Kein moralisch gedrosselter Wettbewerb in Wahlkampfzeiten
Am Ende der Ära Merkel existieren plötzlich grundlegend unterschiedliche Wünsche, in welchem Stil Wahlkämpfe geführt werden sollen. Der Autor vertritt die Haltung: Intensiver Wettbewerb, offene Kritik und scharfer Diskurs sind nicht was für seltene wie idealistische Sonntagsreden, sie sind erstrebenswert und bleiben unverzichtbar. Kolumne von Hasso Mansfeld
Es ist Wahlkampf. Und das ist auch gut so. Die Zeit der Großen Koalition brachte viel Beruhigung mit sich. Der politische Wettbewerb der Parteien litt darunter. Deshalb ist der offene Bundestagswahlkampf 2021 auch ein Stück Befreiung davon: Jetzt geht es wieder um Zukunftsentwürfe, um Personenkonstellation, um das zukünftige Regierungspersonal, um andere Koalitionsoptionen. Idealerweise wäre das so.
Demgegenüber stehen Stimmen, die ein deutliches Missfallen in Bezug auf die Kritik an Kanzlerkandidatin Baerbock ausdrücken. Vielen scheint fremd geworden zu sein, dass zum Wahlkampf auch Härte und sogar offene kommunikative Machtauseinandersetzungen um die Führung des Landes gehören, kurz: ein intensiver, offener und freier Wettbewerb. Da geht es nicht nur um braven Austausch von Inhalten und Argumenten, da muss sich auch Führungspersonal als tauglich erweisen und der Kritik stellen, die auch auf die Person bezogen sein kann.
Baerbocks verhaltene, defensive Reaktion bei „Farbe bekennen“ sorgt für Misstrauen und ihre Entschuldigung wirkte halbgar. Sie bat eher um Nachsicht. Noch immer sind nicht alle Details geklärt. De facto bat Baerbock um ein Ende der Debatte in ihrem Fernsehauftritt, die sie auch politisch begründete gegenüber den ARD-Journalisten. Zum Wahlkampf gehört aber unweigerlich die Debatte auch über die Person und ihre Eignung. Sie kann und darf nicht vermieden werden.
Inhaltliche Vorhaben genauso wie die Personalvorschläge der Parteien werden im Wahlkampf von der Öffentlichkeit geprüft und kritisch bewertet. Fromme Andächtigkeit hingegen, die Autorität sittsam achtet oder gar eine moralisch erbetene Unterordnung, gehören nicht in die säkulare und liberale Demokratie.
Die letzten sechs Wochen offenbarten plötzlich, dass der intensive demokratische Streit den Grünen nicht so sehr passt, wenn er zu ihren Lasten geht. Baerbock sitzt mittlerweile seit acht Jahren im Bundestag und ist seit 2009 Landesvorsitzende ihrer Partei in Brandenburg. Baerbock ist somit keine Anfängerin, und sie ist bewusst angetreten, um Kanzlerkandidatin zu werden. Das heißt konkret, sie setzt sich dem Risiko von Sieg und Niederlage in einem intensiv geführten Wahlkampf aus. Warum Baerbock bei ihrem Lebenslauf durch mehrfache fehlerbehaftete Angaben Sorgfaltspflichten verletzte, ist nicht plausibel geworden.
Eben diese Schärfe, der intensiv geführte Wettbewerb, zu dem auch Angriffe gehören, stört plötzlich viele Grüne und viele ihrer Sympathisanten. Statt Kritik erwarten viele Grüne sogar Unterstützung von der Öffentlichkeit für ihre ins Moralische gewendete Anliegen und haben sich an einen sanften Journalismus gewöhnt. Und die im liberalen Staat inhärent erfolgende Kritik auch an Frauen in politischen Führungspositionen wird als etwas Liebloses und Ungehöriges hingestellt.
Andererseits gilt auch: Auf Social Media Plattformen wie Facebook und besonders Twitter hat sich bisweilen eine unverhohlene pöbelnde Beschimpfungspraxis etabliert, die sich an keine zivilisatorischen Standards hält. Weiter angefacht wird dies von rechtspopulistischen Generalangriffen, die das von ihnen geschaffene Bedrohungsklima zur Widerstandshandlung erklären. Richtig ist weiter: Aktivistinnen werden auf Social Media seit langem gezielt eingeschüchtert mit Beleidigungen, Drohungen für Leib und Leben einschließlich Androhungen gewalttätiger sexueller Demütigungen, auch gerade von einem rechtsradikal agierenden Spektrum. Der unverhohlene offene Frauenhass empört und verletzt das sittliche Empfinden und schränkt Gleichberechtigung und aktive Teilhabe ein. An Grünen-Politikerinnen wie Ricarda Lange arbeiten sich pure Mobbinggelüste unkontrolliert ab. Hier müssen unstrittig alle Demokraten zusammenstehen, ebenso wie beim Thema Angriffe auf Kommunalpolitiker.
Aber sollte aus dieser in ihrer brutalen Art und Weise erschütternden verbreiteten Frauenfeindlichkeit und dem unverstellten Hass die weitreichende, staatspolitische Konsequenz gezogen werden, im Wahlkampf begründete Kritik an Baerbock abzuqualifizieren und als eine weitere Geschlechterungerechtigkeit aufzufassen, die überwunden werden muss?
Die für viele weitere exemplarischen Interventionen der Fraktionsvorsitzenden Goering-Eckhart oder von Ministerpräsident Kretschmann zu Gunsten von Baerbock lassen den bedenklichen Schluss zu: Sachkritik am Verhalten und an den Machtansprüchen der Person wird absichtlich auf das Geschlecht der Person bezogen, um es als ein falsches Sozialverhalten gegenüber Frauen abtun zu können. Auch Kretschmann sprach der Kritik an Baerbock die sachliche Berechtigung ab: Sie drücke nur Angst aus. Natürlich: Kritik sollte auf ihre sachliche Berechtigung geprüft werden, bedarf der Einordnung, auch der Klärung der Motive. Übermaß darf und muss relativiert werden. Aber sie für gegenstandslos und per se unmoralisch zu erklären, das ginge zu weit.
Moral darf nicht zur grundlegenden Immunisierung gegen Kritik missbraucht werden. Denn die Konsequenz daraus wäre: Weniger Wettbewerb, ein eingeschränkter Diskurs, und auch normale Kritik stünde unter Verdacht. Dies würde bedeuten: Weniger Demokratie, weniger Legitimität aus offener Debatte. Das Ergebnis wäre eine schlechtere Qualität der Demokratie und des politischen Zusammenlebens.
Es zeigt sich auch, mit dem Ende der Ära Merkel wollen die Grünen dem traditionellen bürgerlichen Spektrum wieder die moralische Glaubwürdigkeit absprechen. Sie wollen sich selbst als das moralisch bessere Deutschland präsentieren. Diese Haltung versteht sich selbst als geradezu moralisch alternativlos. Damit stellt sie ihre Kritiker und demokratischen Gegner unweigerlich ethisch unter Verdacht. Das ist zwar legal, aber die Konsequenzen wären negativ für die Allgemeinheit.
Baerbocks und Habecks verkündete Mission einer Erneuerung droht hier, unversehens neue Spielregeln einführen zu wollen. Auf den Verzicht des Rechts auf Kritik muss sich niemand einlassen. Es gibt für die Bürger keine moralischen Gründe, den Grünen grundlos Vertrauen zu schenken, egal was sie für Ansprüche an die Moral erheben und verkünden. Selbst das Epochenthema Klimaneutralität begründet keine vorgeordnete Treuepflicht des Bürgers zu Staat und Politik.
Eine kraftvolle und aufmerksame bürgerliche Öffentlichkeit sollte sich darauf nicht einlassen, dass die Grünen ihnen eine neuartige moralische Selbstbeschränkung auferlegen wollen. Die Öffentlichkeit hat eine Wächterfunktion. Staatsfromm zu sein, das hat den Deutschen historisch bitter geschadet. Und von der moralfrommen Attitüde der Grünen in ihrer neusten Version sollte sich kein Bürger einlullen lassen. Der Wahlkampf 2021 sollte Befreiung sein, gerade von der die Große Koalition begleitenden Starre, aber nicht moralischen Verzicht auf die Grundrechte der aktiven Staatsbürgerrolle fordern.
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