Fußnoten eines jammernden Boomers

Hat sich einen neuen Namen für seine Rubrik ausgesucht – Kolumnist Henning Hirsch macht aus der Boomer-Not eine Tugend und schreibt fortan Fußnoten.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Alle paar Jahre wird es Zeit, die Rubrik, unter der man seine Texte veröffentlicht, zu überprüfen, ob die noch zeitgemäß ist. Gestartet bin ich 2017 bei den Kolumnisten mit „Bei Hank im Wohnzimmer“ und berichtete von meinen (leider nur) fiktiven Treffen mit dem König der US-amerikanischen Untergrundliteratur in dessen kleinem Bungalow in East Hollywood, wo wir gemeinsam den illegalen Grenzübertritt der Tochter seiner mexikanischen Haushaltshilfe Conchita planten. Für ihn musste ich zwischendurch immer wieder im Supermarkt Bier und Whiskey besorgen, während ich bei Coke Zero und Kaffee blieb, weil ich 2017 bereits überzeugter Abstinenzler war und mir selbst ein Treffen mit meinem Lieblingsschriftsteller es nicht wert erschien, rückfällig zu werden; was Hank abwechselnd erzürnte, „Trink was mit mir, du elender Hurensohn!“, und ihn beschämte, „Ich wär froh, wenn ich von dem Fusel endlich loskäme“. Im Anschluss schrieb ich ein Dutzend Kolumnen, wie man ans Saufen kommt, was beim Saufen mit einem passiert und – in diesem Zusammenhang am wichtigsten – wie man vom Saufen wieder wegkommt. Dann wechselte ich das Genre und konzentrierte mich auf die Themen, die täglich in Facebook so reinflattern mit Schwerpunktsetzung auf Shitstorms. Ich labelte deshalb den Rubriknamen um und firmierte fortan unter: Aus der digitalen Hölle.

Aus der Boomer-Not eine Tugend machen

Vor ein paar Tagen befand ich mich in einer kleinen Diskussion – selbstverständlich in Facebook. Twitter, Instagram, Telegram, Tiktok, und wie die anderen Plattformen noch so heißen, nutze ich nicht. Und im realen Leben gibt’s diese Diskussionen ohnehin nicht. Zumindest nicht mit den Menschen, mit denen ich verkehre – über das spannende Thema „Moralischer Anstand und Achtsamkeit in den sozialen Medien“ und mir wurde bereits nach meinem Kommentar Nummer 2 die Debattenfähigkeit abgesprochen, weil ich als alter weißer Mann (vulgo Boomer) weder über das notwendige Einfühlungsvermögen noch über die geistige Fähigkeit verfüge, um mich in gebührender sittlicher Reife dazu äußern zu dürfen. Und ich dachte spontan: Weshalb aus meiner Boomer-Not keine Tugend und das zu meinem neuen Kolumnisten-Merkmal machen? „Fußnoten eines jammernden Boomers“ klingt zwar nicht ganz so sexy wie das Original „Notes of a dirty old man“, aber mir gefällt mein Plagiat trotzdem recht gut. Zumal wir im prüden Facebook ohnehin nicht allzu dirty schreiben dürfen und ein Plagiat von Bukowski für die zumeist bis hierhin schon gar nicht mehr mitlesende Kundschaft in den sozialen Medien echt ausreicht. Alles andere wäre Perlen vor die Säue werfen. Denn egal, was man schreibt: zu 90 Prozent erntet man dämliche Kommentare dafür. Wobei dämlich eigentlich nicht weiter schlimm ist. Ich schreib ebenfalls oft dämliche Kommentare. Was weitaus schlimmer ist: die überwiegende Anzahl der heutigen Kommentare kommt völlig unlustig daher. Und diese galoppierend zunehmende Humorlosigkeit deprimiert mich manchmal wirklich.

Neue deutsche Humorlosigkeit

Nie war ein Zeitalter derart spaßbefreit wie das, was wir heute in Facebook & Co. zu lesen bekommen. Nun war ja der deutschsprachige Raum noch nie bekannt dafür, eine Hochburg des feinsinnigen Humors zu sein. Man war früher über kleine Sachen wie Loriot, Didi Hallervorden und Heinz Erhardt schon froh und wusste als Rheinländer, dass es im Abstand von 52 Wochen immer mal wieder ne ganz lustige Büttenrede zu hören gibt. Aber das halt zu ner Zeit, als Büttenreden noch nicht auf ihre politische Korrektheit hin überprüft wurden. Als man noch nicht jeden Comedian (die damals nicht Comedians genannt wurden und von denen es auch viel weniger als heute gab, wo wir von einer Comedian-Plage heimgesucht werden) dahingehend analysierte, ob er in seinem Vortrag eventuell irgendeiner Minderheit an den Karren gepisst haben könnte. Und von diesen Minderheiten gibt’s ja plötzlich mehr als Stechmücken an der Adria, als ich dort in den 70-er Jahren mit meinen Eltern auf nem Campingplatz in Riccione in Urlaub war. Täglich melden sich neue Minderheiten und fordern als erstes, dass man keine Witze über sie machen darf, bevor sie als zweites eine neue Bezeichnung für sich präsentieren und als drittes Sonderrechte proklamieren. Wer weiterhin die alte Bezeichnung verwendet (egal, ob gedankenlos oder mit voller Absicht) ist bestenfalls ein Boomer – wobei Boomer in diesem Zusammenhang als Synonym für ewiggestrig, hart an der Schwelle zur Demenz, steht –, wenn ihm nicht Sexismus, Misogynie oder gar Rassismus um die Ohren gehauen werden.

Superschlimm ist oft noch nicht mal mittelschlimm

Nun kann man natürlich darüber diskutieren, ob etwas mehr moralischer Anstand und Achtsamkeit uns nicht allen gut zu Gesicht ständen. Und mir als Kolumnist ganz besonders. Aber ich geb’s unumwunden zu: mit meinem moralischen Anstand war’s noch nie zum Besten bestellt. Was andere superschlimm finden, kratzt mich häufig wenig und bei näherer Betrachtung entpuppen sich viele angeblich superschlimme Sachen dann doch als maximal mittelschlimm. Und mittelschlimme Sachen gibt’s echt viele auf diesem Planeten, weshalb es nicht lohnt, sich über jede mittelschlimme Sache aufzuregen. Zumindest Boomer sollten das nicht tun, denn ständige Aufregung treibt den Blutdruck nach oben und ist auf Dauer schlecht für die Gesundheit. Die vernünftigere Einstellung ist es deshalb, dass einem viele Sachen, wenn sie einen nichts angehen, egal sein sollten. Wie die Welt ohnehin eine bessere – auf jeden Fall eine weniger aufgeregte – wäre, wenn wir uns primär mit dem beschäftigten, was uns persönlich angeht und vor allem, wovon wir was verstehen. Kolumnisten haben von nix Ahnung und schreiben trotzdem was darüber, wenden Sie jetzt ein? Stimmt, aber deshalb nennen wir unsere Texte ja auch Kolumnen und nicht Fachaufsätze. Und wenn wir nichts mehr schreiben, gäb’s für Sie von heute auf morgen nichts mehr, worüber Sie sich aufregen können. Dann würde Ihnen sicher was fehlen.

Okay, dass Sie auf moralischem Anstand pfeifen, wissen wir nun, Herr Hirsch, aber was ist mit der Achtsamkeit, wie halten Sie es mit der? Sagen Sie immer ungefragt jedem Ihre Meinung ohne Rücksicht auf dessen Gefühle? Ich kann Sie beruhigen: tue ich nicht. Früher nannte man das Höflichkeit. Und darauf, also höflich mit seinen Mitmenschen umgehen – darauf legten meine Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder großen Wert. Wenn Sie sich also durch eine meiner Kolumnen auf den Schlips getreten oder ins Dekolleté gegrapscht fühlen sollten, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass ich Sie ebenfalls im realen Leben treten oder begrapschen würde. Wobei wir uns im realen Leben ohnehin nie begegnen würden, weil ich als Eigenbrötler eher zurückgezogen lebe und mich mit Menschen, die ständig was von moralischem Anstand und Achtsamkeit faseln, eh nicht treffe. Das heißt: unser Kontakt beschränkt sich aufs rein Virtuelle. Und das ist für beide Seiten das Vernünftigste.

Kolumnen sind auch nur Fußnoten

Um zum Ende zu kommen – denn Kolumnen sollten nicht allzu lang sein –, halten wir für heute 2 Dinge fest:
▪Noch nie in der langen Geschichte der deutschen Humorlosigkeit ging es bei uns derart humorlos zu wie seit dem Tag, als gefordert wurde, dass all unsere Texte und Reden stets den Ansprüchen von moralischem Anstand und Achtsamkeit genügen müssen (die Kulmination dieser Humorlosigkeit entdeckt man meist in den Kommentaren, die unter den Kolumnen stehen)
▪Der Hirsch hat sich einen neuen Namen für seine Rubrik ausgedacht (ja ja, von Bukowski plagiiert): Fußnoten eines jammernden Boomers (Fußnoten deshalb, weil das, was ich schreibe, echt nicht wichtiger ist).

Das war’s fürs erste.
Weitere Boomer-Kolumnen in Vorbereitung.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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