Warum brach das Zarenregime zusammen? – Eine historische Betrachtung aus aktuellem Anlass

Zu den Begriffen, die die Putinschen Propagandisten besonders scharf ablehnen, gehört der Begriff „Revolution“. Kein Wunder: Im 20. Jahrhundert erlebte Russland vier Revolutionen (so viele wie kein anderes größeres Land in Europa). Zum Wesen der im Jahre 2000 entstandenen Putinschen „gelenkten Demokratie“ gehört die Verhinderung vergleichbarer Umwälzungen


Westliche Russlandbilder

Die Tatsache, dass die Etablierung der Putinschen „gelenkten Demokratie“, die sich inzwischen in eine Despotie verwandelt hat, keine allzu starken Widerstände in der russischen Gesellschaft hervorrief, scheint die oft vertretene These von der Autoritätsgläubigkeit, ja von der Sklavenmentalität der Russen zu bestätigen. Diese These hat eine lange Vorgeschichte. Seit Beginn der Neuzeit wurde sie unzählige Male geäußert. So schrieb 1549 der österreichische Gesandte Sigmund Freiherr von Herberstein, der in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts Russland besucht hatte, Folgendes:

Das Volk ist von solcher Natur, dass es sich der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freut.

Im Reisebericht des Marquis de Custine, der 1843 erschien und der das westliche Russlandbild Generationen lang entscheidend prägte, wird der russische Nationalcharakter ähnlich beschrieben. Custine lehnt sich dabei an den Bericht Herbersteins an:

Dieser vor mehr als drei Jahrhunderten geschriebene (Bericht) schildert die damaligen Russen genauso, wie ich die Russen jetzt sehe … Man kann die Russen, die Großen wie die Geringen, von Sklaverei trunken nennen.

Das gespaltene Russland

Die Tatsache, dass Russland seit Beginn der Neuzeit unzählige Bauernaufstände und Revolten unterschiedlichster Art und im 20. Jahrhundert vier Revolutionen erlebt hatte, vermochte in keiner Weise dieses recht homogene Russlandbild zu erschüttern. Warum werden all diese Beispiele des russischen Freiheitsdranges von den Außenstehenden so wenig beachtet? Warum wird Russland in der westlichen Öffentlichkeit in der Regel nur als imperialer Obrigkeitsstaat wahrgenommen? Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass den russischen Verfechtern der Freiheit das Image der ewigen Verlierer anhaftet. Sogar in den Perioden, in denen sie im Lande regierten, blieben sie nicht allzu lange an der Macht. Bald wurden sie von ihren Kontrahenten – den Verfechtern der imperialen „Machtvertikale“ – abgelöst.

Die Tatsache, dass die Gegner eines paternalistischen und allmächtigen Staates nur für eine begrenzte Zeit ihre Triumphe in Russland feiern konnten, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Idee der imperialen Größe und einer homogenen, durch ein einziges Ideal inspirierten Gesellschaft eine außerordentliche Faszination auf breite Teile der russischen Gesellschaft ausübt, und zwar seit Beginn der Neuzeit.

Dies trägt dazu bei, dass die These von der Obrigkeitstreue der Russen derart stark in vielen Russlanddiskursen dominiert.

Dennoch kommt dieses Russlandbild mit einem Phänomen nicht zurecht, denn es stellt das genaue Gegenteil von dem dar, was oft als „typisch russisch“ gilt – und das war die in den 1830er Jahren entstandene russische revolutionäre Intelligenzija. Kaum eine andere Erscheinung in der neuesten europäischen Geschichte bekannte sich zum radikalen Nonkonformismus und zur Revolte in einem solchen Ausmaß wie sie. Es gelang dieser zahlenmäßig recht unbedeutenden Gruppe, eine gewaltige Monarchie in ihren Grundfesten zu erschüttern und erheblich zu ihrem Sturz beizutragen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sie keinen Einfluss auf den Machtapparat hatte. Seit ihrer Entstehung verkörperte die Intelligenzija eine gänzliche Absage an den bestehenden Staat. Staatsdiener wurden nur selten in ihre Reihen aufgenommen.

Der Glaube an die „heilende Kraft“ der Revolution

Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu bemerken, wie grundlegend sich die Entwicklung Russlands – seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts – von derjenigen des Westens unterschied, wie asynchron sich die beiden Teile des Kontinents von nun an bewegten. So erlebten die westlichen Gesellschaften seit dem Scheitern der Revolution von 1848 einen immer stärkeren Integrations- und Konsolidierungsprozess. Die nationalistische Ideologie wurde dabei zu einer Klammer, die immer breitere Bevölkerungsschichten von den inneren Konflikten ablenkte. Wie anders verlief die Entwicklung Russlands! Die Ereignisse von 1848/49 ließen das Land praktisch unberührt, deshalb blieb hier auch die Enttäuschung über die revolutionäre Idee aus. Während viele der früheren Radikalen im Westen ihre Heilserwartungen immer stärker mit der Idee der Nation verknüpften, begann in Russland erst jetzt das revolutionäre Ideal zur vollen Geltung zu gelangen. Jede Kritik an ihm habe die russische Intelligenzija als einen Verrat angesehen, schrieb 1924 der russische Philosoph Semjon Frank. Es habe im vorrevolutionären Russland einer ungewöhnlichen Zivilcourage bedurft, um sich offen zur Politik der Kompromisse zu bekennen.  Einige Jahre, bevor Antonio Gramsci sein Hegemonie-Modell entwickelte, schilderte Frank die Folgen der Dominanz eines einzigen weltanschaulichen Lagers im öffentlichen Diskurs. Im Zarenreich, in dem der scheinbar allmächtige Staat das gesamte politische Geschehen im Lande zu kontrollieren suchte, sei die Öffentlichkeit in einer ähnlich autokratischen Manier von den Gegnern des zarischen Regimes dominiert worden, In der dichotomischen Welt der Verfechter der Revolution galt, „die (damals) existierende…politische Ordnung …als die einzige Quelle des Bösen“, so Frank.

Wie der Kölner Historiker Theodor Schieder in diesem Zusammenhang sagt, seien die Unbedingtheit und die Absolutheit, die den revolutionären Glauben der russischen Intelligenzija auszeichneten, im Westen praktisch unbekannt.

Es gab zwar in Russland durchaus viele Kritiker des Weltbildes der Intelligenzija. Zu ihnen zählte auch Fjodor Dostojewski. Im innerrussischen Diskurs haben diese Kritiker allerdings nicht dominiert. Über die Einstellung der Intelligenzija zu Dostojewski sagte der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew 1909 im berühmten Sammelband „Wechi“ (Wegmarken) Folgendes: Im Werk Dostojewski habe die Intelligenzija vor allem seine „reaktionäre“ Botschaft registriert.

Die Erosion des Glaubens an den Zaren bei den russischen Unterschichten

Im ausgehenden 19. Jahrhundert fand eine beschleunigte Polarisierung der russischen Gesellschaft statt. Dieser Prozess war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass damals auch die russischen Unterschichten begannen, ähnlich wie die russische Intelligenzija Generationen zuvor, das bestehende System im Lande und seine ideologische Legitimierung in Frage zu stellen.  Auf der Zarentreue der russischen Unterschichten beruhte lange Zeit die Stabilität der russischen Monarchie. Solange sie bestehen blieb, konnte die Monarchie die Auseinandersetzung mit den revolutionär gesinnten Teilen der Bildungsschicht glimpflich überstehen. Den konservativen Verteidigern der russischen Autokratie war es klar, dass das Schicksal des Regimes davon abhing, wer den Kampf um die „Seele des Volkes“ gewinnen würde. Und diese Auseinandersetzung begannen um die Jahrhundertwende die Regimegegner immer deutlicher zu ihren Gunsten zu entscheiden. Aus der wichtigsten Stütze der russischen Selbstherrschaft verwandelten sich die russischen Volksschichten in ihren gefährlichsten Gegner. Ihre Hoffnungen auf die Errichtung einer sozial gerechten Ordnung, auf die Enteignung der Gutsbesitzer begannen sie in einem immer stärkeren Ausmaß vom Zaren auf die revolutionären Parteien zu übertragen.  Dies entzog der zarischen Autokratie weitgehend ihre soziale Verwurzelung.

Der Russisch-Japanische Krieg als Prolog zur ersten russischen Revolution im 20. Jahrhundert

Um aus der damaligen Sackgasse auszubrechen, versuchten einige Petersburger Politiker die Aufmerksamkeit der russischen Öffentlichkeit auf die Außenpolitik umzulenken, nicht zuletzt auf den Fernen Osten, wo sich der russisch-japanische Konflikt zuspitzte. Der russische Innenminister, Wjatscheslaw Plehwe, sagte damals, dass er durch einen „kleinen und siegreichen Krieg“ die revolutionäre Gefahr in Russland eindämmen wolle.

Unwillkürlich erinnern diese Überlegungen an die zerstörerische und selbstzerstörerische Entscheidung Wladimir Putins vom 24. Februar 2022, die Ukraine, durch einen „kleinen und siegreichen Krieg“ als unabhängigen Staat zu beseitigen. Beide Entscheidungen sollten katastrophale Folgen sowohl für die zarische Selbstherrschaft als auch für das Putinsche Regime haben. Die Petersburger Regierung hatte Japans Stärke genauso unterschätzt, wie Putin dies 117 Jahre später mit der Ukraine tun sollte. Aus den geplanten „Blitzkriegen“ ist bekanntlich in beiden Fällen nichts geworden.

Nun aber zurück zu den Ereignissen der Jahre 1904/05. Statt nationale Begeisterung hervorzurufen, gab der Russisch-Japanische Krieg nur ein Signal zu einer allgemeinen Auflehnung der Bevölkerung gegen das bestehende System. Auf die verheerenden Niederlagen der russischen Armee reagierte die Mehrheit der Bevölkerung gleichgültig. Die revolutionären Gruppierungen konstatierten diese Niederlagen sogar mit Befriedigung.

Angesichts ihrer völligen Isolierung im Lande konnte die Selbstherrschaft in ihrer bisherigen Form nicht aufrechterhalten werden. Sie musste die Gesellschaft um Zusammenarbeit bitten. So kam es auf den Vorschlag des damaligen Ministerpräsidenten, Sergej Witte, zu dem Manifest des Zaren vom 17. Oktober 1905, in dem der Zar den Untertanen Grundrechte und die Einberufung eines Parlaments versprach. Dies war das Ende der uneingeschränkten russischen Autokratie.

Etwa zur gleichen Zeit (im September 1905) gelang es Sergej Witte einen recht günstigen Frieden mit Japan abzuschließen. Die russischen Streitkräfte konnten nun von der Front abgezogen und zum Kampf gegen die Revolution eingesetzt werden. Im Dezember 1905 unterdrückte die Armee den Moskauer Aufstand – den letzten großen städtischen Aufstand im Zentrum des Zarenreiches. Die Kämpfe an der Peripherie des Imperiums und auf dem flachen Lande dauerten zwar bis ins Jahr 1906 an. Allerdings hatten die Aufständischen gegen die regulären Streitkräfte keine Chance.

Die Generalmobilmachung des Ersten Weltkrieges und ihre Folgen

Die Entfremdung zwischen den russischen Volksschichten und dem zarischen Regime hat sich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusätzlich vertieft. Solange die Volksschichten den traditionellen Weltbildern verhaftet waren, verkörperte für sie der rechtgläubige Zar den Staat. Als Soldaten kämpften sie für den „Glauben, den Zaren und das Vaterland“. Der russische Historiker Georgij Fedotow hält es nicht für zufällig, dass der Begriff „Vaterland“ sich in dieser Dreiheit an letzter Stelle findet. So führte die Abwendung der russischen Unterschichten vom Glauben an den Zaren, die um die Jahrhundertwende zu beobachten war, zwangsläufig auch zur Lockerung ihrer Bindung an den Staat. Die moderne Nationalidee, die den eigenen Staat unabhängig von religiösen Konnotationen als eine Krönung der Schöpfung betrachtet, setzte sich in Russland nur in Ansätzen, und zwar nur in Teilen der Bildungsschicht durch. So verabschiedeten sich die breiten Massen Russlands von vormodernen Staatsvorstellung, ohne den Anschluss an die moderne Staatsidee gefunden zu haben. Sie befanden sich in einem Schwebezustand zwischen verschiedenen Epochen und gerade in dieser Situation wurde von ihnen infolge der Generalmobilmachung, die nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges stattfand, eine maximale Opferbereitschaft abverlangt. Ohne eine weitgehende Identifizierung mit den Kriegszielen der Staatsführung und mit den herrschenden Staatsideen war ein derartiger Einsatz auf die Dauer nicht möglich. Bereits einige Monate nach Kriegsbeginn (im Dezember 1914) sagte der russische General Kuropatkin, dass ganz Russland nur einen Wunsch habe – den Frieden.

Der Paradigmenwechsel innerhalb der russischen Bildungsschicht

Die Aussage Kuropatkins bezog sich allerdings in erster Linie auf die russischen Volksschichten, die die Hauptlast des Krieges trugen. In einem ganz anderen mentalen Zustand befanden sich damals die russischen Bildungsschichten, zumindest viele ihrer Vertreter. Sie wurden nämlich nach Kriegsausbruch, wenn man von den Bolschewiki und einigen anderen linksradikalen Gruppierungen absieht, von einer nationalistischen Euphorie erfasst, die sich nicht allzu stark von der Stimmung unterschied, die auch in solchen Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien den Ausbruch des Weltkrieges begleitete.  Wenn man bedenkt, mit welcher Gleichgültigkeit die russische Öffentlichkeit noch ein Jahrzehnt zuvor die verheerenden Niederlagen der zarischen Armee im Russisch-Japanischen Krieg hingenommen hatte, verwundert der Stimmungswandel, der sich innerhalb kürzester Zeit im Lande vollzogen hatte. Viele Kritiker der zarischen Autokratie begannen nun dem außenpolitischen Prestige Russlands und seinen nationalen Interessen eine immer größere Bedeutung beizumessen. Zur Popularität der Romanow-Dynastie trug aber diese nationale Renaissance innerhalb der politischen Klasse Russlands nur wenig bei. Während sich die russischen Unterschichten gegen das damalige Regime vor allem deshalb auflehnten, weil sie „ihren eigenen Staat und seine politischen Ziele nicht mehr verstanden“ (Georgij Fedotow), wandten sich die national gesinnten Kreise der russischen Bildungsschicht aus ganz anderen Gründen gegen den Zaren. Sie verdächtigten die Zarenfamilie, sie identifiziere sich nicht ausreichend mit dem Krieg. Die Tatsache, dass der im Dezember 1916 ermordete Favorit der Zarin, Grigorij Rasputin, das Land praktisch mitregierte, trug zur Diskreditierung der Zarenfamilie besonders stark bei. Im Sommer 1915 entstand in der Staatsduma ein oppositionell gesinnter „Fortschrittsblock“, dem sich die Mehrheit der Abgeordneten anschloss. Der Fortschrittsblock forderte eine stärkere Einbindung der Gesellschaft in die politischen Entscheidungsprozesse und die Bildung einer gegenüber dem Parlament verantwortlichen Regierung. Ende 1916 erreichte die Auseinandersetzung der Opposition mit dem Regime ihren Höhepunkt. Der Vorsitzende der Partei der Konstitutionellen Demokraten. Pawel Miljukow, fragte, als er die Unfähigkeit der damaligen Regierung beschrieb: „Was ist das? Dummheit oder Verrat?“.

Von der Regierung wandten sich damals nicht nur die liberalen und sozialistischen, sondern auch manche konservative Gruppierungen ab. Sogar einige Hofkreise planten damals eine Palastrevolution. Die Erosion des Glaubens an den Zaren hat der Monarchie ihre legitimatorischen Grundlagen weitgehend entzogen.

1905 und 1917 im Vergleich

Dies war die Konstellation, in der in Petrograd am 8. März 1917 – am Internationalen Frauentag – eine Demonstration der Petrograder Arbeiterinnen und Arbeiter stattfand, die gegen Teuerungen und Lebensmittelknappheit protestierten (nach dem damals in Russland geltenden Julianischen Kalender spielten sich diese Ereignisse am 23. Februar ab). Vergleichbare Proteste waren in Petrograd seit dem Ausbruch des Krieges keineswegs selten. Und die Regierung war gegen sie gut gerüstet. Die Petrograder Garnison zählte immerhin etwa 170.000 Soldaten. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen, die nun begannen, wurden viele Demonstranten getötet. Die Lage hat sich allerdings am 12. März grundlegend gewandelt. Viele Soldaten weigerten sich auf die Demonstranten zu schießen und begannen sich mit ihnen zu verbrüdern. Ein Regiment nach dem anderen schloss sich den Aufständischen an. Die Regierung verlor nun völlig die Kontrolle über die Ereignisse. So verhielten sich nun die russischen Streitkräfte völlig anders als 12 Jahre zuvor, während der Revolution von 1905. Damals blieb die Armee, wenn man von einigen Ausnahmen, z. B. in der Flotte absieht, im Wesentlichen regierungstreu. Dies hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass es sich bei den damaligen russischen Streitkräften, die zunächst im Krieg gegen Japan und dann gegen die revoltierende Gesellschaft gekämpft hatten, im Wesentlichen um ein Berufsheer handelte. Die Armee des Ersten Weltkrieges war hingegen ganz anders strukturiert. Infolge der Generalmobilmachung verlor sie ihren früheren. recht homogenen Charakter und war gegenüber den äußeren Einflüssen nicht mehr so immun wie die Armee des Jahres 1905. Der Übergang der Petrograder Garnison auf die Seite der Aufständischen, der einige Tage nach dem Ausbruch der Februarrevolution stattfand, machte den Sturz des Zaren unvermeidlich.

Wiederholt sich die Geschichte?

Da die russische Geschichte nicht selten zyklisch verläuft, könnte man sich nun fragen, ob der am 24. begonnene Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, das Putinsche Regime ähnlich destabilisieren könnte, wie dies mit dem Zarenregime nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war. Auf den ersten Blick scheinen die Unterschiede zwischen den beiden Konstellationen gewaltig zu sein. Es war hier bereits davon die Rede, dass der Prozess der Abwendung beinahe aller Schichten der russischen Bevölkerung von der Romanow-Dynastie, der bereits seit der Jahrhundertwende zu beobachten gewesen war, sich nach Kriegsausbruch zusätzlich beschleunigte: „Die ganze Staatsduma – von Miljukow bis Purischkewitsch (rechtsradikaler russischer Politiker – L. L.) – bekannte sich zur Revolution“, schrieb in seinen Erinnerungen der russische Theologe Sergej Bulgakow. Ganz anders verhielt es sich mit der Popularität Putins in der ersten Phase seines Angriffskrieges gegen den ukrainischen Nachbarn, den man in Russland oft als „Brudervolk“ bezeichnet. Sie stieg zunächst laut der Umfrage, die das unabhängige Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum Ende März 2022 durchführte, auf mehr als 80%. Auch das von Putin entwickelte Lügengebäude, so sein perfider Vergleich der überfallenen Ukraine mit dem NS-Regime, wurde von vielen befragten Russen wohl nicht in Frage gestellt. Dennoch erschütterte das klägliche Scheitern der ursprünglichen Kriegspläne Putins diese Fassade der angeblichen nationalen Geschlossenheit. Angesichts der militärischen Rückschläge, die die russischen Streitkräfte in der Ukraine hinnehmen mussten, befürchten einige nationalistisch gesinnte russische Autoren, dass „Russland (nun) vor einem psychologischen Zusammenbruch“ wie am Vorabend der Februarrevolution von 1917 stehe: „Die Situation nimmt manchmal die Form von 1916 an“, so einer der Autoren. Die bereit zitierte Frage Pawel Miljukows aus dem Jahre 1916: „Ist es Dummheit oder Verrat?“ wird zurzeit auch von einigen russischen Nationalisten beinahe wortwörtlich wiederholt.  Befinden wir uns also in der Phase der Dämmerung des Putin-Regimes, die derjenigen des Zarenregimes um die Jahreswende 1916/17 ähnelt? Die Zukunft wird es zeigen.

Abschließend noch eine Bemerkung zu der von Putin am 21. September verkündeten Teilmobilmachung. Für das Zarenregime sollte die nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchgeführte Mobilmachung, wie bereits gesagt, fatale Folgen haben. Die russischen Streitkräfte stellten von nun an keine so zuverlässige Stütze der Monarchie dar, wie dies beim Berufsheer in der der Vorkriegszeit der Fall gewesen war (siehe das Verhalten der Petrograder Garnison im Februar 1917). Ob die am 21. September 2022 verkündete, und im Lande äußerst unpopuläre Mobilmachung, vergleichbare Folgen für das Putin-Regime haben wird, ist noch offen. Zu seiner Stabilisierung wird sie aber sicherlich nicht beitragen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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