Na Du
Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidungen der Fachgerichte auf, in denen es einer Referentin der Amadeu Antonio Stiftung untersagt worden war, Xavier Naidoo als Antisemiten zu bezeichnen. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz
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Im Februar 2015 schrieb ich in einer Kolumne für den damals noch liberalen und Europa-freundlichen European Folgendes:
Xavier Naidoo hat das Reichsbürgertum zwar nicht erfunden, aber durch seine Popularität scheinen entsprechende „Bewegungen“ einen anständigen Schub bekommen zu haben.
„Hat Deutschland eine Verfassung? Ist Deutschland noch besetzt? Tut die NSA gar nichts Verbotenes, sondern darf sie das eigentlich sogar, weil die Deutschen es ihr per Gesetz erlauben? Weil wir eigentlich gar kein richtiges Land sind. Weil wir immer noch besetzt sind“, sinnierte der Jammerbarde im Sommer vorigen Jahres auf einer Montagsdemo in Mannheim.
Das wird man doch noch fragen dürfen, mag auch der ein oder andere noch nicht Infizierte sich gedacht haben. Klar, wer nicht fragt, bleibt dumm, haben wir schon in der „Sesamstraße“ gelernt. Aber, uih, die „Sesamstraße“ kommt ja aus Amerika, also muss man schon deshalb diese Erkenntnis hinterfragen, oder? Nach Meinung der meisten Reichsbürger steuert Amerika ja ohnehin alles in diesem unseren besetzen Land.
Und
Die Reichsbürger treffen einfach nicht das Tor
Das Beispiel Naidoo macht deutlich, dass das Fragen alleine nicht schlau macht. Vielmehr muss der Fragesteller aus dem Meer der Antworten noch diejenigen herausfinden, die richtig sind. Und die dann auch einfach mal akzeptieren. Aber da schwächelt der Reichsbürger. Er neigt tendenziell zu der Antwort, die möglichst verschwörerisch daherkommt.
„Oh, Du hast die Silbermedaille im Mathewettbewerb gewonnen?“, fragt der Vater, „Du kannst doch gar nicht so gut rechnen.“ „Ja“, sagt der Sohn, „die Lehrerin hat gefragt, wie viel 3 mal 7 ist und ich war mit meiner Antwort ,18‘ auf dem zweiten Platz.“ Nach diesem Motto scheinen sich auch die Reichsbürger ihre Argumentationen zu basteln.
Mein alter Fußballtrainer pflegte nach einem Lattenschuss zu sagen: „Dran is nit drin, ävver fass“ (Dran ist nicht drin, aber fast), was wir Spieler auch im privaten Bereich gerne zitierten, wenn ein Mitspieler mal eine Abfuhr von einem Mädchen bekam. Das könnte der Leitfaden für die Denkmuster dieser Menschen sein. Sie treffen einfach das Tor nicht.
Das war noch vor der Äußerung der Referentin der Amadeu Antonio Stiftung, die im Juli 2017 im Rahmen eines Vortrages über Naidoo sagte:
Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.
Klares „Ja sicher“, hatte ich damals gedacht und war umso überraschter, als ihr diese Äußerung doch tatsächlich vom Landgericht Regensburg untersagt wurde.
Das Landgericht meinte irrig, Naidoo werde durch die Äußerung in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Die Bezeichnung als Antisemit sei grundsätzlich geeignet, das Persönlichkeitsrecht zu verletzen. Bei der Äußerung handele es sich zwar um eine Meinungs-äußerung, die dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG unterfalle. Letztlich führe die gebotene Abwägung der betroffenen Rechtsgüter dazu, dass dem Persönlichkeitsrecht des Klägers vorliegend der Vorrang zukomme.
Nun ja, meinte ich, Landgerichte entscheiden in Äußerungssachen ja häufiger eher merkwürdig, das Oberlandesgericht wird das schon richten. Aber nein. Zu meinem großen Erstaunen wurde die Berufung als unbegründet verworfen.
Das Oberlandesgericht meinte, die beanstandete Äußerung sei eine Meinungsäußerung, obwohl sie einen Tatsachenkern enthalte. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang, dass es für den Begriff des Antisemitismus keine allgemein anerkannte Definition gebe. Bei der Einordnung der Äußerung seien auch die Form der Aussage und der äußere Rahmen zu berücksichtigen. Auch die zusätzliche Aussage „Aber das ist strukturell nachweisbar“ ändere nichts an der Qualifikation als Meinungsäußerung. Über die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Äußerung sei im Rahmen einer Gesamtabwägung der berührten Rechtspositionen zu entscheiden. Vorliegend ergäbe die Abwägung, dass der Eingriff in die Ehre und das Persönlichkeitsrecht des Klägers des Ausgangsverfahrens rechtswidrig gewesen sei. Für seine Zulässigkeit stehe zwar, dass ein offener Diskurs über verdeckte antisemitische Tendenzen wichtig sei und es sich um eine die Gesellschaft wesentlich berührende Frage handele, ob jemand mit antisemitischem Gedankengut in der Öffentlichkeit auftrete. Die Äußerung leiste einen Beitrag zum Meinungskampf, in dem auch scharfe und übersteigerte Äußerungen fallen dürften. Allerdings sei der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht nur in seiner Sozialsphäre betroffen, da von der angegriffenen Äußerung erhebliche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität des Klägers des Ausgangsverfahrens ausgingen. Die Liedtexte seien die persönliche Ausdrucksweise des Klägers des Ausgangsverfahrens. Aus ihren Formulierungen könne auf seine politischen und weltanschaulichen Anschauungen geschlossen werden. Daher werde auch die personale Würde des Klägers beeinträchtigt, weil die Äußerung ein äußerst negatives Persönlichkeits- und Charakterbild zeichne. Vorliegend sei eine Prangerwirkung gegeben.
Die Bezeichnung als Antisemit sei zudem ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff, zumal der Kläger als Sänger von der Interaktion mit seinem Publikum abhängig sei. Die Stigmatisierung werde potenziert dadurch, dass die Beschwerdeführerin vorgebe, es sei nachweisbar, dass es sich bei dem Kläger um einen Antisemiten handele. Sie erwecke den Eindruck, dass es sich nicht nur um eine persönliche Bewertung handele, sondern um eine objektive, dem Beweis zugängliche Tatsache. Unter Zugrundelegung der als „Stolpe-Doktrin“ bekannt gewordenen Rechtsprechung sei vorliegend diejenige Deutungsvariante zu Grunde zu legen, die das Persönlichkeitsrecht des Klägers des Ausgangsverfahrens am schwersten beeinträchtige. Die Bezeichnung als „Antisemit“ sei mehrdeutig im Sinne dieser Rechtsprechung und reiche von einem weiten Begriffsverständnis, wonach jeder, der eine wie auch immer geartete negative Wahrnehmung von Juden habe, als Antisemit zu begreifen sei, bis zu einem engen Verständnis, wonach Antisemitismus gleichbedeutend mit Judenhass sei. Danach könne als Antisemit angesehen werden, wer die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch nationalsozialistisch fundiertes Gedankengut grob verletze und möglicherweise in diesem Sinne handlungsbereit sei.
Dass das eine falsche Entscheidung war, konnte sich eigentlich jeder denken, der sich schon mal mit der Meinungsfreiheit des Art.5 GG beschäftigt hat.
Glücklicherweise gab die Referentin nicht auf und legte Verfassungsbeschwerde ein. Und nun hat das Bundesverfassungsgericht mal wieder den sogenannten Fachgerichten eine Nachhilfelektion in Verfassungsrecht und Meinungsfreiheit erteilt, die Entscheidungen aufgehoben und zurückverwiesen. Das bedeutet, dass vom Landgericht Regensburg erneut über die Sache verhandelt und entschieden werden muss, diesmal aber unter Beachtung dessen, was das Bundesverfassungsgericht den Zivilgerichten mit auf den Weg gegeben hat.
Und das ist schon Einiges.
Ausgehend von den oben genannten Grundsätzen ist die Äußerung der Beschwerdeführerin
„Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaube ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“
anlässlich eines Vortrags zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“ auf Frage aus dem Publikum, wie sie den Kläger des Ausgangsverfahrens in diesem Zusammenhang einstufe, indes unzweideutig dahingehend zu verstehen, die Beschwerdeführerin halte den Kläger des Ausgangsverfahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Die Rezipienten in der konkreten Veranstaltung durften die Äußerung der Beschwerdeführerin dahingehend verstehen, sie halte die vom Kläger des Ausgangsverfahrens in seinen Werken transportierten Ansichten für antisemitisch, also feindlich gegenüber Juden eingestellt; für diese Bewertung bestünden – die Beschwerdeführerin setzt sich als Fachreferentin der (…) Stiftung beruflich mit der Thematik auseinander – entsprechende Anknüpfungspunkte. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts bedurfte es daher mangels Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der in der Entscheidung vom 25. Oktober 2005 – 1 BvR 1696/98 -, (BVerfGE 114, 339 <350>) vom Bundesverfassungsgericht niedergelegten Grundsätze zur Auslegung mehrdeutiger Meinungsäußerungen. Die Äußerung der Beschwerdeführerin ist entgegen dem Berufungsgericht auch nicht dahingehend zu verstehen, der Kläger des Ausgangsverfahrens sei eine Person, die die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch nationalsozialistisch fundiertes Gedankengut grob verletze und möglicherweise in diesem Sinn sogar handlungsbereit sei. Diese Sinndeutung ist fernliegend.
Aber das ist nur der erste Fehler in den aufgehobenen Entscheidungen. Und der zweite folgt sogleich:
Ebenfalls zutreffend rügt die Beschwerdeführerin, dass die Fachgerichte bei ihrer Abwägung verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen sind, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass im Rahmen der Abwägung zwischen den widerstreitenden Rechtspositionen berücksichtigt werden kann, dass eine Tatsachenbehauptung, auf der eine Wertung aufbaut, unrichtig ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2003 – 1 BvR 1172/99 -, juris, Rn. 26). Der in der Äußerung enthaltene Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist jedoch keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an.
Zu der vom OLG eingeführten angeblichen Prangerwirkung findet das Bundesverfassungsgericht deutliche Worte und bezeichnet sie zutreffend als völlig fernliegend:
Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19 -, Rn. 25). Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein. Gegen die Meinung der Beschwerdeführerin könnte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens im Meinungskampf seinerseits wieder öffentlich zur Wehr setzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2012 – 1 BvR 2979/10 -, Rn. 35 mit Verweis auf BVerfGE 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. April 1999 – 1 BvR 2126/93 -, NJW 1999, S. 2358).
Dass die unteren Instanzen bei der Neuauflage des Verfahrens erneut für den verirrten Jammerbarden entscheiden werden, ist zwar theoretisch möglich, aber eigentlich nicht zu erwarten, insbesondere auch, weil Naidoos in der Folge gemachten Telegram-Aktivitäten den Vorwurf des Antisemitismus deutlich erhärtet haben.
Ich kann eh nicht verstehen, warum jemand der in antisemitischen Kreisen um Aufmerksamkeit buhlt, sich überhaupt dagegen wehrt, als Antisemit bezeichnet zu werden, wenn er deutlich mit antisemitischen Codes um sich wirft. Aber was weiß ich schon, was in diesen Schwurbelhirnen vorgeht. Naidoos Kommentar zu der Entscheidung lautet übrigens:
„Xavier Naidoo – Nichts Neues unter der Sonne..
ein Semit darf Antisemit genannt werden… Man hält es im Kopf nicht aus…
Wie man sieht, ist auch das Bundesverfassungsgericht „essen gegangen“.
Für welche Verfassung ist das Gericht eigentlich zuständig???
*Ich Frage für einen Freund*
Das Ganze garniert mit verschiedenen Smileys, die ich Ihnen hier erspare. Ja, man hält es im Kopf nicht aus, was der Mann so von sich gibt. Aber: Auch für einen Naidoo gilt die Meinungsfreiheit. Und ich bin sicher, seine Fans werden ihn als Opfer der BRD-GmbH betrachten und sich in ihrer Überzeugung, dass die Ex-Kanzlerin sich mit dem Verfassungsgericht ausgerechnet über die Causa Naidoo ausgetauscht hat, genauso bestätigt sehen, wie die Corona-Jecken. Da kann man dann auch nichts gegen machen.