Warum Bewährung?

Eine Freiheitsstrafe muss eher selten bis zum Ende verbüßt werden. Wesentlich häufiger wird sie irgendwann zur Bewährung ausgesetzt. Für viele Bürger ein Ärgernis. Warum eigentlich? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


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Als damals im Jahr 2018  die Reststrafe des von der BILD zum „Balkonmonster“ umgetauften Serienvergewaltigers Hans-Joachim B. (55) zur Bewährung ausgesetzt wurde, kannte die Empörung mal wieder keine Grenzen. Hans-Joachim B. war im Juni 2001 vom Landgericht Hannover zu 13 Jahren Haft und der Unterbringung im Maßregelvollzug, sprich in einer forensischen Psychiatrie, verurteilt worden. Nun sah die Strafvollstreckungskammer keine Gefahr mehr, beendete den Maßregelvollzug und erließ das letzte Drittel der Freiheitsstrafe zur Bewährung. Uih da war aber was los. Die Volksseele wütete und schrie.

Wenn man sich in diesem Fall und ähnlichen Fällen, die immer wieder vorkommen, die Reaktionen in den asozialen Netzwerken ansieht, dann wundert man sich schon, dass in Deutschland nicht jede Woche irgendein entlassener Gefangener an einer Straßenlaterne baumelt. Was da an verbaler Mordlust geteilt und geliket wird, gäbe Material für mehrere Splatterfilme. Interessant, dass da viele offenbar in ihrem Denken nicht sehr weit von Mördern entfernt sind, das aber nicht einmal bemerken. Immerhin sind die meisten Kommentatoren nur im Netz mit einer großen Klappe ausgestattet und müssen ihre perversen Mordphantasien möglicherweise heimlich unter der Bettdecke absondern, weil sie sonst von ihrer Frau ein paar hinter die Löffel bekämen. Möglicherweise macht das Maulheldentum die Frau aber auch an. Was weiß ich schon, was in den Köpfen der Menschen vorgeht? Nur das, was aus den Köpfen rauskommt, ist oft erschreckend genug.

Maßregel und Anrechnung

Zunächst eine Erklärung dafür, dass es da manchmal auch nach dem Maßregelvollzug noch etwas zu erlassen gibt, obwohl z.B. damals der Betroffene, Hans-Joachim B. schon seit Oktober 2000, also knapp 18 Jahre, nicht mehr in Freiheit war. Damit hat es folgende Bewandtnis:

Wenn ein Gericht neben einer Freiheitsstrafe noch die Unterbringung im Maßregelvollzug anordnet, dann wird in der Regel diese Maßregel – also der Aufenthalt in der forensischen Psychiatrie – zuerst vollzogen. Der ist zeitlich nicht wirklich begrenzt und dauert halt solange, bis von dem Untergebrachten keine Gefahr mehr ausgeht. Erst danach geht‘s dann mit der Verbüßung der Freiheitsstrafe weiter. Aber:

§ 67 Abs. 4 StGB

Wird die Maßregel ganz oder zum Teil vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.

Im Klartext heißt das, wenn man erst mal in der Forensik gelandet ist, dann wird einem die Zeit, die man dort verbringt, nur zum Teil auf die Haftstrafe angerechnet. Wenn also Hans-Joachim B. zu 13 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, dann wurden die ersten 126 Monate in der Psychiatrie, also 10 Jahre und 6 Monate auf seine Strafe angerechnet. Der Rest aber eben nicht.

Der wird nun aber, wie es immer dann üblich ist, wenn der Gefangene eine positive Sozialprognose hat, zur Bewährung ausgesetzt. Wie gesagt, für viele ein Ärgernis. Für mich allerdings nicht.

Für immer wegsperren?

Neben den vielen Schwanz-ab-Freund*innen , die ihre seltsamen Phantasien in den sozialen Netzwerken gerne mit bösen Worten und hässlichen Bildern von Scheren etc. darbieten, und den üblichen Todesstrafenfans reagierten in diesem konkreten Fall auch eher moderat denkende Menschen mit Wut und Unverständnis über die Freilassung. „So einer“ dürfe nie mehr freikommen. „Für immer wegsperren“ hielt ja auch schon mal ein auf das Grundgesetz vereidigter Kanzler für richtig. Das Gericht habe eine unverantwortliche Entscheidung getroffen, meinten viele.

Ein Versuch, diese Diskussionen mit einer Spur Sachlichkeit zu erhellen, scheitert immer wieder grandios. Da gab es ziemlich üble Unterstellungen. Als Anwalt kalkulierte ich eiskalt erneute Taten eines Serienvergewaltigers ein, weil ichr damit ja mein Geld verdiene, war noch eine der harmloseren Unterstellungen. Und nein, dieser Mann ist nie mein Mandant gewesen und ich habe gar nichts mit ihm zu tun. Aber sei´s drum. Soll doch jeder denken was er will.

Rückfallgefahr

Ob nun diese konkrete Entscheidung richtig war, kann niemand beurteilen. Bisher gab es da jedenfalls keinen Rückfall. Ob es noch zu einem Rückfall kommt, weiß man immer erst hinterher. Ausschließen lässt sich das natürlich nie. Allerdings wird das Rückfallrisiko in solchen Fällen derart gründlich geprüft, dass man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, dass mehr ungefährliche Täter sich länger in Haft und im Maßregelvollzug befinden als notwendig, als gefährliche zu früh in die Freiheit entlassen werden.

Bewährung hilft, neuen Straftaten vorzubeugen

Warum gibt es diese Aussetzung der Reststrafe überhaupt? Nun, ließe man Gefangene immer bis zur Endstrafe im Gefängnis, dann bestünde keine Möglichkeit mehr, sie kontrolliert an ein neues Leben in Freiheit zu gewöhnen. Durch die Bewährung kann man die Wiedereingliederung in die Gesellschaft mit Bewährungshilfe begleiten. Man kann dem Gefangenen Hilfestellungen geben. Man kann unterstützend auf die Bemühungen um einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung einwirken. Der Gefangene, der ja vorher bereits durch stufenweise Lockerungen an ein Leben außerhalb des Knastes gewöhnt werden soll, bekommt eine wichtige Unterstützung, die ihn davor bewahren soll, erneut auf die schiefe Bahn zu geraten – natürlich nur wenn das Gericht das für erforderlich hält.

Kontrollierte Auswilderung

Täter die ansonsten in die Gesellschaft integriert sind, wie z.B. der der frühere Vorsitzende des FC Bayern oder bald vermutlich ein bekannter Starkoch, benötigen solche Hilfe in der Regel nicht. Die meisten aber schon. Außerdem hat man die so im Auge und kann gefährliche Entwicklungen frühzeitig erkennen und notfalls die Bewährung widerrufen. Man kann Bewährungsauflagen machen und auch bei Verstößen dagegen die Bewährung zurücknehmen. Bei Zootieren würde man von kontrollierter Auswilderung sprechen.

Bei einem Täter, der neben der Strafe im Maßregelvollzug untergebracht war, wird noch gründlicher hingesehen. Der Maßregelvollzug kennt praktisch keine zeitliche Begrenzung. Eine Entlassung kommt da nur in Betracht, wenn die Strafvollstreckungskammer überzeugt ist, dass von dem Täter keine Gefahr schwerer Straftaten mehr ausgeht. Und das ist eher selten der Fall. Ich habe einige Fälle, bei denen ich seit Jahren davon ausgehe, dass die Mandanten keine Gefahr mehr darstellen, was die Kammer aber Jahr für Jahr anders sieht.

Prognose bleibt Prognose

Nun kann man nicht in die Köpfe von Menschen hineinsehen und eine Prognose bleibt eine Prognose, die immer gewisse Unwägbarkeiten beinhaltet. Deshalb hört die Kammer den Betroffenen nicht nur an und glaubt seinen schönen blauen Augen, sondern sie bedient sich der Hilfe von Sachverständigen, um das Risiko eines Rückfalls mit wissenschaftlichen Methoden zu ermitteln. Da gibt es mittlerweile u.a. eine ganze Reihe standardisierter Tests, die Aussagen dazu erlauben.

Menschenwürde

Dass man einen Menschen, der grausame Taten begangen hat, nicht weiter einsperren darf, wenn er seine Strafe abgesessen hat und mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Gefahr für andere Menschen mehr darstellt, fußt letztlich auf Art. 1 GG. Die Würde des Menschen ist auch bei Straftätern unantastbar und zu wahren. Das täte man aber nicht, wenn jemand grundsätzlich bis zu seinem Tod eingesperrt würde. Die Chance in Freiheit zu sterben soll jeder bekommen. Wie gesagt, das gilt nur, wenn er keine Gefahr mehr darstellt. Selbstverständlich werden bei der Frage der Strafaussetzung Art und Schwere der Tat berücksichtigt. Bei Sexualstraftätern wird da ganz besonders gründlich hingesehen. Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass diese im Maßregelvollzug zuvor jahrelang therapiert wurden. Bei manchen nützt auch das nichts und dann bleiben sie eben solange in der Forensik, bis sie entweder tot sind oder aufgrund körperlicher Gebrechen kein Unheil mehr anrichten können. Bei vielen greift aber die Therapie. Und die sollen sich in Freiheit bewähren.

 

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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