Aufstieg und Fall eines „proletarischen Imperiums“ – zum 100. Jahrestag der Gründung der UdSSR

Vor 100 Jahren – am 30. Dezember 1922 – wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegründet. Der Name des neuen Staates enthielt keinen Hinweis darauf, dass es sich bei diesem Vielvölkerreich um einen Nachfolger des zarischen bzw. des russischen Imperiums handelte. Der Begriff „Russland“ war in seinem Namen nicht enthalten. In diesem Sachverhalt spiegelt sich die zwiespältige Einstellung der Bolschewiki zur Nationalitätenfrage deutlich wider.


Die Bipolarität des Bolschewismus

Die Bolschewiki hatten im Oktober 1917 die Macht in Russland – dem „schwächsten Glied der Kette der imperialistischen Staaten“ (Lenin) – mit dem Ziel erobert, die ganze Kette durch die Weltrevolution zu beseitigen. Ihren Kampf um die Macht in Russland fassten sie zunächst ausschließlich als Dienst an der Weltrevolution auf, nicht als Selbstzweck. Sie waren im Übrigen davon überzeugt, dass ohne die Hilfe der Revolution in den hochentwickelten Industrieländern, das bolschewistische Regime in Russland den Zweikampf mit dem „Weltkapital“ nicht werde bestehen können. Die tatsächliche Entwicklung der Jahre 1918-20 hat die Prognosen und die Erwartungen der Bolschewiki widerlegt. Sie haben ihre Macht in Russland ohne direkte Unterstützung einer Revolution im Westen behaupten können. Ihre Macht blieb allerdings auf das Land, das sie zunächst nur als Sprungbrett für die Weltrevolution angesehen hatten, beschränkt. So mussten sie sich in einem immer stärkeren Ausmaß an die außenpolitischen und geopolitischen Sachzwänge des von ihnen regierten Reiches anpassen. Dadurch wurde die sowjetische Außenpolitik ausgesprochen ambivalent. Moskau war einerseits die Hauptstadt einer Großmacht und andererseits zugleich das Zentrum der kommunistischen Weltbewegung, das Zentrum der siegreichen proletarischen Revolution. Natürlich haben sich die Akzente in der sowjetischen Außenpolitik im Laufe der Zeit verschoben. Das Land begann allmählich zur traditionellen Großmachtpolitik zurückzukehren und die Politik der kommunistischen Weltbewegung den Interessen des sowjetischen Staates anzupassen. Dennoch ist trotz dieser Akzentverschiebung die weltrevolutionäre Komponente aus der sowjetischen Außenpolitik niemals ganz verschwunden. Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen, die Doppelgleisigkeit der Außenpolitik, blieben praktisch bis zur Auflösung der Sowjetunion bestehen. Gerade diese Bipolarität der sowjetischen Politik erschwerte den Außenstehenden oft ihre zutreffende Einschätzung. Dies betraf nicht zuletzt manche national gesinnte Kreise im antibolschewistischen Lager, die bereit waren, nach der Niederlage der „weißen“ Gegner der „Sowjetmacht“ im Bürgerkrieg vor den Bolschewiki zu kapitulieren, und zwar aus „Dankbarkeit“ für die weitgehende Wiederherstellung des territorialen Bestandes des russischen Reiches durch die sowjetische Führung. Dadurch hätten die „weißen Ideen“ zumindest auf Umwegen gesiegt, meinten die Vertreter dieser Gruppierungen. Die Bolschewiki hätten ihre politische Laufbahn als militante Feinde des russischen Reiches, als Verfechter seiner totalen Desintegration begonnen. Letztendlich hätten sie sich aber als seine Wiederhersteller und Retter erwiesen. Zwar sei der bolschewistische Staat in seiner Form immer noch „rot“, internationalistisch und revolutionär, sein Inhalt sei aber „weiß“: patriotisch und national. Mit besonderer Vehemenz vertrat diese Thesen die sog. „Smena-wech“ (Umstellung der Wegmarken)-Bewegung, die sich zu Beginn der 20er Jahre im russischen Exil zu entwickeln begann.

Es fand in der Tat eine paradoxe Umkehrung der Rollen der Bolschewiki und ihrer „weißen“ Gegner statt. Die Weißen, die in den Kampf gegen die Bolschewiki gezogen waren, um das „einige und unteilbare“ Russland in seinen alten Grenzen wiederherzustellen, waren in ihrem Kampf auf die Hilfe ausländischer Mächte angewiesen. Die Bolschewiki hingegen, die im Brest-Litowsker Frieden vom März 1918 eine beispiellose Demütigung Russlands hingenommen hatten, waren in ihrem Kampf gegen die „weißen“ Truppen und gegen ausländische Interventionsarmeen ausschließlich auf die Kraftreserven Russlands angewiesen. So schienen sie nun nicht nur Verteidiger der „Errungenschaften der Revolution“, sondern auch Verteidiger der Interessen des russischen Staates zu sein. Eine national gesinnte Emigrantengruppierung – die 1921 entstandene „Eurasierbewegung“ – vertrat 1926 sogar die Meinung, das russische Volk habe sich des Bolschewismus bedient, um den territorialen Bestand Russlands zu retten und um die staatspolitische Macht Russlands wiederherzustellen.

All diese Aussagen zeugen von einer weitgehenden Verkennung der Janusköpfigkeit und der Bipolarität des Bolschewismus. Er war nämlich zugleich national und international, partikular und universal. Mit keinem von diesen beiden Polen identifizierte er sich gänzlich. Er neigte dazu, sowohl national gesinnte als auch revolutionär gesinnte Strömungen lediglich zu instrumentalisieren. Deshalb musste er auch beinahe zwangsläufig seine Verbündeten enttäuschen, die ihm wiederholt Verrat an den nationalen bzw. an den weltrevolutionären Zielen vorwarfen.

Zentralismus vs. Föderalismus – Die Entstehung der Sowjetunion

Nach der weitgehenden Wiederherstellung des territorialen Bestandes des zarischen Reiches in den Jahren 1918-1920 durch die Bolschewiki begann in der Partei eine heftige Diskussion über die Neustrukturierung dieses Territoriums. Der von den Bolschewiki kontrollierte Machtbereich setzte ich aus mehreren quasi unabhängigen Sowjetrepubliken zusammen, von denen die wichtigste die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) war, die 92% des von den Bolschewiki beherrschten Territoriums umfasste, und in der etwa 70% der Bevölkerung aller Sowjetrepubliken lebten. Die Beziehungen zwischen der RSFSR und den anderen Sowjetrepubliken wurden mit Hilfe von bilateralen Verträgen geregelt, die die kleineren Partner vieler souveräner Rechte beraubten – etwa im militärischen, wirtschaftlichen oder außenpolitischen Bereich. Dieses Vertragswerk stellte aber ein Provisorium dar, die Bolschewiki wollten ihm so schnell wie möglich ein Ende bereiten. Dabei wurde über zwei verschiedene Lösungen kontrovers diskutiert. Stalin, der bis 1923 das Amt des Volkskommissars für die Nationalitäten innehatte, favorisierte den sog. „Autonomisierungsplan“. Alle Sowjetrepubliken sollten in die RSFSR eingegliedert werden und lediglich über territoriale Autonomie verfügen. Gegen diesen Plan protestierten viele nichtrussische Kommunisten heftig, die für ihren Kampf einen mächtigen Verbündeten gewinnen konnten, nämlich Lenin selbst. Für Lenin stellte der „Autonomisierungsplan“ eine Äußerung des „großrussischen Chauvinismus“ dar, der von einer Gleichberechtigung kleinerer Nationen nichts hören wollte. Obwohl Lenin seinen Kampf gegen den „großrussischen Chauvinismus“ vom Krankenbett aus führte – im Dezember 1922 hatte er einen zweiten Gehirnschlag erlitten, der ihn partiell gelähmt hatte -, konnte er sich im Wesentlichen gegen Stalin durchsetzen. Die im Dezember 1922 gegründete Sowjetunion erhielt den von Lenin favorisierten föderalistischen Aufbau. In ihrer inneren Struktur lehnte sich die Sowjetföderation im Großen und Ganzen an die RSFSR an. Die oberste Instanz im Staate stellte nun der Unionsrätekongress dar, der ein Zentrales Exekutivkomitee und ein Präsidium des Exekutivkomitees wählte. Das Exekutivkomitee setzte sich aus einem Unions- und einem Nationalitätenrat zusammen. Im Juli 1923 wählte das Zentrale Exekutivkomitee der UdSSR die erste Unionsregierung – den Rat der Volkskommissare der UdSSR.

Einzelne Sowjetrepubliken erhielten, zumindest auf dem Papier, souveräne Rechte, z.B. das Recht des „freien Austritts aus der Sowjetföderation“. Dieses Austrittsrecht stellte allerdings bloß eine Formalität dar, denn die Kommunistische Partei der Sowjetunion – die einzige Institution im Lande, die über die Eigenschaft eines politischen Subjekts verfügte – war, anders als der sowjetische Staat, nicht föderalistisch, sondern zentralistisch aufgebaut, und solange die bolschewistische Partei die wichtigste einigende Klammer der Sowjetföderation bildete, waren die Versuche der Verfechter der Eigenständigkeit der einzelnen Sowjetrepubliken, die formellen Souveränitätsrechte in reale umzuwandeln, zum Scheitern verurteilt.

Russozentrisch oder international?

Da die Bolschewiki sich als Fortsetzer des Marxschen Vermächtnisses betrachteten, erbten sie von den Klassikern des Marxismus auch deren Einstellung zur nationalen Frage, die sich im folgenden berühmten Satz des „Kommunistischen Manifestes“ vom Jahre 1848 spiegelte:

Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.

Die Gründer des bolschewistischen Regimes fühlten sich dem antinationalistischen Vermächtnis des „Kommunistischen Manifestes“ verpflichtet.

Dabei darf man nicht vergessen, dass Russland bis zum Sturz der Romanow-Dynastie im Februar 1917 kein Nationalstaat, sondern ein dynastisch, also vormodern geprägtes Vielvölkerreich war. Die nach dem Sturz des Zaren errichtete „erste“ russische Demokratie dauerte viel zu kurz, um der russischen Staatlichkeit eine moderne Identität zu verleihen. So sprang Russland infolge der bolschewistischen Revolution über Nacht aus einem vormodernen bzw. vornationalen in ein postnationales Zeitalter. Ungestraft kann man allerdings solche geschichtlichen Sprünge nicht vollziehen. Denn die unterdrückten nationalen Gefühle entfalteten sich und gärten unter der offiziellen internationalistischen Oberfläche.

Die Ausrichtung der Sowjetunion auf einen eventuellen Krieg gegen das Dritte Reich und Japan in den 1930er Jahren trug wesentlich zu tiefgreifenden ideologischen Änderungen im Lande bei. Es fand nun eine immer stärkere „Russifizierung“ des Bolschewismus statt. Das Regime versuchte sich tiefer im nationalen Boden Russlands zu verankern, sich mit der Geschichte des eigenen Landes stärker zu identifizieren. Bis dahin wurde die Idee der nationalen Größe Russlands in erster Linie von den „weißen“ Gegnern der Bolschewiki vertreten. Und sogar nach dem verlorenen Bürgerkrieg verkörperten die im Exil agierenden antibolschewistischen Gruppierungen in ihren Augen – aber auch in den Augen der Bolschewiki – die imperiale Kontinuität. Die Bolschewiki hingegen lebten, wie bereits gesagt, zunächst auf Kriegsfuß mit dieser Kontinuität und mit dem sogenannten großrussischen Chauvinismus, den sie wesentlich schärfer bekämpften als den Nationalismus der kleineren Völker des Imperiums. In der sowjetischen Historiographie dominierte zunächst die Schule Michail Pokrowskis, die das vorrevolutionäre Russland als Inbegriff der nationalen Unterdrückung ansah. Sie interpretierte die russische Geschichte vor allem vom revolutionären Klassenstandpunkt aus und war nicht bereit, sich mit der vergangenen Größe Russlands zu identifizieren. Dieser Interpretation der russischen Geschichte stand Stalin bereits in den 1920er Jahren skeptisch gegenüber. Er gehörte zu denjenigen bolschewistischen Führern, die frühzeitig erkannten, dass ein vollständiger Bruch mit der russischen Vergangenheit einerseits unerreichbar, andererseits für das sowjetische Regime keineswegs vorteilhaft sei. Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, als die Kriegsgefahr immer aktueller wurde, intensivierte sich der Nationalisierungsprozess des Bolschewismus. Die Pokrowski-Schule wurde seit 1934 immer häufiger von offiziellen Stellen angegriffen, man warf ihr Schematismus und Vereinfachungen vor. Die Idee der nationalen Größe Russlands durfte nun offiziell propagiert werden.

Die stalinistische Führung begann sich jetzt der russischen Geschichte auf ähnliche Weise zu bemächtigen, wie dies zuvor die italienischen Faschisten und die Nationalsozialisten mit ihrer jeweiligen nationalen Geschichte getan hatten. Die Wiederanknüpfung an nationale Traditionen sollte dem stalinistischen Regime angesichts der immer stärkeren Bedrohung von außen eine zusätzliche Legitimation verschaffen. All diese Tendenzen haben sich nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Kriegs zusätzlich verstärkt. Mit dem feinen Gespür eines Überlebenskünstlers appellierte Stalin an den russischen Patriotismus, an eine Kraft also, die bereits vielen Moskauer Herrschern geholfen hatte, tödliche Gefahren zu überstehen.

Dennoch hat sich der Bolschewismus mit der nationalen russischen Idee niemals gänzlich identifiziert. Die Verherrlichung der russischen Nation wurde von den bolschewistischen bzw. stalinistischen Ideologen immer mit einem „aber“ versehen. Sie waren sich nämlich darüber im Klaren, dass der russische Nationalismus keineswegs ausreichte, um als alleinige Klammer für mehr als hundert Völker der Sowjetunion zu dienen. Auch in vielen osteuropäischen Staaten, die nach 1945 zum Bestandteil des „äußeren“ Sowjetimperiums wurden, war die russische Nationalidee keineswegs populär. Nicht anders verhielt es sich auch mit den unzähligen Sympathisanten der Sowjetunion sowohl im Westen als auch in den Entwicklungsländern. Sie unterstützten Moskau in erster Linie deshalb, weil es das Zentrum der „Weltrevolution“ war und nicht darum, weil es die universale Bedeutung des Russentums propagierte. Um allen diesen Zwängen gerecht zu werden, mussten die sowjetischen Führer, trotz ihres Hangs zum russozentrischen Denken, ihr „internationales Gesicht“ wahren.

Dieses Spannungsverhältnis zwischen der internationalistischen Phraseologie und den halbwegs geduldeten und instrumentalisierten nationalen Symbolen stellte den roten Faden der Entwicklung der Sowjetunion praktisch bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1991 dar.

Russlands Rolle bei der Erosion des zarischen und des sowjetischen Reiches

Viele Beobachter in Ost und West wei­sen auf die sprengende Kraft der nationa­len Bewegungen an den Rändern der UdSSR hin, die zur Auflösung des sowjetischen Imperi­ums erheblich beitrugen. Dennoch wären die nichtrussischen Völker allein wohl kaum imstande gewesen, den Zerfall des Sowjet­reiches herbeizuführen. Ohne die Abwendung der aktivsten Teile der russischen Gesellschaft von ihrem eigenen Staat und von der in ihm herrschenden Doktrin wäre die Los­lösung der nichtrussischen Peripherie vom Zentrum kaum denkbar gewesen:

Zum entscheidenden Faktor beim Zerfall der UdSSR war … nicht die Haltung des Baltikums, sondern Russlands geworden,

sagte später in diesem Zusammenhang Michail Gorbatschow. Er meinte damit nicht zuletzt die Souveränitätserklärung Russlands, die der russische Kongress der Volksdeputierten am 12. Juni 1990 proklamierte. Zwar gehörten andere Sowjetrepubliken, so z. B. Estland, Litauen oder Lettland, zu den Vorreitern auf diesem Gebiet und hatten entsprechende Erklärungen bereits in den Jahren 1988-89 verabschiedet. Die Souveränitätserklärung Russlands – des Kernlandes der UdSSR – wog aber besonders schwer und trug zusätzlich zur Aushöhlung der bestehenden föderalen Strukturen bei.

In diesem Punkt ähnelten die Prozesse von 1989-1991 denjenigen von 1917. Denn auch die Auflösung des zarischen Reiches war nur deshalb möglich, weil große Teile des russischen Staatsvolkes sich von dem damals herrschenden System abwandten. Die erschreckende Leere, die den Zarenthron sowohl während der Revo­lution von 1905 als auch im Februar 1917 umgab, zeigte, dass die Romanow-Dynastie ihre Verwurzelung bei den eigenen Untertanen weit­gehend verloren hatte. Der Zarenglaube der russi­schen Volksschichten zer­bröckelte und wurde in einem immer stärkeren Ausmaß durch den Glau­ben an eine Revolution abgelöst.

Als Michail Gorbatschow siebzig Jahre später versuchte, mehr De­mokratie zu wagen und das Unfehlbar­keitsdogma der Partei aufgab, stellte es sich heraus, dass die kommunistische Idee in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert war wie die Zaren­idee zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Mas­senterror war für das Bestehen des kom­munistischen Regimes, zumindest in sei­nem nachstalinistischen Stadium, nicht unbedingt er­forderlich. Hier haben sich manche Klassi­ker der Totalitarismus-Theorie geirrt. Auch die totale Kontrolle über die Produk­tionsmittel stellte keine unerlässliche Vor­aussetzung für das Überdauern des Sy­stems dar. Das Vorhandensein eines star­ken wirtschaftlichen Privatsektors in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik (1921-1928) hat die Alleinherrschaft der Bolschewiki in keiner Weise gefährdet. Eines konnte aber dieses Regime nicht verkraften – den freien Wettkampf von Ideen.

Die Abkehr vom „proletarischen Internationalismus“ und die Auflösung der UdSSR

Das sowjetische Vielvölkerreich wurde nicht nur durch Gewalt zusammengehalten. Es basierte wie bereits gesagt auf der Ideologie des „proletarischen Internationalismus“, die die wichtigste weltanschauliche Klammer des sowjetischen Imperiums darstellte. Der Wegfall dieser Klammer infolge der Entmachtung der KPdSU nach dem gescheiterten Putschversuch vom August 1991 stellte das gesamte imperiale Gefüge in Frage. Während des August-Putsches bestätigten beinahe alle Unionsrepubliken ihre bereits früher erfolgten Souveränitätserklärungen bzw. erklärten sich für unabhängig. Am 8. Dezember 1991 fand ein Treffen der Präsidenten Russlands, der Ukraine und des Vorsitzenden des Obersten Sowjets Weißrusslands im weißrussischen Viskuli statt, die erklärten, „dass die UdSSR als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität aufhört zu bestehen“. Anstelle der UdSSR beschlossen die Unterzeichner, einen viel lockereren Staatenbund – die Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten – zu gründen. Viele Verfechter des imperialen Gedankens in Russland betrachten das Treffen vom 8. Dezember 1991 als heimtückisches Komplott der erklärten Feinde Moskaus, die im Auftrag des Westens Russland als Großmacht zerstören wollten. Dabei ließen die Verfechter dieser russischen „Dolchstoßlegende“ die Tatsache außer Acht, dass die Erosion des kommunistischen Systems und der kommunistischen Ideologie dem Sowjetreich die wichtigste organisatorische und weltanschauliche Grundlage entzog. Ohne diese Grundlage war die Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsstrukturen schwer möglich.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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