Zum Scheitern der russischen und der sowjetischen „Hegemonialprojekte“

Vor etwa 170 Jahren begann der Krimkrieg, welcher der beinahe vierzigjährigen russischen Vormachtstellung in Europa ein Ende setzte. Auch im 20. Jahrhundert sollten russische bzw. sowjetische Hegemonialprojekte mehrmals scheitern. Dessen ungeachtet wartet die heutige russische Führung erneut mit einem Hegemonialprojekt auf. Hat dieses Streben der Putin-Riege nach einer Wiederherstellung der erschütterten hegemonialen Positionen des Landes eine Verwirklichungschance?


1815 vs. 1945

Die Situation Europas unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerte stark an diejenige nach der Niederlage Napoleons. Russland bzw. die UdSSR wurde erneut, ähnlich wie nach 1815 zur stärksten europäischen Macht und als ein potentieller Welteroberer empfunden. Viele Europäer bewunderten nun den Weitblick solcher Denker wie Alexis de Tocqueville, Juan Donoso Cortès oder Astolphe de Custine, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts die große, für den Westen bedrohliche Zukunft Russlands vorausgesagt hatten. Dass diese Vor­aussagen teilweise von falschen Prämissen ausgegangen waren, wurde meist übersehen. So wurzelte z.B. der Glaube Tocquevilles, Donoso Cortès´ und anderer Denker an die künftige Bedeutung Russlands in ihrer tiefen Überzeu­gung, der Westen befinde sich in unheilbarer Dekadenz und verfüge nicht mehr über die Kraft zu einer Erneuerung. Dabei verwechselten diese Autoren  den Niedergang des aristokratischen Europa mit der Gesamtkrise des Abendlandes als solchem. Mit ihren Prognosen über­sprangen sie praktisch ein Jahrhundert. In ihren Voraussagen ist weder von der zweiten industriellen Revolution noch von der rasanten Urbanisierung und Modernisierung des westlichen Teils des Kontinents die Rede. Diese Prozesse schienen den Westen in eine völlig andere Richtung zu drängen, als die pessimistischen Denker um die Mitte des 19. Jahrhunderts dies vorausgesagt hatten. Dennoch sollte der Westen hundert Jahre später wieder in die scheinbar gleiche Situation gelangen, in der er sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits befunden hatte. Dieses ganze Jahrhundert wurde nun von vielen Autoren lediglich als eine Art Umweg angesehen, bei dem Europa im Grunde nur vorübergehend seinem scheinbar unvermeidlichen Schicksal entrinnen konnte, und dieses Schicksal hieß – russische bzw. sowjetische Bedrohung.

Dass diese Betrachtungsweise die Entfaltungsmöglichkeiten des Westens unterschätzte und diejenigen Russlands bzw. der UdSSR überschätzte, muss heute nicht mehr bewie­sen werden. Worauf lässt sich also diese verzerrte Wahrnehmung des Ost-West-Verhältnisses zurückführen? Mit dieser Frage werde ich mich zunächst am Beispiel des russischen „Hegemonialprojekts“ in der Epoche zwischen dem Wiener Kongress und dem Krimkrieg befassen.

Britische Ängste

In Großbritannien, das sehr sensibel auf die Fragen des europäischen Gleichgewichts reagierte, rief die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten Russlands nach der Zerschlagung Napoleons große Befürchtungen hervor. Das russische Reich übertreffe in seiner Ausdehnung alle Imperien, die die Welt je gesehen hatte, schrieb die englische Zeitung „Eclectic Review“ im Jahre 1815. Diese gewaltige territoriale Ausdehnung des Zarenreiches wurde als eine Herausforderung ohne Gleichen angesehen.

Diese Ängste Londons wurden indes von manchen anderen europäischen Regierungen unmittelbar nach der Bezwingung Napoleons nicht geteilt. Die Angst vor dem Wiederaufflammen der Revolution war damals in Europa noch sehr verbreitet. Und so betrachteten manche europäische Kabinette Russland mit seinem konservativen Herrschaftssystem als einen der wichtigsten Garanten der nachrevolutionären Ordnung. Die am 26. 9. 1815 entstandene Heilige Allianz, deren Ziel die Bewahrung der alten Ordnung gegen die revolutionären Herausforderungen war, hatte in Russland ihren wichtigsten Pfeiler.  Nicht zuletzt deshalb wurde das Zarenreich von den europäischen Liberalen und Demokraten zu ihrem Hauptgegner erklärt. Die Einstellung der europäischen Konservativen zu Russland hingegen war, und zwar etwa bis zur Jahrhundertmitte, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, eher positiv.

Die weitgehende Isolation Russlands in der liberalen europäischen Öffentlichkeit hatte zunächst keine unmittelbaren politischen Folgen. Publizisti­sche Wortgefechte wurden nicht durch entsprechende Handlungen der Regie­rungen unterstützt. Das Bündnis der drei konservativen Höfe (Petersburg, Wien, Berlin) war bis 1848, trotz einiger Unstimmigkeiten, wegen der ge­meinsamen Angst vor der Revolution, noch relativ intakt. Die Vormachtstellung Russlands, zumindest in Mittel- und Osteuropa schien ungefährdet. Davon war man auch in Sankt Petersburg überzeugt. So sagte der russische Außenminister Nesselrode im Jahre 1850 Folgendes: Die russische Machtposition sei nach 1814 noch nie so stark gewesen wie jetzt. Die wirklichen Sachverhalte sahen damals allerdings bereits ganz anders aus. Dies nicht zuletzt wegen der Prozesse, die die Revolution von 1848 einleiten sollte.

Zur Genese des Krimkrieges

Die europäischen Revolutionen von 1848/49 schufen, trotz ihres Scheiterns, ein völlig neues politisches Klima in Europa, das auch eine ganz neue Regierungstechnik erforderlich machte. Die Ereignisse von 1848/49 führten zu einer außeror­dentlichen Politisierung der Massen, das Regieren ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung war von nun an, trotz aller restaurativen Versuche, kaum mehr möglich. Die nachrevolutionären Regierungen, auch die Diktaturen, bemühten sich um eine »populäre« Politik. Die Tatsache, dass das Zarenreich in der europäischen Öffentlichkeit äußerst unpopulär war, sollte nun für die östliche Hegemonialmacht wesentlich gefährlichere Folgen haben, als dies vor der Revolution der Fall gewesen war. Abgesehen davon wollten die europäischen Regierungen nun, ähnlich wie die westlichen Gesellschaften, sich von den Überresten der patriarchalischen Ordnung befreien, deren wich­tigster Garant Russland zu sein schien. Viele Vertreter der preußischen oder der österreichischen Regierungsschicht hielten es für demütigend, dass der Zar in manchen Fällen so auftrat, als ob ihre Herrscher nur seine Statthalter seien. Sie wollten sich vom übermächtigen Schatten des östlichen Riesen­reiches so schnell wie möglich befreien. In Berlin empfand man es als äußerst irritierend, dass der Zar sich fortwährend in die innerdeutschen Verhältnisse einmischte (Olmützer Punktation – November 1850). Die Ansichten der preußischen Konservativen um die Brüder Gerlach, die von der legitimisti­schen Solidarität der konservativen Mächte sprachen, muteten Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts bereits anachronistisch an. Für ähnlich anachronistisch hielt der österreichische Außenminister von Buol die Überzeugung solcher konservativen Generäle wie Windischgrätz, Österreich sei Russland für seine Hilfe bei der Unterdrückung der ungarischen Revolution im Jahre 1849 zu Dank verpflichtet. Der Zar war immer noch der Meinung, nur die europäische Öffentlichkeit und nicht die Regierungen sähen ihn als Tyrannen an. Deshalb fühlte er sich relativ sicher, als er zu Beginn des Jahres 1853 daranging, die orientalische Frage, bei der es um das Schicksal des Osmanischen Reiches ging, auf seine Weise zu lösen. Dieses Vorgehen rief allerdings einen für ihn unerwar­teten Solidarisierungseffekt bei den wichtigsten europäischen Regierungen und Völkern hervor. Beinahe alle betrachteten das Zarenreich als Bedrohung für die europäische Zivilisation.

Nach Ausbruch des Krimkrieges sollte es sich bald herausstellen, dass die Angst der Westeuropäer von der russischen Übermacht maßlos übertrieben war. Zwischen den napoleonischen Kriegen und dem Zweiten Weltkrieg ist kein Krieg um die Wiederherstellung des europäi­schen Gleichgewichts ähnlich glimpflich verlaufen. Den Gegnern der Hegemonialmacht gelang es, ohne die totale Mobilisierung ihres Machtpotentials, nur mit einem Bruchteil ihrer Kräfte, diese Macht zu bezwingen.

Die Entstehung und der Zerfall des „äußeren“ Sowjetimperiums

Erst im Jahre 1945 – nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition über das Dritte Reich – erinnerte man sich wieder an die Prognosen Tocquevilles und anderer europäischer Pessimisten. Der innerlich zerrissene Westen voller sozialer und politischer Spannungen schien nun dem diktatorisch regierten, monolithischen russischen bzw. sowjetischen Koloss von neuem unterlegen. Die These vom Versiegen der westlichen Lebenskraft und von der Überlegenheit der russischen Vitalität schien wieder aktuell. Erneut war nun, ähnlich im Jahre 1815, von der „Allmacht“ Russlands bzw. der UdSSR die Rede. Dies um so mehr, als es der Moskauer Führung keine allzu großen Probleme bereitete, ihren neuen Einflussbereich, der sich nun bis zur Elbe ausdehnte, zu kontrollieren. Die Geschichte der westlichen Peripherie des 1945 entstandenen Ostblocks bestand keineswegs aus einer Kette von Auflehnungen, wie dies gelegentlich, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Revolutionsjahrs 1989, geschildert wird.  Im Gegenteil, Revolten stellten hier eher Episoden dar. Vorherrschend hingegen war ein gewaltiger Konformitätsdrang, worüber sich die Regimekritiker in der Tschechoslowakei, in der DDR und in einigen anderen Vasallenstatten Moskaus jahrzehntelang beklagten. Dass es der Moskauer Führung gelungen war, recht effiziente Kontrollmechanismen in ihrer 1944/45 neu erworbenen Einflusssphäre zu entwickeln, verwundert, wenn man bedenkt, welch verschwindende Minderheit die Kommunisten dort, von der Tschechoslowakei abgesehen, 1945 bildeten. Der amerikanische Diplomat und Russlandkenner George F. Kennan hatte z.B. 1945 die Ansicht vertreten, die UdSSR werde die Ausdehnung ihres Machtbereichs bis zur Elbe kaum verkraften, er sagte auch den baldigen Zusammenbruch ihrer Hegemonie voraus. Da Russland bzw. das Sowjetreich seinen traditionellen Einflussbereich in diesem Teil Europas erheblich überschritten hatte, schien die Voraussage Kennans durchaus plausibel. Vor 1914 war Polen das einzige Land in der Region, das sich unter russischer Kontrolle befunden hatte, und es bedurfte einer außerordentlichen Anstrengung der Kräfte des gesamten Zarenreiches, die unbotmäßige Provinz immer wieder zu unterwerfen.  Demgegenüber gab es in der ganzen Entwicklung des Ostblocks (1945-1989) im Grunde nur ein einziges Pendant dazu – der Ungarn-Aufstand von 1956. Die Interventionen in Ost-Berlin und in der Tschechoslowakei (1953, 1968) sind für Moskau wesentlich glimpflicher verlaufen. Die Auflösung des Ostblocks ereignete sich 1989 nicht in erster Linie unter dem Druck von unten, sondern war eher die Folge eines neuen außenpolitisches Konzepts der sowjetischen Führung, die das Festhalten an der Breschnew-Doktrin, die eine begrenzte Souveränität der Ostblockstatten postulierte, nicht mehr für opportun hielt.

Bis zum Beginn der Gorbatschowschen Perestroika stellte das sowjetische Regime für die Dogmatiker in den osteuropäischen Vasallenstaaten Moskaus einen ruhenden Pol dar. Mit ihm konnten sie immer rechnen, wenn sie innere Krisen aus eigner Kraft nicht bewältigen konnten, so 1953 in Ost-Berlin, 1956 in Budapest oder 1968 in Prag.  Unter Gorbatschow geriet aber dieser Pol in Bewegung.  Erst dieser Paradigmenwechsel in der Politik Moskaus gegenüber seinen osteuropäischen Juniorpartnern machte die Umwälzungen von 1989 möglich. Der von Gorbatschow unternommene Versuch, die erstarrten bürokratischen Strukturen der kommunistischen Staaten aufzulockern, verunsicherte die herrschenden Eliten viel stärker als frühere Massenauflehnungen oder Volksaufstände. Denn der Kampf gegen die echten oder die vermeintlichen Feinde der sogenannten „Diktatur des Proletariats“ stellte für die Parteien bolschewistischen Typs seit 1917 etwas Alltägliches dar.  Zum Wesen des Gorbatschowschen „neuen Denkens“ gehörte indes die Ablösung des „Freund-Feind-Konzepts“ durch den politischen Diskurs. Darauf reagierte die kommunistische Bürokratie in allen Ländern des Ostblocks höchst unbeholfen. Sobald sie sich auf den freien Meinungsaustausch einließ, in dem nur die besseren Argumente zählten, kamen ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten deutlich zutage.  Glasnost und Perestroika sollten ursprünglich den Anschluss der kommunistischen Regime an die Moderne, an den wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen ermöglichen. Tatsächlich leiteten diese Prozesse jedoch die Auflösung der Regime des „real existierenden Sozialismus“ ein.

Warum löste sich die Sowjetunion auf?

Dass es in den Ländern Ostmitteleuropas (Polen, DDR oder Ungarn) gelang, den „real existierenden Sozialismus“ relativ friedlich abzuschaffen, scheint noch einigermaßen verständlich. Diese Staaten befreiten sich von den Regimen, die die sowjetische Besatzungsmacht ihnen 1945 aufoktroyiert hatte. Die wichtigste strategische Reserve dieser Regime waren die Panzer der östlichen Hegemonialmacht. Der Verzicht Gorbatschows auf die Breschnew-Doktrin entzog aber den Vasallen Moskaus, wie bereits gesagt, ihre wichtigste Grundlage, und so brachen ihre Regime über Nacht zusammen. Eine ähnliche Entwicklung in Moskau hielt man indes in Ost und West zunächst für kaum denkbar. Schließlich war das kommunistische Regime in Russland, anders als in Osteuropa, infolge einer Revolution nach klassischem Muster entstanden. Es konnte viel tiefere Wurzeln schlagen als in Polen, in Ungarn oder in der DDR. Indes war den Moskauer Kommunisten ein beinahe identisches Schicksal wie ihren osteuropäischen Gesinnungsgenossen beschert. Auch ihnen fehlte der Wille zur Macht. Auch die UdSSR löste sich praktisch ohne Blutvergießen auf.

Viele Verfechter des imperialen Denkens im heutigen Russland betrachten das Treffen im weißrussischen Viskuli vom 8. Dezember 1991, das die Auflösung der UdSSR beschloss, als heimtückisches Komplott der erklärten Feinde Moskaus, die im Auftrage des Westens Russland als Großmacht zerstören wollten. Dabei ließen diese Verfechter der russischen Dolchstoßlegende die Tatsache außer Acht, dass die Entmachtung der KPdSU nach dem gescheiterten Putschversuch der kommunistischen Dogmatiker vom August 1991 und die Erosion der Idee des „proletarischen Internationalismus“, die bereits seit der Breschnew-Zeit zu beobachten war, dem Sowjetreich die wichtigste organisatorische und weltanschauliche Klammer entzog. Ohne diese Klammer war die Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsstrukturen schwer möglich.

Putins „Hegemonialprojekt“ und seine Schwachstellen

Wladimir Putin, der im Jahre 2005 die Auflösung der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, versucht das am 8. Dezember 1991 gefällte „Urteil der Geschichte“ mit Gewalt zu revidieren. So wie die russischen Zaren oder die sowjetische Führung wartet auch Putin mit einem eigenen Hegemonialprojekt auf. Ähnlich wie dies bei Nikolaus I. oder bei Stalin der Fall gewesen war, ist auch Putins Hegemonialkonzept mit einer Liebeserklärung an die russische Nation verknüpft.  Allerdings mit einem Unterschied. Obwohl die in den 1830er Jahren vom zarischen Minister für Volksaufklärung, Sergej Uwarow, formulierte nationalkonservative Ideologie mit ihren drei Grundpfeilern (Orthodoxie, Autokratie und Volkstum) ausgesprochen russozentrisch war, enthielt die damalige Politik des Zarenreiches auch übernationale Komponenten, die vor allem in der legitimistischen Idee der Verteidigung der alten Ordnung gegenüber den revolutionären Herausforderungen ihren Ausdruck fand. Nicht zuletzt deshalb war das Zarenreich, wie bereits geschildert, in den konservativen Kreisen des Westens recht populär.

Aber auch bei den stalinistischen Ideologen wurde die Verherrlichung der russischen Nation mit einem „aber“ versehen. Sie waren sich nämlich darüber im Klaren, dass die „russische Idee“ keineswegs dazu ausreichte, um als alleinige Klammer für mehr als 100 Völker des Sowjetreiches zu dienen. Auch bei unzähligen Sympathisanten der UdSSR im Westen oder bei den Befreiungsbewegungen in den Entwicklungsländern war die sogenannte „russische Idee“ nicht sonderlich populär. Sie unterstützten Moskau in erster Linie deshalb, weil es das Zentrum der „Weltrevolution“ war, und nicht darum, weil es die universale Bedeutung des Russentums propagierte. Um allen diesen ideologischen Zwängen gerecht zu werden, mussten die sowjetischen Führer, trotz ihres Hangs zum russozentrischen Denken, ihr „internationalistisches Gesicht“ wahren. Solche übernationalen Elemente fehlen indes im ideologischen Konstrukt Putins beinahe völlig. Trotz der zaghaften Versuche Putins, um die Gunst der westlichen Populisten oder um die Länder des „globalen Südens“ zu werben, ist sein wichtigster Adressat die sogenannte „Russische Welt“. Nur hier meint er, die dauerhaften und nicht nur vorübergehenden Verbündeten finden zu können. Dies weckt wiederum außerordentliche Ängste vieler postsowjetischer Staaten, auf deren Territorien sich kompakte russische Minderheiten befinden.  Die äußerst aggressive und zerstörerische Ukraine-Politik Moskaus stellt ein warnendes Signal für sie dar. Besonders deutlich spiegeln sich diese Ängste am Beispiel Kasachstans wider, das neben Belarus zu den wichtigsten Verbündeten Moskaus im Rahmen der sogenannten Eurasischen Wirtschaftsunion zählt. Wiederholt melden sich nationalistisch gesinnte russische Politiker zu Wort, die den kasachischen Staat als ein recht künstliches Gebilde bezeichnen bzw. russophobe Tendenzen in Kasachstan beklagen. So laufen die russischen Nationalisten durch die Radikalisierung ihrer antikasachischen Rhetorik in eine selbst gestellte Falle. Denn eine Konfrontation Moskaus mit Kasachstan würde auch unausweichlich zu einem erneuten Konflikt Moskaus mit China führen, das sehr enge Beziehungen mit seinem kasachischen Nachbarn pflegt. Die außenpolitische Isolation Moskaus wäre dann beinahe lückenlos.

Bereits der heldenhafte Freiheitskampf der Ukrainer, der recht effizient von vielen westlichen Staaten unterstützt wird, bereitet dem Putinschen Regime kaum lösbare Probleme. Sollten die russischen Verfechter einer neoimperialen Revanche ihren Expansionsdrang auch in Richtung Osten, z.B. gegen Kasachstan, richten, würden sie dann ihr Land endgültig in eine Sackgasse hineinmanövrieren. Dies würde erneut das Urteil des am 27. Februar 2015 ermordeten russischen Regimekritikers, Boris Nemzow, bestätigen, der bereits im April 2014 sagte, dass Putin lediglich ein kurzsichtiger Taktiker und kein Stratege sei. Es ist allerdings im heutigen Russland nicht ungefährlich die „Weisheit“ der russischen Staatsführung in Frage zu stellen, wie Nemzow dies seinerzeit tat. Davon konnte sich vor Kurzem der Direktor des renommierten Moskauer Nordamerika-Instituts, Walerij Garbusow, überzeugen, als er in der Moskauer Zeitung „Nesawissimaja gaseta“ vom 29. August 2023 Folgendes schrieb:

Das heutige Russland … mit seiner Sehnsucht nach einer verlorenen Größe wird jetzt durch ein postimperiales Syndrom geprägt…Es strebt, wenn auch bisher erfolglos, nach einer Revanche. … Es war allerdings nicht in der Lage, sich in einen realen Konkurrenten der USA oder Chinas zu verwandeln…Auch die neu erschaffene Staatsmythologie wird kaum dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen.

Kurz nach der Veröffentlichung dieses Artikels musste Garbusow seinen Dienst quittieren.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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