Zoes Mörder frei. Ein Skandal?

Ein erstinstanzlich u.a. wegen Mordes verurteilter 19-jähriger Mann wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Wie kann das passieren? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Rico auf Pixabay

Die Empörung ist groß über den Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts (OLG)Zweibrücken. Am 6.10.2022 hob das Gericht einen Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Mörder der zur Tatzeit 17-jährigen Zoe auf. Der zur Tatzeit ebenfalls 17-jährige, heute 19-jährige Mann wurde aus der Haft entlassen.

Ja, das finde ich auch Scheiße. Allerdings nicht vom OLG. Denn das hat das getan, was ein Gericht tun muss, es hat Recht gesprochen. Der Fehler – und ja, man darf hier auch von einem Skandal sprechen – liegt nicht beim OLG, sondern mal wieder beim Landgericht Frankenthal.

Verfahrensgang

Der Angeklagte war seit dem 13. März 2020 wegen eines Haftbefehls des Amtsgerichts Frankenthal (Pfalz) in Untersuchungshaft. Die 7. Große Strafkammer (Jugendkammer) des Landgerichts Frankenthal hatte am 21. September 2020 die Hauptverhandlung gegen den damals 17-Jährigen begonnen. Da der Angeklagte erst 17 Jahre alt war, gilt für ihn Jugendstrafrecht.

Erst am 2. August 2022 verurteilte das Gericht den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 3 Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren. Wegen anderer Vorwürfe wurde er freigesprochen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, da sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Frankenthal Revision einlegten.

Dass der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt haben, ist völlig in Ordnung. Es ist das herausragende Merkmal eines Rechtsstaats, dass es einen Rechtsweg gibt, d.h. dass Entscheidungen der unteren Instanzen von einer höheren Instanz überprüft werden können.

Und hier war wohl die Staatsanwaltschaft der Meinung, dass alleine die Verurteilung wegen Mordes nicht genug sei. Sie wollte erreichen, dass eine Sicherungsverwahrung vorbehalten wird. Die ist nach dem Jugendgerichtsgesetz unter bestimmten Voraussetzungen möglich:

§ 7 Maßregeln der Besserung und Sicherung
(1) Als Maßregeln der Besserung und Sicherung im Sinne des allgemeinen Strafrechts können die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet werden (§ 61 Nr. 1, 2, 4 und 5 des Strafgesetzbuches).

(2) Das Gericht kann im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn

1.
der Jugendliche zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren verurteilt wird wegen oder auch wegen eines Verbrechens

a)
gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder
b)
nach § 251 des Strafgesetzbuches, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255 des Strafgesetzbuches,

durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, und
2.
die Gesamtwürdigung des Jugendlichen und seiner Tat oder seiner Taten ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in Nummer 1 bezeichneten Art begehen wird.

Das Gericht ordnet die Sicherungsverwahrung an, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm Straftaten der in Satz 1 Nummer 1 bezeichneten Art zu erwarten sind; § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend. Für die Prüfung, ob die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung am Ende des Vollzugs der Jugendstrafe auszusetzen ist, und für den Eintritt der Führungsaufsicht gilt § 67c Absatz 1 des Strafgesetzbuches entsprechend.

Die Staatsanwaltschaft wollte damit verhindern, dass der Angeklagte nach Verbüßung seiner Haftstrafe wieder auf die Gesellschaft losgelassen wird. Das Landgericht hatte dies aber eben nicht ausgeurteilt. So was kommt nicht selten vor.

Warum Entlassung?

Wie aber kann es sein, dass jemand, der wegen Mordes bereits verurteilt wurde, aus der Haft entlassen wird?

Nun, das hat mit einem anderen ehernen Grundsatz des Strafrechts zu tun, dem Beschleunigungsgrundsatz, einem Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Wer in Untersuchungshaft sitzt, d.h. jemand, dessen Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, hat Anspruch darauf, dass sein Verfahren mit dem größtmöglichen Tempo durchgeführt wird. Da ihm seine Freiheit während der U-Haft entzogen wird, darf die Justiz nicht trödeln, denn erst, wenn das Urteil rechtskräftig ist, steht fest, dass der Verurteilte nicht unschuldig ist. Da ist Schneckentempo verboten.

Im konkreten Fall war es nun aber so, dass das Landgericht Frankenthal eine gewisse, vielleicht pfälzische Gemütlichkeit an den Tag gelegt hat.

Zur Begründung hat das OLG unter Bezugnahme auf die jahrelange Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erklärt,

dass die Fortdauer der Untersuchungshaft sich infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen, die mit seinem u. a. im Rechtsstaatsprinzip verankerten Anspruch auf eine beschleunigte Aburteilung nicht mehr vereinbar seien, als unverhältnismäßig erwiesen habe.

Der Beschleunigungsgrundsatz fordert bei absehbar umfangreichen Verfahren, in denen sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche. Die Verhandlungstage seien möglichst auszuschöpfen.

Hier wurde aber in der insgesamt 22 Monate dauernden Hauptverhandlung nur an 57 Tagen verhandelt. An 20 dieser Verhandlungstage sei weniger als zwei Stunden verhandelt worden. Das ist ein bisschen arg wenig.

Die vom OLG festgestellte Verzögerung beträgt insgesamt 26 Wochen.

Das Bundesverfassungsgericht hat das einmal ganz nachvollziehbar erklärt:

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind dabei stets höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfGK 7, 421 ≪428≫ m.w.N.).

Der Verstoß des LG Frankenthal gegen den Beschleunigungsgrundsatz ist nach Auffassung des Senats auch vor dem Hintergrund des hohen Gewichts des staatlichen Strafanspruchs im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der Überlegung, dass nach einer Verurteilung Verfahrensverzögerungen ein geringeres Gewicht beizumessen sei, nicht hinnehmbar.

Und da hat das OLG recht, auch wenn das dem ein oder anderen nicht gefallen will. Irgendwann ist mal Schluss mit der Trödelei.

Wenn man auf jemanden sauer sein will, dann bitte auf die Lahmarschigkeit des LG Frankenthal, aber nicht darauf, dass das OLG mit dem einzigen ihm zur Verfügung stehenden Mittel, nämlich der Aufhebung des Haftbefehls darauf reagiert hat. Der Justizskandal liegt beim LG Frankenthal.

Überwachung

Wer nun befürchtet, der 19-Jährige werde nun einfach unbeobachtet bleiben und sich gleich das nächste Opfer suchen können, den kann ich beruhigen. Er wird nun eine Menge Polizisten für längere Zeit beschäftigen, die ihn in „Freiheit“ genau im Auge behalten werden. Zumindest hoffe ich, dass es da nicht ebenfalls wegen Personalausfällen, Corona oder wegen was auch immer zu Lücken in der Überwachung kommt. Das wäre dann der Super-GAU.

Wie lange das Verfahren jetzt dauern und wie es enden wird, weiß ich nicht. Allerdings hatte der Verteidiger bereits mitgeteilt, dass er sich vorstellen könne, die Revision des Angeklagten zurückzunehmen, wenn die Staatsanwaltschaft die ihrige ebenfalls zurücknimmt. Das wäre aus meiner Sicht ein gangbarer Weg. Denn mit der Rücknahme der beiden Revisionen würde das erstinstanzliche Urteil auf der Stelle rechtskräftig und der dann Verurteilte könnte umgehend eine Ladung zum Strafantritt bekommen. Ob die Staatsanwaltschaft dazu bereit ist, habe ich allerdings nicht in Erfahrung bringen können.

Ganz allgemein muss man aber auch feststellen, dass die Langsamkeit der Justiz nicht unbedingt auf Faulheit beruht, sondern darauf, dass die Gerichte und die Staatsanwaltschaften seit Jahren überlastet sind. Darüber spricht man leider nur dann, wenn mal wieder irgendwas schiefläuft, obwohl das Problem der Politik seit langer Zeit bekannt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 23. Januar 2019 geschrieben:

Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen.

Interessant übrigens, dass damals gerade das Pfälzische OLG Zweibrücken vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen wurde. Die haben nun offenbar ihre Lektion gründlich gelernt. Das auch im damaligen Verfahren unrühmlich schläfrige LG Frankenthal hat allerdings nichts aus diesem Verfahren gelernt oder will nicht daraus lernen.

Ob die Politik das jemals lernen wird, steht in den Sternen. Geld für die Justiz scheint irgendwie unsexy zu sein. Aber wer solche Skandale verhindern will, wird nicht umhinkommen, mehr Geld in die Justiz zu stecken. Es möge jedenfalls niemand auf die Idee kommen, dass man in diesem Bereich durch Einschränkung der Verteidigungsrechte oder eine „Verschlankung“ der Strafprozessordnung irgendwo noch Geld sparen könnte. Hier wäre seit Jahren mal ein Wumms nötig gewesen. Allerdings ist Justiz Ländersache, und die tun da alle nicht viel. Und das ist der eigentliche Skandal.

 

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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