Ihre Wahl!

Vor dieser Bundestagswahl liegt eine seltsame Stimmung in der Luft. Das Ergebnis ist so offen wie selten zuvor. Dabei kann jeder jetzt dazu beitragen, dass unsere Demokratie wiederbelebt wird. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Vor der Bundestagswahl am 26.9.2021 liegt eine seltsame Stimmung in der Luft. Viele wissen nicht, wen sie wählen sollen, was z.B. an der Wahl der Kanzlerkandidierenden liegen könnte. Manche meinen auch, das ganze System sei so beknackt, dass man am besten gar nicht wählt. Einige sehen auch überhaupt keine oder nur geringe Unterschiede zwischen den Parteien. Und es sind nicht nur sogenannte bildungsferne Bürger, die den Wahltag lieber für einen faulen Sonntag nutzen wollen.

Langeweile

Die Kritik an der Kaum-Unterscheidbarkeit der im Bundestag vertretenen Parteien ist dabei recht gut nachzuvollziehen. Schließlich waren alle im Bundestag vertretenen Parteien, bis auf Linke und AfD, in der Vergangenheit in wechselnden Besetzungen an der Regierungsarbeit beteiligt und haben die richtungsweisenden Entscheidungen mehr oder weniger miteinander getroffen. Eine echte demokratische Opposition im Sinne einer grundlegend anderen Politikidee ist für viele Menschen nicht mehr erkennbar, wenn man nicht das Dauergenöle der AfD für demokratische Kritik halten will.

Ideologische Unterschiede mag es eventuell noch irgendwo geben, aber durch den Merkelismus der letzten 16 Jahre sind die verwischt. Die erfolgreiche Taktik der scheidenden Kanzlerin, sich ohne große Berührungsängste neue Themen von anderen Parteien abzugreifen und diesen damit das Wasser abzugraben, hat aus ihrer Sicht machtpolitisch Sinn gemacht. Niemand konnte das besser als sie. Sie nahm damit aber immer mehr die Kontraste aus dem Bild, das die Parteipolitik abgibt, hat es blasser, konturloser und damit – in einer Zeit der grellen Videos, scharfen Schnitte und treibenden Rhythmen – langweilig gemacht. Manche mögen das und deshalb hat Olaf Scholz so viel Zustimmung in den Wahlumfragen, weil er genau diese gähnende Langeweile kultiviert hat. Wäre er ein Hund, würde niemand annehmen, dass der was tut.

Nun ist die Kanzlerschaft von Frau Merkel bald zu Ende und zum ersten Mal seit 72 Jahren tritt kein/e Amtsinhaber/in in den Ring. Das macht es auf der einen Seite wieder spannend, auf der anderen Seite aber auch recht unüberschaubar, was man da am Ende für eine Regierung bekommt. Nach dem Gesetz des japanischen Philosophen Toyota ist dieses Mal nichts unmöglich. Und wenn ich nun die CDU nicht mag und deshalb Grün wähle, kann mir passieren, dass ich genau damit eine Schwarz-Grün-Gelbe Koalition gewählt habe. Dasselbe gilt auch für den, der die Grünen nicht mag und deshalb CDU wählt. Wer die SPD wählt, kann in einer Rot-Grün-Roten oder Rot-Grün-Gelben oder auch wieder in einer Rot-Schwarzen Koalition landen. Oder was auch immer, man weiß es nicht.

Der Staat gehört nicht den Parteien

Daraus nun aber die Konsequenz zu ziehen, bewusst auf sein Wahlrecht zu verzichten, kann nur derjenige, dem das demokratische System nicht erhaltenswert scheint. Dass man etwas für die Demokratie tun kann, indem man nicht wählen geht, ist grober Unfug. Und es ist gleichzeitig eine unbewusste Überbewertung der Parteien.

Der Staat gehört nicht den Parteien

In Art. 21 des Grundgesetzes steht:

(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.

Da steht eben nicht, der Staat gehört den Parteien. Sie wirken nur an der politischen Willensbildung mit. Aber nicht nur sie sind zur Mitwirkung berufen, sondern jeder Bürger. Auch wenn er nicht in einer Partei ist oder auch dann, wenn er wegen des zu hohen Wahlalters noch gar nicht wählen kann. An der politischen Willensbildung nimmt man des Weiteren teil, wenn man demonstriert oder Kolumnen schreibt. Auch und gerade Intellektuelle könnten ja mal nicht nur an der Politik herummeckern, sondern konkrete Verbesserungsvorschläge machen. Dazu müssten sie nicht mal in einer Partei sein. Es kann sogar helfen, wenn sie das nicht sind. Früher gab es eine ganze Reihe von Intellektuellen, die sich in die Tagespolitik eingemischt haben. Heute wagt sich kaum jemand aus der Komfortzone.

Natürlich ist es wichtig und auch richtig, wenn man Fehler aufzeigt und offen kritisiert. Das mache ich ja auch fast jede Woche. Nett wäre allerdings, wenn es sich um konstruktive Kritik handelt. Zerstörer haben wir schon genug.

Respekt

Aber es ist wohlfeil, auf denen, die sich in die Politik begeben, ausschließlich herumzutrampeln, ohne deren Tagesabläufe selbst auch nur ansatzweise mitmachen zu wollen oder auch nur bewältigen zu können. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich gemütlich auf dem Sofa oder hinter einem Schreibtisch sitzend bei einem schönen Glas Rotwein einen gesellschaftspolitischen Text schreibe, oder ob ich Tag für Tag als Politiker durch die Mangel gedreht werde. Ich habe grundsätzlich großen Respekt vor denen, die sich das antun.

Ich habe eine ganze Reihe von Kontakten zu Politikern aus allen – naja, sagen wir fast allen Parteien. Im persönlichen Gespräch sind alle, die ich kenne, vernünftige und verantwortungsbewusste Menschen, die sehr wohl nicht nur ihre persönlichen Interessen im Auge haben, sondern auch das Wohl des Staates und der Bürger. Die haben oft auch ganz andere Ansichten als ihre Parteiführung. Kommt es dann aber zu einer Abstimmung, stimmen sie gar nicht mal selten mit der Partei, gegen ihre eigene Meinung und Überzeugung. Wer das nicht will, wird schon mal von seinem Fraktionsführer zusammengeschissen. Sie kennen das.

Hier liegt aus meiner Sicht ein Hauptproblem der anschwellenden Abneigung gegen Politiker. Und hier liegt auch die große Chance einer Wiederbelebung demokratischer Willensbildung.

Denker im Parlament

Was wir am 26.9. wählen, ist nicht die Regierung, den Kanzler oder die Kanzlerin. Wir wählen Abgeordnete. Wir wählen ein Parlament, ein Diskussions- und Gesetzgebungsforum. In dieses Parlament können wir wählen, wen wir wollen. Diejenigen, von denen wir wissen oder denken, dass sie unserem Willen eine Stimme geben oder dem wenigstens nahe kommen oder auch einfach jemanden, dessen Meinung wir zwar nicht teilen, den wir aber für integer halten. Das können Politiker aus Parteien sein, das können aber auch Einzelkandidaten sein. Das könnten sogar die offenbar demokratiemüden Intellektuellen sein, wenn sie denn die Eier hätten, sich zur Wahl zu stellen. Würde gar nichts schaden, ein paar Philosophen und andere Denker im Parlament zu haben, wenn es denn nicht allzu viele sind. In einer früheren Kolumne von 2013 hatte ich sogar mal Querdenker geschrieben, aber dieses Wort hat durch die Corona-Leugner und Extremisten eine andere Bedeutung bekommen. Lieber also nur Denker als „Querdenker“.

Ideen statt Idioten

Im Parlament sollten idealerweise Ideen streiten, nicht Idioten. Parteisoldaten, die außer treu an der richtigen Stelle mit der Partei zu stimmen keine besondere Qualifikation haben, Mitläufer und Schwachmaten muss man nicht wählen. Auch nicht, wenn man ihre Partei vielleicht ganz gut findet. Das Problem mit den Listenkandidaten bekommt man damit zwar nicht ganz aus der Welt, aber wenn man einfach einmal beginnt, mit der Erststimme Persönlichkeiten statt Dreibuchstabenvariablen zu wählen, würden Debatten vielleicht bald wieder eine andere Qualität bekommen.

Ich war als 15-Jähriger selbst einmal für kurze Zeit in einer Partei bzw. in einer Jugendorganisation einer Partei: nämlich in der Jungen Union. Da staunen Sie nun vielleicht. Grund war allerdings nicht, dass ich die CDU so geil fand, sondern dass die in meiner damals tiefschwarzen Heimat noch absolute Mehrheiten einfuhr und ich mir dachte, wenn du was erreichen willst – konkret war es ein Jugendzentrum – dann musst du dahin gehen, wo die Mehrheit liegt. Nach ein paar Monaten wählten die Mitglieder mich schon zum Kreistagsdelegierten. Ich fand das cool. Allerdings nur bis einen Tag vor der Delegiertenkonferenz. Da wollte mir nämlich ein alter Mann aus dem Parteivorstand erklären, wie ich bei den einzelnen Tagesordnungspunkten abzustimmen hätte. Ich habe mir das brav angehört und dann abgestimmt, wie es mir richtig erschien. Danach habe ich die Partei verlassen. Innerparteiliche Demokratie war da eher ein Störfaktor. Delegierte, die eigenständig denken und entscheiden, waren nicht erwünscht.

Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl betrug 76,2 Prozent. Das bedeutet aber, dass knapp 25 Prozent der Wahlberechtigten bei der letzten Bundestagswahl auf ihr Recht zu wählen verzichtet haben. Selbst wenn alle anderen ihrer damaligen Wahl treu bleiben würden, könnten die Nichtwähler also richtig was bewegen. Wenn sie denn nur wollten.

Alle doof

Die Option nicht zu wählen, ist bei aller intellektuellen Begründung eine beleidigte Kleinkindreaktion. Die sind alle doof und wollen nicht mit mir spielen, also spiele ich da auch nicht mehr mit und sitze schmollend in der Ecke. Das System hat mich nicht lieb.

Je geringer die Wahlbeteiligung, um so wahrscheinlicher wird es, dass zum Beispiel verfassungsfeindliche Parteien eine Chance auf einen Parlamentsauftritt bekommen. Das haben wir ja nun schon erlebt. Und was die da abgeliefert haben, hat mit konstruktiver Parlamentsarbeit nicht viel zu tun. Das muss ich nicht haben. Allerdings wird die Vogelschisspartei wohl auch dieses Mal wieder in das Parlament einmarschieren und auch die nächsten vier Jahre herummotzen, rumhetzen und vergeblich versuchen, einen Vizepräsidenten zu bekommen.

Wenn Sie keine der jetzt im Parlament vertretenen Parteien wählen möchten – was ich ganz gut verstehen kann, weil ich mich damit selbst schwer getan habe – dann gibt es ja durchaus Alternativen. Vielleicht nicht gerade die, die sich selbst Alternative für Deutschland nennt und die im Gegensatz zu den meisten anderen Parteien einen streng eurokritischen und Russland freundlichen Kurs fährt, sondern auch die Piraten, für die das Internet kein Neuland, sondern ihre Heimat ist. Oder Volt, Tierschutz- oder Veganerpartei und für die, denen die AfD noch zu wenig Nazi enthält, darf es vielleicht die NPD oder der III. Weg sein oder am anderen Rande des Spektrums die DKP oder die MLPD. Mir ist aufgefallen, dass offenbar viele Türken auf das neue „Team Todenhöfer“ stehen, bei dem ich zwar nicht weiß, wer außer dem alten „Hodentöter“ noch in dem Team ist und wer das finanziert, das aber in der Community der Deutschen mit türkischer Herkunft großes Ansehen geniest, weil Todenhöfer nicht vom Völkermord an den Armeniern spricht, sondern “nur“ von Deportation und weil wohl die AKP-nahe aber nicht an der Wahl beteiligte Partei BIG ( „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“) zu TT-Wahl aufgerufen hat. Für jeden Jeck ist also was dabei. Vielleicht finden Sie auch eine andere der 40 Parteien mit Landeslisten, oder Sie entscheiden sich spaßeshalber für DIE PARTEI, weil die ja sehr gut ist. Es ist ganz egal, was sie wählen, wenn Sie es denn  tun.

Wer soll sonst für das Volk sprechen?

Es ist ein Traum, jemals eine hundertprozentige Wahlbeteiligung zu erleben und von einer Wahlpflicht halte ich auch nichts. Aber stellen Sie sich mal vor, was das für eine Stärkung des Parlaments und der Demokratie bedeuten würde. Mit welchem Selbstbewusstsein Abgeordnete aus allen politischen Richtungen diskutieren würden. Wenn z.B. Fachleute von den Piraten Fragen zur NSA und zum BND stellen oder die Digitalstaatssekretärin grillen würden. Da käme Leben in die Bude, ganz egal, wer die Regierung führt. Kompetente Opposition statt langweiliger Kumpanei. Neue Gesichter und Köpfe, frische Gedanken und Argumente.

Natürlich haben Sie auch das Recht nicht zu wählen, so wie Sie das Recht haben, sich nicht impfen zu lassen. Aber erzählen Sie mir bitte nicht, Sie würden das aus Sorge um die Demokratie, das Land oder den Staat machen. Je geringer die Wahlbeteiligung wird, umso weniger sind die Angeordneten legitimiert, für das Volk zu sprechen. Und durch wen soll es dann sprechen? Durch populistische Hassprediger auf der Straße? Durch beleidigte Intellektuelle, die selbst nicht bereit sind, in den Ring zu steigen? Durch Anarchie? Durch durchgeknallte Jammerbarden, esoterische 61-jährige Dauerpubertierende, die den Leuchtturm nicht mehr sehen, einen Schlagerfuzzi, dem alles egal ist oder einen Möhrenjunkie auf der Flucht? Mag ja vielleicht ein paar Tage lang ganz lustig sein, aber wohin soll uns das letztlich bringen? Wir brauchen ein munteres, kreatives, möglichst junges Parlament, um die Probleme der Zukunft anzugehen, kein defätistisches „Weiter-so“ von Leuten, die andere als Spacken bezeichnen.

Im Gegensatz zu Milliarden Menschen auf der Welt haben wir das Glück und  Recht zu wählen. Das war nicht immer so. Und auch wenn wir uns das nicht selbst erkämpft, sondern die Alliierten uns das beschert haben: es ist ein Glück.  Wenn Sie meinen, dass das bei der letzten Wahl nicht so richtig geklappt hat, dann ändern Sie es einfach. Machen Sie von Ihrem Recht Gebrauch.

Sie haben die Wahl. Sie haben die Chance. Nutzen Sie sie.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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