbstbild und daraus folgend zu mehr Respekt für die eigenen Grenzen und die anderer Personen beiträgt.

Die Befürworter der „week van de lentekriebels“ sind der Meinung, Kinder würden sich sowieso entdecken, aber derzeit sei es noch so, dass Kindern dann gesagt würde, sie dürften sich nicht anfassen. Oder es würde zuhause gar nicht über das Thema gesprochen. Deshalb sei es gut, dass nun in Schulen aufgezeigt wird, dass Sexualität etwas Positives ist. Es gäbe auch Familien, in denen Missbrauch stattfände und da sei es wichtig, dass Kinder außerhalb der Familie darauf aufmerksam gemacht werden, sobald Grenzen überschritten würden. Auch früher sei Aufklärung schon Teil des Lehrprogramms an Schulen gewesen.

Kritiker vertreten hingegen die Ansicht, es würde aus Büchern vorgelesen, die dem Alter der Kinder nicht angemessen seien. Eltern würden sich nicht trauen, sich offen gegen die Woche auszusprechen wegen befürchteter negativer Reaktionen und Lehrer hätten Angst vor Kündigung. Die Themen gehörten in die Privatsphäre und der Erziehungsauftrag sollte hier den Eltern überlassen werden und nicht dem Staat. Es sei ein Unterschied, ob es um „sexuelle Aufklärung“ oder um „sexuelle Bildung“ gehe. Der niederländische Begriff lautet nämlich „seksuele vorming“, was man mit „sexueller Formung“ bzw. „sexueller Bildung“ übersetzen kann. Im Rahmen der „seksuele vorming“ bildet die sexuelle Aufklärung lediglich einen Bestandteil. Bei der „sexuellen Formung“ gehe es um das Lehren einer bestimmten Haltung und eben nicht nur um die Gefahren von (ungeschütztem) Geschlechtsverkehr und (ungewollten) Schwangerschaften. Es gehe darum, non-binäre und transgeschlechtliche Ideen zu verbreiten. Damit würde man den Kindern nicht beibringen, sich in ihren Körpern wohlzufühlen, sondern würde stattdessen in Frage stellen, ob sie das tun.

Ich erinnere mich an die Zeit, als ich aufgewachsen bin. Sexuelle Aufklärung fand bei uns in der Schule in der 4. Klasse statt. Damals wurde im Schullandheim das Buch „Peter, Ida und Minimum“ gelesen. Plot der Geschichte war: „Wenn Mama und Papa sich ganz doll lieb haben, rücken sie so eng zusammen, dass ein Samen eine Eizelle befruchtet“. Als die Lehrer das Buch mit uns im Schullandheim besprachen, war die Überraschung groß, dass wir alle mit unseren Kenntnissen auftrumpfen konnten: Im Bus auf dem Weg zum Schullandheim hatten nämlich ein paar Jungs aus unserer Klasse mit ihrem Wissen geprahlt und gespoilert, wie das mit dem Samen und der Eizelle funktioniert.

Die Herausforderungen sind heute andere als damals. Es gab kein Internet und keine Cyberkriminalität. In der heutigen Zeit ist es sinnvoll, Kinder frühzeitig auf die Gefahren im Internet hinzuweisen und ihnen Tipps zu geben, wie sie damit umgehen sollten. Das oben beschriebene Szenario mit der Werbung während des Spiels Angry Birds ist leider genauso realistisch wie das Grooming oder Deepfakes. Filter und Kinder-Accounts verhindern nicht alles. Hier bietet sich eine Projektwoche meiner Meinung nach super an, um solche Themen altersgerecht zu besprechen. Das Motto „widerstandsfähig online“ ist unterstützenswert. Genauso verhält es sich mit altersgerechter Aufklärung über Geschlechtskrankheiten, (ungewollten) Schwangerschaften und den unterschiedlichen Formen von Körpern und Beziehungen.

Verbesserungsbedarf beim Lehrmaterial

Dazu tragen aber Bücher für 4-Jährige, in denen Kinder miteinander über Sexualität sprechen, Masturbationsanleitungen für 9-Jährige und Bücher für 6-Jährige in denen Schafe eigentlich Schweinchen sind, nicht bei. Meines Erachtens wird im letztgenannten Falle einer sehr jungen Altersgruppe suggeriert, dass eine Geschlechtsangleichung oder die Einnahme von Pubertätsblockern nicht viel mehr sei, als Haare abzurasieren. Die Wolle beim Lamm wächst jedoch schnell nach, während eine Geschlechtsangleichung einen irreversiblen Zustand bedeutet. Laut den Lernzielen von Rutgers sind Kenntnisse über Transgeschlechtlichkeit auch erst ab 11-12 Jahren vorgesehen und nicht schon ab 6. Weshalb werden dann nicht einfach Sachbücher zu dem Thema ab 11 Jahren eingeführt, in welchen das Thema offen besprochen wird?

Mit dem diesjährigen Motto haben die Bücher ebenfalls nichts zu tun. Das müsste Rutgers aber auch bewusst sein. Auf der Liste steht keine einzige Buchempfehlung zu Cyberkriminalität oder Spielen, die von Werbeanzeigen unterbrochen werden, in denen Kriegsbildern aus Israel zu sehen sind. In der Kategorie „Online“ wird lediglich ein „cooles“ Buch über soziale Medien ab der 5. Gruppe (also ca. 8 Jahren) empfohlen.

Es hätte sich angeboten, neben einem coolen Buch über soziale Medien kindgerechte kritische Bücher auf die Liste zu setzen und sich anhand dieses Lehrmaterials an dem Motto der Widerstandsfähigkeit im Netz abzuarbeiten. Die derzeitige Herangehensweise erweckt daher leider den Eindruck, es gehe gar nicht darum, Kinder auf Gefahren vorzubereiten, sondern diese mit Sexualität zu konfrontieren – und zwar in einem Alter, in dem sie lieber mit Klötzchen spielen und basteln sollten.
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Nicole Krey
Gebürtige Bonnerin, aufgewachsen in den Niederlanden. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft und anschließender Tätigkeit als Anwältin in Düsseldorf ist sie inzwischen als Unternehmensjuristin im digitalen Bereich tätig und wohnt wieder an der niederländischen Küste. Als Angehörige der Generation X hat sie in den 90ern auf einem 386er noch über MS-DOS prompt Befehle eingegeben, sich mit Unbekannten in Chatrooms über Musik ausgetauscht und Partys ohne Smartphone gefeiert.

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