Der schwere Abschied von der totalitären Vergangenheit. Zum dreißigsten Jahrestag des Moskauer Augustputsches

Vor dreißig Jahren – am 21. August 1991 – kapitulierten die Moskauer Putschisten, die beinahe alle Machthebel im Staate kontrollierten, vor ihren praktisch wehrlosen demokratischen Gegnern um Boris Jelzin. Dies lag nicht zuletzt daran, dass so gut wie niemand mehr im damaligen Russland an die kommunistische Utopie von der „lichten Zukunft“ glaubte. Aber etwa zwei Jahre später verspielten auch die siegreichen Demokraten weitgehend ihr Vertrauenskapital. Mit den Ursachen für diese Entwicklung befasst sich die folgende Kolumne von Leonid Luks


Die „zweite“ russische Doppelherrschaft

Isaac Deutscher – einer der bekanntesten Sowjetologen – bezeichnete 1967 die Vorstellung, dass in Russland irgendwann eine Restauration stattfinden könnte, als völlig absurd. Keine andere europäische Revolution habe sich so lange an der Macht gehalten wie die russische. Anders als die englische oder die französische habe die russische Revolution alle Protagonisten der Revolution überlebt, hob Deutscher hervor.

24 Jahre nach dieser Feststellung kam der revolutionäre Zyklus in Russland doch zu einem Abschluss. Die russischen Demokraten, die am 7. November 1917 von den siegreichen Bolschewiki bezwungen worden waren, kehrten im August 1991 an die Macht zurück. Fand damals in Russland eine Restauration des vorbolschewistischen Regimes statt? In gewisser Hinsicht lässt sich diese Frage bejahen. Denn die „zweite russische Demokratie“, die nach der Entmachtung der KPdSU errichtet wurde, wies erstaunliche Ähnlichkeiten mit der „ersten“ auf, die nach dem Sturz der Romanow-Dynastie entstanden war. Sie hatte vergleichbare strukturelle Schwächen. In beiden Fällen handelte es sich um eine „Doppelherrschaft“: um ein System, das die Gewaltenteilung nicht akzeptiert und das Gewaltmonopol des Staates weitgehend aushöhlt. Die Doppelherrschaft schien zum Fluch der russischen Demokratie im 20. Jahrhundert zu werden. An der Unvereinbarkeit der westlich orientierten parlamentarischen Demokratie mit den basisdemokratischen Sowjets ging am 7. November 1917 die erste russische Demokratie zugrunde. Die im August 1991 errichtete „zweite Demokratie“ war durch den unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Sowjetparlament, dem eine demokratische Legitimierung weitgehend fehlte, und der demokratisch legitimierten Exekutive (Staatspräsident) gelähmt.

Die aus der Breschnew-Zeit (1978) stammende, völlig antiquierte russische Verfassung erklärte das Sowjetparlament zur letzten Instanz im Staate und hob das Prinzip der Gewaltenteilung praktisch auf (damit knüpfte sie an die Tradition aller früheren sowjetischen Verfassungen seit Juli 1918 an). Der Oberste Sowjet hatte nach der Verfassung das Recht, jeden Beschluss der Exekutive als verfassungswidrig einzustufen, und er machte von diesem Recht immer wieder Gebrauch. Dieses Vorgehen wurde allmählich zur Routine. Die Paradoxie der damaligen Situation, die sich Mitte 1993 gefährlich zuspitzte, fasste der Moskauer Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Wassili Seljunin folgendermaßen zusammen:

Man kann dem Moskauer Parlament vieles vorwerfen. Eines aber nicht: nämlich, dass es Gesetze missachtet. Denn nach der bestehenden Verfassung sind alle seine Handlungen, auch die verrücktesten, legal.

Indes strebt jede Gesellschaft danach, den Zustand der Doppelherrschaft so schnell wie möglich zu beenden. Denn der legitimatorische Wirrwarr, den diese Art von Herrschaft verursacht, macht das Funktionieren des Staates als solchen kaum möglich.

Die erste russische Doppelherrschaft wurde am 7. November 1917 durch den bolschewistischen Putsch beseitigt. Der „zweiten“ setzte der Staatsstreich Boris Jelzins ein Ende, als er am 21. September 1993 das sowjetische Parlament per Dekret auflöste. Jelzins Dekret löste seinerseits den Versuch eines Gegenstaatsstreiches der konservativ eingestellten Parlamentarier aus. Der Sitz des russischen Parlaments, das Weiße Haus, das während des Putsches vom August 1991 noch als Symbol der jungen russischen Demokratie gegolten hatte, symbolisierte nun für die Jelzin-Anhänger die Reformfeindlichkeit der „ewig gestrigen Dogmatiker“. Bei den Zusammenstößen, die am 3. und 4. Oktober 1993 ihren Höhepunkt erreichten, verloren nach offiziellen Angaben etwa 150 Menschen das Leben. Die von vielen Fernsehstationen live übertragene Erstürmung des Weißen Hauses hinterließ ein tiefes Trauma im Bewusstsein der Bevölkerung und trug zur Diskreditierung der demokratischen Idee erheblich bei. Aber auch die von vielen Russen als Trauma empfundene Auflösung der Sowjetunion und die wirtschaftliche Schocktherapie, die den Lebensstandard der Bevölkerung zunächst beinahe halbierte, erschütterten das Vertrauen vieler gesellschaftlicher Gruppen in das neue System.

Die demokratischen Werte erlebten jetzt eine ähnliche Erosion wie früher die kommunistischen, schrieb 1992 der Publizist Leonid Radsichowski. Der Begriff „Demokratie“ werde allmählich zum Schimpfwort.

Weimarer Russland?

Damals begann man in Ost und West wiederholt Parallelen zwischen der Weimarer Republik und dem postsowjetischen Russland zu ziehen. Die Ähnlichkeiten waren auf den ersten Blick in der Tat erstaunlich. Wie damals im Weimarer Deutschland assoziierte sich auch im postkommunistischen Russland die Demokratie mit dem Zusammenbruch der hegemonialen Stellung der beiden Länder auf dem europäischen Kontinent, mit dem Verlust von Territorien und mit der Entstehung einer neuen Diaspora. Zur nationalen Demütigung gesellten sich in beiden Fällen eine katastrophale Wirtschaftskrise und ein Verlust der bis dahin als selbstverständlich geltenden Orientierungen. Dabei geschah dieser Zusammenbruch in beiden Ländern praktisch über Nacht, innerlich waren sie darauf völlig unvorbereitet. Im Wilhelminischen Deutschland hat man praktisch bis zuletzt an einen Sieg im Weltkrieg geglaubt. Ähnlich fassungslos reagierte die sowjetische Bevölkerung auf den Zusammenbruch eines Imperiums, das noch bis 1991 gemeinsam mit den Vereinigten Staaten über die Geschicke der Welt entschied. Diesen plötzlichen Abstieg führten manche Verfechter der alten Ordnung im postsowjetischen Russland, ähnlich wie dies auch viele Nostalgiker in der Weimarer Republik getan hatten, auf die Verschwörung dunkler Mächte zurück. Besonders eifrig beteiligen sich an der Verbreitung solcher Verschwörungstheorien und  „Dolchstoßlegenden“ ausgerechnet Vertreter der früheren Machteliten, die durch die Überspannung der Kräfte der eigenen Nation während des Kalten Krieges zum Zusammenbruch des Imperiums erheblich beitrugen. Ihre Argumente sind denjenigen der deutschen Verfechter der Dolchstoßlegende in der Weimarer Republik zum Verwechseln ähnlich.

Die russischen „Europäer“, denen der Kontinent in den Jahren 1989-1991 die friedliche Überwindung seiner jahrzehntelangen Kluft im Wesentlichen verdankte, standen nun mit dem Rücken zur Wand und schienen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens in Russland verloren zu haben – dies, vor allem nach der Errichtung der „gelenkten Demokratie“ Vladimir Putins, die nach dem Rücktritt Boris Jelzins die „zweite“ russische Demokratie ablöste.

Es gibt unzählige Versuche in Ost und West das Scheitern des zweiten demokratischen Experiments in Russland zu erklären. Mit einem von diesen Versuchen möchte ich mich hier befassen. Es geht um den Artikel „Wie wir denken“ des Leiters des regimekritischen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, Lew Gudkow, der am 3. Februar 2021 auf dem Portal „Liberalnaja missija“ (die Liberale Mission) erschienen ist.

Eine totalitäre Revanche?

Gudkow führt das Scheitern der russischen Demokraten bzw. des liberalen Denkmodells im postsowjetischen Russland in erster Linie darauf zurück, dass es deren Verfechtern nicht gelang, die angeschlagenen totalitären Strukturen, die im Lande auch nach der Entmachtung der KPdSU weiterhin existierten, zu demontieren. In gewisser Hinsicht knüpft hier Gudkow an die Gedankengänge der 1998 ermordeten russischen Politikerin Galina Starowojtowa, an, die es für einen unverzeihlichen Fehler der russischen Demokraten hielt, dass sie ihren Sieg vom August 1991 nicht ausreichend genutzt hätten: Gerade damals habe eine einmalige Gelegenheit bestanden, den angeschlagenen alten Machtapparat abzulösen bzw. radikal zu erneuern. Dies sei aber nicht geschehen, und so hätten die alten Strukturen eine Atempause erhalten, um sich erneut zu konsolidieren, hob Starowojtowa hervor. Gudkow spricht seinerseits von der „Regeneration der totalitären Institute und der entsprechenden Schichten der sowjetischen Ideologie … Die Demokratie und der Rechtsstaat wurden zwar ausgerufen, es wurde aber nichts unternommen, um sie institutionell zu verankern und vor einer (autoritären) Restauration zu schützen“. Die Regeneration der totalitären Herrschaftsmechanismen rufe zwar Proteste mancher gesellschaftlicher Gruppen hervor, so Gudkow, es handele sich hier aber lediglich um eine Minderheit. Für die Bevölkerungsmehrheit hingegen stellten die „sowjetischen Ideologeme“, mit denen das Regime seine Herrschaft legitimiere, auch einen Teil der „wiederhergestellten kollektiven Identität“ dar, setzt Gudkow seine Gedankengänge fort.

Die russische bzw. sowjetische und die deutsche Vergangenheitsbewältigung im Vergleich

Der aufschlussreiche Beitrag des Leiters des Lewada-Zentrums enthält allerdings eine These, die, aus meiner Sicht, weniger überzeugend ist. So schreibt Gudkow:

Die dünne Schicht der protestierenden Minderheit … (kann nicht) die grundlegende Struktur des Verhältnisses zwischen Staat und Bevölkerung verändern. Solange diese Problematik … nicht entsprechend analysiert wird, wie dies in Bezug auf den Nationalsozialismus (in Deutschland) geschah, wird keine Protestbewegung imstande sein, eine Gesellschaft zu verändern, die nicht in der Lage ist, ihre totalitäre Vergangenheit zu bewältigen.

Bei diesem Vergleich zwischen der deutschen und der russischen Vergangenheitsbewältigung lässt Gudkow indes Folgendes außer Acht: Wie die historische Erfahrung zeigt, ist die Überwindung eines totalitären Erbes ohne massive Unterstützung von außen schwer durchführbar. Die Tatsache, dass der westliche Teil Deutschlands nach dem wohl beispiellosen Zivilisationsbruch von 1933-1945 relativ schnell stabile demokratische Strukturen aufbauen konnte, war untrennbar mit dem Marshall-Plan und mit dem sonstigen Beistand der Staaten der freien Welt verbunden.  Eine vergleichbare massive Unterstützung von außen fehlte den russischen Demokraten weitgehend. Dies war auch einer der Gründe für das Scheitern der im August 1991 gegründeten „zweiten“ russischen Demokratie.

Nun möchte ich genauer auf die verschiedenen Szenarien der Bewältigung des totalitären Erbes in Deutschland auf der einen und in Russland bzw. in der UdSSR auf der anderen Seite eingehen.

Zunächst einige Worte zu Deutschland:

Deutschlands „Stunde Null“

Das nationalsozialistische Regime erreichte den Gipfel seiner Radikalität kurz vor seinem Zusammenbruch. Als Verehrer von Richard Wagner versuchte Hitler den Untergang des Dritten Reiches als eine Art „Götterdämmerung“ zu inszenieren. Da er sein Erscheinen in der deutschen Geschichte für deren Erfüllung hielt, erstrebte er mit seinem Ableben auch das Ende der deutschen Geschichte. Am 19. März 1945 führte er im Gespräch mit dem Rüstungsminister Albert Speer aus:

Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das (deutsche) Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitiven Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, (es ist) besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf (übrigbleibt) sind ohnehin die Minderwertigen, denn die Guten (sind) gefallen.

So stand am Ende des deutschen „totalitären Experiments“ eine beispiellose Selbstzerstörung.

Es ist paradox, dass ausgerechnet nach der größten Katastrophe der deutschen Geschichte, die stabilste Demokratie in der Geschichte des Landes entstehen konnte. Beide Vorgänge waren allerdings eng miteinander verknüpft. So konnte nach 1945, angesichts der totalen Niederlage des Dritten Reiches, keine Legende von der „im Felde unbesiegten Nation“ entstehen, die die die politische Kultur von Weimar so stark vergiftet hatte. Auch die Dolchstoßlegende erlebte nach 1945 keine Neuauflage, denn oppositionelle Gruppierungen, denen man 1918 den Verrat an der Heimatfront vorgeworfen hatte, waren im Dritten Reich bereits während der Gleichschaltung von 1933 völlig zerstört worden. So hatte die NS-Führung bis zum letzten Atemzug des Regimes die totale Kontrolle über das Land. Den Gegnern des Nationalsozialismus ist es nicht gelungen, breitere Bevölkerungsschichten zu erfassen. Der Bochumer Historiker Hans Mommsen spricht sogar vom „Widerstand ohne Volk“. Und schließlich hat auch die Kriegsschuldfrage nach 1945 keine vergleichbaren Kontroversen wie nach dem Ersten Weltkrieg hervorgerufen. Heinrich August Winkler schreibt dazu:

Zu offenkundig war, dass der Mann an der Spitze des Reiches den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte und die Hauptverantwortung für seine Ergebnisse trug. Kriegsunschulds- und Dolchstoßlegenden hatten nach 1945, anders als nach 1918, keine Aussicht, den Beifall der Massen zu finden.

So konnte sich die Bundesrepublik, anders als die Weimarer Republik, ohne den Ballast der Mythen entfalten, die seinerzeit die Zerstörung der „ersten“ deutschen Demokratie mitverursacht hatten.

Zwischen Bruch und Kontinuität – die Vergangenheitsbewältigung in der UdSSR

Die Aufarbeitung der totalitären, vor allem der stalinistischen Vergangenheit, entwickelte sich in der Sowjetunion nach einem ganz anderen Szenario als in Deutschland. Hier wurde der „Sturz des Götzen“ vom gleichen System vollzogen, das ihn seinerzeit auf das Podest gehoben hatte. So musste die bereits kurz nach dem Tode Stalins in der UdSSR begonnene Entstalinisierung nicht nur den Bruch, sondern auch die Kontinuität verkörpern. Eine „Stunde Null“ hatte es in der Sowjetunion, anders als in Deutschland, nicht gegeben. Dessen ungeachtet darf der „postume Tyrannensturz“, den Stalins Nachfolger, Nikita Chruschtschow, auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 vollbracht hatte, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Tatsache, dass die höchste Instanz der KPdSU – der Parteitag – die „gottähnliche Gestalt“, die das Wesen des sowjetischen Systems im Verlauf eines Vierteljahrhunderts verkörperte, als einen Massenmörder entlarvt hatte, musste zwangsläufig die Fundamente des Regimes erschüttern. Denn der Stalin-Kult stellte nicht nur eine von oben verordnete bürokratische Maßnahme dar. Er wurde von Millionen von Sowjetmenschen – Tätern und Opfern, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – verinnerlicht. Der Literaturwissenschaftler Natan Ejdelman sprach während der Gorbatschowschen Perestroika von einer Stalin-Hypnose, die die sowjetische Gesellschaft Mitte der 1930er Jahre erfasst und bis zum Tode des Despoten angedauert habe. Zwar versuchte die herrschende Oligarchie den von ihr 1956 begonnenen Prozess einzudämmen, sie hatte aber dabei nur einen begrenzten Erfolg.

Die erste Welle der Entstalinisierung nach dem Tode Stalins hatte zwar die zentralen Säulen des „voll ausgebildeten“ stalinistischen Regimes – Massenterror und Personenkult – erschüttert, die Grundlagen des von Stalin in den 1930er Jahre errichteten „Kommandosystems“ blieben aber unangetastet. Die Erschütterung dieser Grundlagen fand erst während der Gorbatschowschen Perestroika statt. Die Apologeten Stalins standen damals mit dem Rücken zur Wand. Und es war gerade die immer schärfer werdende Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus, die der Perestroika eine beispiellose Dynamik verliehen hatte. Presseorgane, die sich mit der Stalinschen Schreckensherrschaft besonders intensiv auseinandersetzten, erzielten damals atemberaubende Auflagen. So ist die oft in Ost und West vertretene These von der so gut wie nicht stattgefundenen Vergangenheitsbewältigung in Russland bzw. in der UdSSR alles andere als genau. Wäre sie zutreffend, so wären weder die Erosion des sowjetischen Systems noch die Auflösung des „äußeren Sowjetimperiums“, also des Ostblocks, möglich. Denn das, woran die kommunistischen Regime letztendlich scheiterten, war nicht nur ihre wirtschaftliche und politische Ineffizienz, sondern in einem vielleicht noch größeren Ausmaß die „Wahrheit über sich selbst“.

Stalins neue Popularität

Warum haben die Kritiker Stalins ausgerechnet nach der Entmachtung der KPdSU im August 1991 die Initiative im innerrussischen Diskurs verloren? Dies ungeachtet der Tatsache, dass viele russische Historiker infolge der „Archivrevolution“, die im Lande nach der Auflösung der UdSSR stattfand, unzählige Bücher veröffentlichen, in denen der verbrecherische Charakter des stalinistischen Regimes durch eine Fülle neuer Dokumente belegt wurde. Der Vorsitzende der Kommission zur Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgungen beim Präsidenten der Russischen Föderation, Alexander Jakowlew, charakterisierte diese Bücher mit folgenden Worten:

Dies sind Bücher über uns selbst, sie enthalten bittere und unbarmherzige Wahrheiten. Deren Kenntnis stellt aber eine Voraussetzung für die Gesundung unseres Landes dar. Bei diesen Büchern handelt es sich um ein dokumentarisch erhärtetes Urteil über ein unmenschliches System, das jahrzehntelang eine politische und geistige Vernichtungspolitik betrieb. Diese Bücher sind ein Aufruf zur Reue, sie sind von dem Blut der Opfer und der Schamlosigkeit der Täter durchtränkt.

All diese Erkenntnisse waren indes, anders als in der Spätphase der Perestroika, kaum imstande, die breite Öffentlichkeit zu beeinflussen. Die Popularität Stalins im postsowjetischen Russland wächst ununterbrochen. Mehr als die Hälfte der befragten Russen vertreten die Meinung, dass Stalin in der Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion „eine unbedingt positive oder eher positive Rolle“ gespielt habe. Wenn man bedenkt, dass die Verbrechen Stalins sich in erster Linie gegen sein eigenes Volk richteten, dem er mitten im Frieden den Krieg erklärte, mutet diese Verklärung Stalins durch viele Nachfahren seiner Opfer besonders bizarr an.

Dieses Phänomen ist sicher mit der Erosion des liberalen Denkmodells und mit dem Scheitern der „zweiten“ demokratischen Experiments im Lande eng verbunden, von denen hier bereits die Rede war.

Dessen ungeachtet bleibt Russland auch weiterhin ein gespaltenes Land. Denn es verfügt bekanntlich nicht nur über eine obrigkeitsstaatliche, sondern auch über eine freiheitliche Tradition. Und die Verfechter dieser letzteren Orientierung, die man nicht selten als „russische Europäer“ bezeichnet, melden sich unentwegt zu Wort, und es gelingt ihnen, ihre autoritär gesinnten Kontrahenten gelegentlich in die Schranken zu weisen. So war es in der Epoche der Reformen des liberalen Zaren Alexander II. (1855-1881), nach der Einführung der Gewaltenteilung im Lande infolge der Revolution von 1905 oder während der Gorbatschowschen Perestroika. Zwar haben die „russischen Europäer“ ausgerechnet nach der Entmachtung der KPdSU die Initiative im innerrussischen Diskurs verloren, das letzte Wort in dieser Auseinandersetzung ist aber noch nicht gesprochen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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