Zu viel Krieg, zu wenig Erzählung

Trotz der heute Nacht eingesammelten 4 Oscars bleibt die aktuelle Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“ hinter ihren beiden Vorläufern von 1930 und 1979 (weit) zurück. Eine Filmkolumne von Henning Hirsch.

Bild von mohamed_hassan auf Pixabay

Heute Nacht wurden die diesjährigen Academy Awards, dem breiten Publikum eher unter ihrem Spitznamen „Oscar“ bekannt, verliehen. Bester Film = die, teils in einem Paralleluniversum spielende, Scifi-Komödie „Everything Everywhere All at Once“. Die Trophäe für den besten internationalen Film erhielt die deutsche (Netflix-) Produktion „Im Westen nichts Neues“.

Im Folgenden geht es einzig um den zweitgenannten Streifen.

Meine Kurz-Rezi vom Januar

Ich habe die aktuelle Version (die bisher dritte) von „Im Westen nichts Neues“ vor ein paar Wochen zu Hause auf dem Sofa angeschaut. Diesen Post tippte ich im Anschluss in mein Facebook-Profil:

„Die gute Nachricht: Der Film ist besser als sein schlechter Ruf hier in Facebook. Für eine deutsche Produktion – da erwarte ich eh nie allzu viel – ist er ohnehin okay.

Zugegebenermaßen ist es nicht so einfach, einen 400-Seiten-Roman auf die Länge von 2 Stunden 20 Minuten zu kondensieren, ohne dass (teils wichtige) Erzählpassagen unter den Tisch fallen. Allerdings fällt in dieser Verfilmung ne Menge Wichtiges unter den Tisch. Nämlich:
(1) Vorgeschichte 1: die Verführung der Jugendlichen durch hyperpatriotische Lehrer
(2) Vorgeschichte 2: der Drill auf dem Kasernenhof
(3) Zwischengeschichte 1: Paul Bäumer auf Heimaturlaub. Unfähig, vom täglichen Horror des Krieges zu erzählen. Nach kurzer Zeit froh, wieder an die Front zu seinen Kameraden zurückzukehren
(4) Zwischengeschichte 2: Bäumer verwundet für ein paar Wochen im Lazarett.

Die Netflix-Produktion konzentriert sich zu 95 Prozent auf die Kampfhandlungen im idiotisch-infernalischen Stellungskrieg, bei denen an 1 Tag 50 Meter Geländegewinn erzielt und am darauf folgenden Tag wieder verloren werden. Und so geht es knapp 4 Jahre sinnlos u blutig hin u her. Jetzt ist gegen Konzentration auf das Wesentliche generell nichts einzuwenden; jedoch sind die Gräuel an der Westfront nur 1 Aspekt, den Remarque in seinem Roman beleuchtet. Genauso wichtig – wenn nicht sogar wichtiger – sind die beiden Vorgeschichten. Denn ohne patriotische Verführung in der Schule u den unmenschlichen Drill in der Kaserne wären die grausamen Kampfhandlungen nicht möglich. Von daher bedeutet Fokussierung in dieser Verfilmung leider nichts Positives. Die Konzentration aufs reine Kampfgeschehen macht die Handlung auswechselbar. Ähnliches hat man schon 100x in anderen Kriegsfilmen gesehen. Auch die Akteure bleiben blass, weil sie immerfort wild um sich schießen, in Deckung gehen, flüchten, schreien, kotzen, weinen u sterben. Die persönliche Geschichte des Helden fehlt völlig.

Willkürlich rangefummelt sind die eingestreuten Sequenzen mit Ludendorff im Hauptquartier in Spa u Erzberger im Wald von Compiegne. Wird beides mit keinem Wort in der Originalvorlage erwähnt. Und auch das lakonische Ende des Protagonisten (hierauf zielt nämlich der Titel „Im Westen nichts Neues“) ist in der Verfilmung von 1930 viel besser dargestellt als in der aktuellen Produktion. Die Lewis-Milestone-Version von 1930 bleibt unerreicht.

Von mir gibt’s 5 (von 10) Punkten. 4 davon für Bühnenbild & Kostüme. Ob das für einen Oscar reicht, scheint mir allerdings fraglich zu sein.“

Netflix-Filme jetzt auch für kurze Zeit im Kino

Getäuscht hatte ich mich, was die Oscars anbelangt. Der Film heimste insgesamt 4 Academy Awards ein:
(1) Bester internationaler Film
(2) Filmmusik
(3) Kamera
(4) Szenenbild.

Nun kann man generell die Frage stellen, weshalb gute Filme – egal, in welchem Land sie hergestellt werden – nochmal in US-amerikanische und ausländische Produktionen unterteilt werden müssen. Warum gibt es pro Verleihung nicht 1 „Bester Film“ und das war’s? Wäre „Im Westen nichts Neues“ dann eventuell gar nicht in die Shortlist gelangt? Müßig, darüber zu spekulieren. Es ist, wie es ist bzw. die Academy of Motion Picture Arts and Sciences macht das halt seit knapp 100 Jahren so. Bester Film (ohne Zusatz) wird deshalb IMMER ein Hollywood-Streifen. Eine weitere Voraussetzung besteht darin, dass der Film ein paar Wochen lang in den Kinos lief. Weshalb Netflix mittlerweile einige seiner – an und für sich fürs heimische Sofa gedachte – Produktionen tatsächlich für eine kurze Zeitdauer im Rex am Ring in Köln oder der Cineworld Recklinghausen zeigt, um berechtigt zu sein, an solchen Verleihungen teilnehmen zu können.

Ich persönlich tue mich mit vielen Filmen, die das rote N auf dem Cover tragen, schwer. Oft erreichen sie nicht das Niveau der Produktionen renommierter Studios. Zu langatmig erzählt (ganz schlimm bspw. „The Irishman“), oberflächlich, die Figuren haben zu wenig Tiefe, die Stories sind trivial, oder die Geschichten sind der xy-te Abklatsch eines altbekannten Themas. Ich mache deshalb um Netflix-Produktionen normalerweise einen großen Bogen.

Der wichtigste Aspekt des Romans wird komplett ausgeklammert

Bei „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger stört vor allem der Wegfall von rund zwei Dritteln des Romans und die 90 prozentige Konzentration aufs reine Kriegsgeschehen. Das wird zwar fulminant in Szene gesetzt; jedoch hat man Ähnliches schon in zig anderen (Anti-) Kriegsfilmen gesehen. Komplett fehlen die diabolische Verführung der jungen Männer im Schulunterricht durch patriotisch besoffene Lehrer und der unmenschliche Drill in der Kaserne. In der Familie meines Vaters hatte WK1 sehr viel härter eingeschlagen als WK2. Die drei älteren Brüder meines Großvaters und der Mann seiner Schwester fielen alle 4 bereits im ersten Kriegswinter. Und dennoch meldete sich mein Großvater als jüngstes von 5 Kindern (von denen 3 bereits auf dem Feld der Ehre ihr Leben gelassen hatten) im Frühjahr 1915 als 17-jähriger freiwillig zum Armeedienst. Gegen den großen Widerstand seiner Eltern (meiner Urgroßeltern), aber darin bestärkt von seinem Klassenlehrer. Remarque schildert die Indoktrination durch die alten Oberstudienräte über mehrere Kapitel. Der aktuellen Netflix-Produktion ist dieser – mMn sehr wichtige – Aspekt weniger als 5 Minuten wert. Und „Im Westen nichts Neues“ funktioniert nicht richtig, wenn man die Vorgeschichte in der Schule nicht miterzählt. Das ist der m.E. größte Mangel an diesem Streifen.

In den beiden Vorläufer-Produktionen (1930 und 1979) wird das den Schülern eingetrichterte Mantra „Dulce et decorum est pro patria mori“ natürlich thematisiert. Und deshalb überzeugen diese beiden Filme auch mehr als der heutige Oscar-Gewinner. Unerreicht weiterhin – wie oben schon geschrieben – die Lewis-Milestone-Version von 1930.

Und weshalb man nachträglich eine Geschichte dranfummelt, die im Roman gar nicht drinsteht (die Waffenstillstandsverhandlungen im Wald von Compiègne), wird auf Ewig das Geheimnis des Drehbuchautors bleiben.

Zu viel Krieg, zu wenig Erzählung

Um es abschließend auf den Punkt zu bringen: der Film weicht WEIT von der Vorlage ab, den Charakteren mangelt es an Tiefe, noch nicht mal zum Protagonisten Paul Bäumer (Felix Kammerer) baue ich als Zuschauer ein emotionales Verhältnis auf, die restlichen Figuren sind noch blasser gezeichnet und deshalb beliebig austauschbar. Die Story ergötzt sich am Kriegsgeschehen, die Kamera schwelgt in Blut und hervorquellenden Eingeweiden, die Requisite (Szenenbild, Kostüme) ist wirklich gut gemacht – das war’s allerdings schon. Bereits hundert Mal in anderen (Anti-) Kriegsfilmen gesehen. Aber das, worauf es eigentlich ankommt, nämlich eine spannende Geschichte zu erzählen, fiel bei dieser Bilderflut leider völlig unter den Schneidetisch. Wie man es besser macht, kann man in „1917“ von Sam Mendes sehen.

Mit 5 (von 10) Punkten deshalb schon gut bewertet.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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