Keine Binde macht’s auch nicht schlimmer
Früher hätten wir über die zu späte Einwechslung von Füllkrug und die wacklige Defensive diskutiert, heute reden wir stattdessen über Binden und Boykott. Eine leicht traurige Fußballkolumne von Henning Hirsch.
Die Partie Deutschland-Japan endete heute Nachmittag 1 zu 2. Das deutsche Team hat dabei eine durchwachsene Leistung gezeigt. Die erste Halbzeit war okay, während sich in der zweiten Hälfte die unnötigen Ballverluste häuften, die Defensive erschreckende Fehler zeigte und vorne ganz augenscheinlich die Offensivkraft fehlte. In der Folge kam Japan immer besser ins Spiel, drückte aufs deutsche Tor und gewann am Ende völlig verdient. In der guten alten Zeit hätten wir jetzt über die Aussetzer von Schlotterbeck, die schönen, aber erfolglosen Dribblings von Musiala und den fehlenden Torriecher von Gnabry diskutiert, oder uns die Köpfe heißgeredet, ob Füllkrug früher hätte eingewechselt werden müssen. Wie stehen die Chancen, jetzt überhaupt noch ins Achtelfinale zu gelangen? Welcher Gegner würde uns da erwarten? Und so weiter und so Fußballstammtisch.
One Love und Turnier der Schande
Aber das ist mittlerweile alles komplett nebensächlich. Heute geht’s ja nicht mehr um das Spiel, sondern um so Sachen wie Regenbogen- – auch One-Love- genannt – Binden und ob man sich dieses „Turnier der Schande“ überhaupt anschauen darf. Um es vorneweg zu nehmen: Ich schaue mir das Turnier an. So wie ich mir alle EM- & WM-Turniere seit 1972 zzgl. der wöchentlichen Bundesligapartien anschaue. Ich werde mir bei dieser WM vermutlich nur ein paar Spiele angucken: die der eigenen Nationalmannschaft und dann die Highlights ab dem Achtelfinale. Das Finale – egal, wer da gegen wen spielt – auf jeden Fall.
Zurück zu Regenbogen und Boykott. Beginnen wir mit der Armbinde. Ja, die Situation der LGBTQ Community in Katar ist prekär. Wie in den meisten islamischen Ländern. Ist jetzt aber zum einen nichts Neues und zum anderen ist nicht bekannt, dass diese Situation in Katar prekärer wäre als bspw. in Dubai, Abu Dhabi oder Ägypten, wo wir Deutschen ja sehr gerne zum Shoppen und Schnorcheln hinfliegen. Dass die Situation prekär ist, wusste man auch schon 2010 bei der Vergabe des Events an den Ostrand der Großen Arabischen Wüste und diese Kenntnis hat damals trotzdem keinen FIFA-Funktionär davon abgehalten, seine Stimme pro Katar abzugeben. Der Aufschrei in der Presse war moderat. Es ging dabei auch mehr um Aspekte wie mangelnde Fußballhistorie und mörderisches Klima im Hochsommer. Das LGBTQ-Thema hatte 2010 anscheinend niemand auf dem Schirm gehabt. Das kam erst vor kurzem auf die WM22-ist-pfui-Liste. Und nun sollten wir uns folgende Fragen stellen:
(a) Weshalb hat uns die Situation der Schwulen & Lesben in Katar bis weit ins Jahr 2022 hinein nicht interessiert?
(b) Warum muss der Fußball richten, was die Politik nicht hinbekommt?
(c) Welchen nachhaltigen Nutzen hätte das Tragen einer solchen Binde bei 1 Spiel?
Man könnte dann noch weitere Fragen stellen. Bspw. Weshalb fordert niemand von unseren Politikern, wenn sie an den Golf reisen – was sie ja häufig tun –, dort mit einer Regenbodenbinde zur Audienz beim Emir zu erscheinen? Warum kümmern wir uns nicht erst mal um die Rechte der Schwulen & Lesben in unseren eigenen Breitengraden? (zur Erinnerung: bis 1994 waren homosexuelle Handlungen bei uns unter Strafe gestellt). Wie sieht es überhaupt mit unserem eigenen Engagement hinsichtlich der Gleichberechtigung queerer Menschen aus?
Gelbe Karte ist was anderes als Geldstrafe
Dass es bei der angekündigten Sanktionierung nicht um eine Geldzahlung ging – die hätte der DFB wohl akzeptiert –, sondern eine gelbe Karte für den Kapitän drohte, mag für die Moralisten nebensächlich sein: Was ist schon 1 Gelbe Karte? Wer etwas mehr Ahnung hat, weiß aber, dass bei der zweiten gelben Karte schon der Ausschluss vom weiteren Turnierverlauf zu befürchten steht, weshalb Spieler unnötige Gelbe Karten ebenso zu vermeiden trachten wie Moralisten zu lange Sperren in Facebook, wenn sie bei einem Trigger-Thread mal wieder hyperventilieren.
Von der Regenbogenbinde nun zum Boykott. Jetzt sei endgültig klar, wie korrupt und menschenverachtend die FIFA ist, es würde höchste Zeit, unser Team zurückzuziehen und der DFB möge sich darum kümmern, entweder die FIFA schnellstmöglich zu grundlegend reformieren oder gemeinsam mit anderen Europäern einen neuen Weltverband ins Leben zu rufen, lese ich in Posts von Facebook-Bekannten, die ich bisher als intelligente Zeitgenossen wahrgenommen hatte. Und ich reibe mir verwundert die Augen und denke: Wie naiv oder dreist kann man sein (suchen Sie es sich aus, was für Sie zutrifft), solche Forderungen zu erheben? Der DFB, dessen Hauptdaseinszweck neben der Förderung des Amateursports (der Profibereich braucht den Verband nicht. Der hat seine DFL) darin besteht, mit seinen Nationalteams an Turnieren teilzunehmen und dort eine möglichst gute Platzierung zu erreichen, soll in diesem Jahr darauf verzichten? Weil der Kapitän keine bunte Armbinde tragen darf. Echt jetzt? Wie realitätsfern und moralbesoffen ist denn solch ein Ansinnen? Weil Hetero Heinz Kowalski aus Oer-Erkenschwick, der bis heute nicht weiß, wofür das Kürzel LGBTQ überhaupt steht (ja ja, ich muss das auch regelmäßig googlen), der felsenfesten Überzeugung ist, dass wir den Kataris und der FIFA jetzt demonstrieren müssen, wo der deutsche LGBTQ-Hammer hängt?
Fernbereichsethik geht einfach
Folgendes Gedankenspiel: Herr Kowalski arbeitet bei einem mittelständischen Maschinenbauer, der u.a. Teile produziert, die in der Öl- und Gasförderung eingesetzt werden. Da der russische Absatzmarkt aktuell zusammengebrochen ist, hat der Vertrieb nun alternativ einen Großauftrag aus Katar an Land gezogen. Die Arbeitsplätze in Oer-Erkenschwick sind fürs Erste gerettet. In ein paar Tagen steht die Vertragsunterzeichnung in Doha auf dem Programm. Herr Kowalski fordert nun in einer Mail, die an sämtliche Mitarbeiter adressiert ist, Folgendes: (a) das deutsche Management muss ab Ankunft in Doha International Airport bis zum Abflug durchgängig eine gut sichtbare Regenbogenbinde überstreifen (b) falls das deutsche Management daran gehindert wird, hat es Katar umgehend zu verlassen und den Deal platzen zu lassen … was der Betriebsrat Herrn Kowalski darauf antworten wird, brauche ich hier nicht zu schreiben. Das überlasse ich Ihrer eigenen Fantasie. Herr Kowalski würde solch eine Mail mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gar nicht verschicken. Weil die Konsequenzen viel zu nah an ihm selbst dran wären. Er wäre nämlich vermutlich zeitnah arbeitslos. Deshalb löscht Herr Kowalski seine Mail schnell wieder und ruft stattdessen lautstark in Facebook zum Boykott der WM auf. Schlaue Menschen (also nicht ich) haben das mal als Fernbereichsethik bezeichnet. Die praktischer als die des Nahbereichs ist, weil moralische Forderungen, die man nicht selbst erfüllen muss, einem einfach über die Lippen gehen.
So ein Beispiel dürfen Sie nicht bringen, Herr Hirsch, sagen Sie? Das ist unredlich?
Doch genau so ein Beispiel bringe ich, um zu demonstrieren, wie realitätsfremd dieser treudeutsch-romantische Boykottaufruf ist.
Warum eigentlich immer die Fußballer?
Die Überfrachtung des Sports mit Symbolen, die der jetzt dauernd senden soll, geht in eine komplett falsche Richtung. Sportler sollen ihren Sport ausüben. Wenn sich einer davon berufen fühlt, gegen irgendwas zu demonstrieren, möge er das jederzeit gerne tun. Hindert ja niemand bspw. Herrn Goretzka daran, dem Emir mal ordentlich die Meinung zu geigen (und im Anschluss vermutlich sofort zurück nach Hause fliegen zu dürfen). Aber komplette Mannschaften dafür in Sippenhaft nehmen zu wollen, dass Funktionäre grundlegend falsche Entscheidungen treffen – wie die Vergabe der WM in die Wüste –, und unsere Politiker sich nicht trauen, vor Ort Tacheles zu reden, kann nun wirklich nicht die Lösung sein. Und warum immer die Fußballer? Weshalb nicht ebenfalls die Leichtathleten oder die Beachvolleyballer? Was, wenn demnächst wieder Eishockey-Turniere in Russland stattfinden: Müssen unsere Spieler dort Putin-muss-weg-Plakate in die Höhe halten, bevor sie auf den Puck schlagen dürfen? Bei der kommenden WM in Mexiko dann Armbinden, um auf die Diskriminierung der Indigenen aufmerksam zu machen und bei den Partien in den USA knien alle nieder, um sich mit Black Lives matter solidarisch zu zeigen? Und so rigide bis unbarmherzig, wie sich die Amerikaner mit ihrer Border Patrol gegen Migranten aus Mittel- und Südamerika geben, dürften wir eigentlich gar nicht dort antreten. Das ist was völlig anderes bzw. das ist ein unredlicher Vergleich, sagen Sie? Ja ja, ich weiß. Hatten Sie weiter oben ja auch schon angemerkt.
Manchmal hilft ein Kompromiss
Eventuell können wir uns auf einen Kompromiss einigen: Wer die WM in Katar boykottieren will, boykottiert sie. Wer sich die Spiele anschauen möchte, schaut sie sich an. Und beide Seiten sichern der jeweils anderen zu, ihr während der kommenden vier Wochen nicht auf die Nerven zu gehen. Und nach diesem Turnier setzen wir uns zusammen und überlegen gemeinsam, welche Reformen die FIFA dringend benötigt, um ihren Nimbus als geldgeiler und (in Teilen) korrupter Verband zu überwinden. Nur Herrn Infantino in die Wüste zu schicken – wo er ohnehin seit Anfang dieses Jahres dauerhaft wohnt –, wird dabei nicht ausreichen. Die Vergabepraktiken müssen auf den Prüfstand, damit sich so was wie Katar nicht wiederholt.
Aber bis dahin sollten wir uns auf die kluge Formel „Das Event vom Ausrichter trennen“ einigen.
PS. mein Turnierfavorit war bis gestern übrigens Argentinien, falls das am Ende dieser Kolumne überhaupt noch jemanden interessiert.
PPS. die deutschen Spieler haben sich beim Mannschaftsfoto alle die Hand vor den Mund gehalten. Ob das als Zeichen des guten Willens ausreicht, um ihre Kritiker zu besänftigen, weiß ich nicht. Mir persönlich sind solche belanglosen Gesten eher egal.
Schreibe einen Kommentar