Jugendliche Intensivtäter und kein Ende – was tun?

Ein 15-jähriger Intensivtäter ersticht einen 17-jährigen Flüchtling aus der Ukraine. Ein in jeder Hinsicht tragisches Geschehen. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.


Bild von Michal Renčo auf Pixabay

Ein 15-jähriger Deutsch-Türke ersticht in Oberhausen aus einer Gruppe heraus einen 17-jährigen Ukrainer, der vor dem Krieg in seiner Heimat ins vermeintlich sichere Deutschland geflohen war. Es soll sich laut Polizei angeblich nicht um eine fremdenfeindliche Tat handeln. Darauf würde ich allerdings nicht wetten.  Dass der Haupttatverdächtige Deutsch-Türke ist und weitere mutmaßlich Beteiligte ein Deutsch-Grieche und zwei Syrer sind, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber, es spielt, falls überhaupt, vermutlich viel weniger eine Rolle als die Tatsache, dass der Hauptverdächtige der Polizei als sogenannter Intensivtäter länger bekannt war.

In der Gesellschaft gibt es nicht ohne Grund eine Furcht vor jugendlichen Intensivtätern. Diese jungen Menschen, überwiegend männlich, haben oft schon eine Serie von Straftaten begangen, die von Diebstahl bis hin zu Gewaltverbrechen reichen kann, bevor es dann nicht selten auch mal einen Toten gibt. Ihre Taten hinterlassen nicht nur physische und emotionale Narben bei den Opfern und deren Familien, sondern auch eine dringende Frage, die viele beschäftigt: Was kann man dagegen tun`?

Kurve kriegen

Einen solchen Fall schildert exemplarisch die Initiative „Kurve kriegen“ auf Ihrer homepage: https://www.kurvekriegen.nrw.de/

Marvin geht man besser aus dem Weg. Marvin ist 11 Jahre alt und eher schmächtig, aber alle in seinem Stadtteil kennen ihn. Man geht ihm aus dem Weg, wenn man keinen Ärger will. Denn Marvin ist aggressiv und gewalttätig, wenn ihm etwas nicht passt, dann reicht es schon, wenn einer dumm guckt.

Angefangen hat das schon in der Grundschule, da war Marvin sieben und keiner wollte etwas mit ihm zu tun haben. „Der hat wieder seine dollen fünf Minuten, bleibt weg von dem“ sagten Lehrer, wenn er wieder mal ausrastete, um sich schlug und trat. Man war froh, wenn er nicht zur Schule kam. Und das kam oft vor. Das Schlagen hatte er sich bei seinem alkoholkranken Vater abgeguckt und bei seinem großen Bruder, der dafür schon mal im Knast war. Seine Mutter war kaum eine Hilfe, sie musste sich um das Notwendigste kümmern, putzen gehen, damit überhaupt etwas Geld da war. Auch sie hatte sich an die Schläge schon lange gewöhnt. Marvin gewöhnte sich auch daran, aber er gab sie weiter. Zuhause bekam er Schläge, draußen verteilte er sie dann an andere. Mal Opfer, mal Täter. Keiner interessierte sich für ihn, erst als er in eine Clique Gleichgesinnter kam, ausnahmslos alle älter als er, fühlte er sich das erste Mal anerkannt. Wenn er andere „abzockte“ und beraubte und das Diebesgut an seine Freunde verteilte. Die sagten dann: „Der Kleine hat’s drauf!“ In allem war er schnell der Härteste, beim Klauen, beim Zuschlagen, beim Alkohol und Kiffen. Und in der Nachbarschaft sagten alle: “Der wird mal wie sein Bruder, nur schlimmer. Bei dem ist Hopfen und Malz verloren. Der hat keine Chance!“ Marvin hätte gerne auch mal richtige Freunde gehabt, die ihn zum Geburtstag einladen oder mit ihm Fußballspielen gehen. Freunde, denen man nichts beweisen muss, Freunde die verstehen, dass man Koch werden will, nicht Gangster. Freunde die verstehen, dass man Angst hat wie der eigene Vater oder Bruder zu werden, Angst vor der eigenen Zukunft, wenn man gerade mal 11 ist.

Leider ist Marvin kein Einzelfall.

Was tun?

Was können wir tun, um solche Jugendliche zu stoppen und zu rehabilitieren?

Die Antwort ist komplex und erfordert einen breiten, ganzheitlichen Ansatz. Zunächst müssten wir verstehen, was diese Jugendlichen antreibt, sich kriminellen Aktivitäten zuzuwenden. Oft sind es eine Kombination aus sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Faktoren. Einige kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen, andere haben mit psychischen Problemen zu kämpfen, während wieder andere durch schlechte Bildungschancen und mangelnde Perspektiven in die Kriminalität abgleiten. Viele Taten werden schon vor Eintritt der Strafmündigkeit begangen.

Ich hatte ein paar Mal als Strafverteidiger mit solchen Tätern zu tun. Während „normale“ jugendliche Straftäter durchaus über ein schlechtes Gewissen verfügen und häufig schon durch das Strafverfahren ausreichend beeindruckt sind, um künftig wieder auf einem gerade Gleis durchs Leben zu fahren, sind die Jungs (nur einmal war ein Mädchen dabei, das dann aber auch gleich zur Leaderin einer Mädchengang aufstieg) , die zu Intensivtätern wurden, kaum durch staatliche Sanktionen zu erreichen. Sie sind häufig völlig empathielos und nicht in der Lage, sich auch nur annähernd in die Perspektive ihrer Opfer hinein zu versetzen.

geht Dich doch nix an, Alter

Das Thema Zukunftsperspektive haben die häufig schon aufgegeben. Sie nehmen sich, was sie wollen, seien es Wertsachen, sei es Sexualität- Gefragt, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, reagieren sie mit einem abfälligen Schnauben oder einem „geht Dich doch nix an, Alter“. Respekt, den sie von allen anderen einfordern, scheinen sie selbst nicht zu kennen.

Denen irgendwie beizukommen, ist eine Mammutaufgabe.

Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Bekämpfung dieses ernsthaften Problems ist die frühzeitige Intervention. Bereits spätestens in der Schule – manche werden auch schon im Kindergarten auffällig, sofern sie überhaupt dort landen – sollten Programme zur Förderung von sozialen Kompetenzen und zur Konfliktlösung implementiert werden. Lehrer und Sozialarbeiter spielen hier eine entscheidende Rolle bei der Erkennung von Risikofaktoren und der Bereitstellung von Unterstützung. Klar wären hier auch die Eltern hilfreich, allerdings haben die häufig schon vorher versagt oder es trotz aller Bemühungen nicht geschafft, zu ihrem Nachwuchs durchzudringen. Ich hatte schon einen verzweifelten Vater, der mich, den Verteidiger seiner Sohnes, inständig darum bat, dafür zu sorgen, dass der endlich hinter Gitter kommt, bevor er noch Schlimmeres anrichtet. Das kann ich natürlich so nicht machen, selbst wenn es in der Tat auch aus meiner Sicht ausnahmsweise mal das Beste für den Jungen gewesen wäre. Aber auch das würde der wohl schulterzuckend hinnehmen – und im Anschluss vermutlich in seinem Bekanntenkreis von Hohlbirnen als Knacki einen noch höheren Rang einnehmen. Es ist ja keineswegs so, dass die Intensivtäter keine Peergroup hätten, es ist leider nur die falsche.

Konsequenzen

Es ist sehr wichtig, dass Jugendliche, die straffällig geworden sind, angemessene Konsequenzen für ihre Taten erfahren. Dabei kommt es allerdings sehr auf den Einzelfall an. Nicht immer ist „Härte, Härte, Härte“ das Richtige, sondern u.U. sogar kontraproduktiv. Oder wie man es richtig auf der Seite von „Kurve kriegen“ lesen kann:

Kriminalprävention nicht mit der Gießkanne, sondern mit der Injektionsnadel. Es geht um den Lebensweg jedes Einzelnen. Was hat dazu geführt, dass Kriminalität Teil der Entwicklung wurde, wo liegen die Ursachen, wo sind die Lösungen zu finden? Es geht um hochindividuelle Lösungen für hochindividuelle Problemlagen. Keine Geschichte ist mit einer anderen zu 100% identisch.

Die Sanktionen müssen absolut passgenau sein. Dies kann von gemeinnütziger Arbeit bis hin zu Jugendstrafen reichen, wobei der Schwerpunkt auf Rehabilitation und Eingliederung in die Gesellschaft liegen sollte. Klar gibt es für einen Mord eine andere Strafe als für einen Diebstahl, aber wichtig ist die passgenaue Sanktion. Gefängnisstrafen sollten zwar nur als letztes Mittel und für diejenigen reserviert sein, die eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit darstellen; sie müssen aber dann sein, wenn sie erforderlich sind. Und eine Strafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird, muss mit Auflagen und einer effektiven Bewährungsaufsicht flankiert werden, damit der Jugendliche sie nicht als Freispruch verarbeitet. Das habe ich leider schon häufig erlebt. Und dann geht es eben weiter wie gehabt, auf Kosten weiterer Opfer.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist aber auch die Bereitstellung von Unterstützungsdiensten nach der Entlassung aus dem Gefängnis. Oft stehen ehemalige Straftäter vor großen Herausforderungen bei der Suche nach Arbeit und Wohnraum, was sie wieder anfällig für Rückfälle macht, gerade wenn auch noch ein Drogenkontext besteht.. Programme zur Schulausblidung, Berufsausbildung, Arbeitsvermittlung und psychologischen Betreuung sind entscheidend, um diesen Jugendlichen eine echte Chance auf ein Leben ohne Kriminalität zu geben.

Prävention

Neben der Reaktion auf bereits begangene Straftaten ist es jedoch noch wichtiger, von Anfang an präventive Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Jugendliche überhaupt kriminell werden. Dazu gehören Investitionen in Bildung, soziale Dienste und Gemeinschaftsprogramme, die junge Menschen stärken und alternative Wege bieten, um ihre Energie und Talente positiv einzusetzen. Die nach außen demonstrierte große Fresse und die Neigung, ganz schnell gewalttätig zu werden, ist selten das Ergebnis eines wirklich großen Egos, sondern eher das Gegenteil. Ja, will keiner gerne hören und noch weniger bezahlen. Anders geht’s aber nunmal nicht.

Initiativen wie die o.g. „Kurve kriegen“ sind heute wichtiger denn je.

Es ist klar, dass die Bekämpfung von jugendlicher Kriminalität eine komplexe und langfristige Aufgabe ist, die das Engagement der gesamten Gesellschaft erfordert. Durch eine Kombination aus Intervention, angemessenen Konsequenzen und präventiven Maßnahmen können wir jedoch einen positiven Einfluss auf das Leben dieser jungen Menschen haben und gleichzeitig die Sicherheit und das Wohlergehen unserer Gemeinschaft fördern. Dass es aber immer wieder Ausreißer geben wird, will ich gar nicht verschweigen.

Aber man sollte auch wahrnehmen, dass entgegen mancher Angstpropaganda die Zahl der jungen Intensivtäter in NRW seit etwa zwanzig Jahren kontinuierlich zurückgeht  und 2022 mit <5000 auf dem niedrigsten Stand seit Anfang der Neunziger lag. Auch das ist in erster Linie ein Verdienst der Präventionsmaßnahmen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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