Zivilcourage – Risiko Notwehr

Zivilcourage kann auch für echte Helden zu einer Verurteilung führen. Über das Recht auf Notwehr gibt es viele Missverständnisse. Leider auch bei Gerichten. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Tom und Nicki Löschner auf Pixabay

Wenn ich meine Rechtskundeschüler frage, ob ich einen anderen Menschen töten darf, ohne dafür bestraft zu werden, kommt in fast allen Fällen die spontane Antwort „Nein, natürlich nicht“. Das ist ja sehr nett von den Schülern, aber es ist falsch. Möglicherweise ist eine Tötung nämlich von der Rechtsordnung gedeckt. Das Zauberwort heißt Notwehr oder in seiner altruistischen Variante Nothilfe. Leider wird das auch von Gerichten nicht immer richtig erkannt. Und das stellt vor allem ein Problem für diejenigen dar, deren Einschreiten von der Politik immer wieder gefordert wird, für Menschen mit Zivilcourage.

Eingreifen?

Was machen Sie, wenn Sie sehen, dass drei Männer eine Frau in der Straßenbahn anmachen, sie sexistisch beleidigen, sie anfassen? Sie sind alleine und haben keine Chance gegen die drei. Haben Sie den Mut, aufzustehen und die Angreifer aufzufordern die Frau in Ruhe zu lassen? Das wäre womöglich heroisch, womöglich aber auch damit verbunden, dass die drei sich Ihnen zuwenden und Ihnen Ihre Zivilcourage aus dem Kopf schlagen. Also keine gute Idee. Nichts tun ist auch Kacke. Also vielleicht einen Notruf absetzen? Was nun, wenn Sie eine Waffe dabei haben?

Ich erinnere mich noch gut an meine „Gewissensprüfung“. Die musste man in den 70er Jahren ablegen, wenn man den Wehrdienst an der Waffe verweigerte. Da fragte mich der Vorsitzende, wie ich denn in folgendem Fall handeln würde:

Sie gehen mit Ihrer Freundin in den Wald und treffen dort auf eine Rockerbande.

Mein Einwand, Rocker im Wald seien eher selten wurde mit der Begründung abgetan:

Sie haben doch Abitur. Da müssen Sie sich das abstrakt vorstellen können.

Nun gut.

Diese Rocker greifen Ihre Freundin an und wollen die vergewaltigen. Sie haben eine Maschinenpistole dabei.

Ich wies darauf hin, dass ich weder eine Maschinenpistole besäße, noch die Absicht hätte, mit einer solchen mit meiner Freundin spazieren zu gehen. Bei einem späteren Besuch in Israel sah ich, dass das durchaus geht und mitunter sinnvoll sein könnte.

Nun stellen Sie sich das einfach einmal vor.

Ja gut, hab ich gemacht. Mein weiterer Einwand, die Rocker würden wohl angesichts der Maschinenpistole das Weite suchen, wurde ebenfalls nicht akzeptiert. Ich gab dann an, ich würde die Waffe mal kurz knattern lassen, und wenn die Drecksäcke dann nicht von meiner Freundin abließen, dann würde ich die alle niedermähen. Das sorgte für ein begeistertes Nicken des Fragestellers.

Ja,“ sagte ich, „das ist Notwehr. Und wenn ich das Ding schon mal dabei hab. Was wollten Sie nun damit beweisen?“

Danach hatten die die Nase voll von mir und wollten mich nicht beim Bund haben.

Systematisch betrachtet ist Notwehr ein Rechtfertigungsgrund, d.h. wer in einer Notwehrsituation eine Straftat begeht, macht sich nicht strafbar, weil seine Tat – zum Beispiel ein tatbestandsmäßiger Totschlag; nichts anderes hätte ich bei der imaginären Eliminierung der Rockerbande gemacht – gerechtfertigt ist. Im Gesetz steht das so:

§ 32 StGB Notwehr

Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Das klingt ja erst einmal ganz einfach, ist es aber leider nicht.

Schon die alten Römer kannten den Grundsatz „vim vi repellere licet“; also Gewalt darf mit Gewalt abgewehrt werden. Das ist nichts Neues. Heute sagt man dazu auch gerne, das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. Wer angegriffen wird, darf grundsätzlich zurückschlagen. Niemand etwa muss vor einem Angriff fliehen. Im Grundsatz ja. Aber eben nicht immer.

Notwehrlage

Basis einer rechtfertigenden Notwehr ist zunächst immer einmal eine Notwehrlage in Form eines gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffs. Niemand muss bei einem Angriff abwarten, bis er selbst oder andere verletzt worden sind. Auch der Angreifer, der gerade erst zum Schlag ausgeholt hat, darf eins auf die Fresse bekommen.

Also alles gut? Wenn’s mal so einfach wäre. Das Notwehrrecht erlaubt nämlich nur die „erforderliche“ Abwehrhandlung, mithin nicht immer jede.

Der BGH hat das einmal so ausgedrückt:

Erforderlich ist diejenige Verteidigungshandlung, die geeignet ist, den Angriff sofort sicher und endgültig zu beenden und dabei das relativ mildeste der in Betracht kommenden Verteidigungsmittel ist.“ (BGHSt. 3, 217)

Der Angegriffene kann nicht einfach jedes verfügbare Mittel anwenden

Ein tödlicher Schuss kann nur als Ultima Ratio ins Kalkül gezogen werden. Den Angegriffenen trifft demnach eine besondere Pflicht. Er kann nicht einfach jede Waffe nutzen, sondern muss sich schon auch überlegen, welche Mittel er konkret zur Abwehr des Angriffs einsetzt. Allerdings ist die Zeit zum Überlegen oft nur in Millisekunden zu messen. Es muss halt schnell gehen. Ich muss nicht erst sinnieren, bis die Rocker mir die Waffe weggenommen haben.

Das gilt für den normalen Bürger nicht anders als für einen Polizeibeamten, der darüber hinaus auch einen gewissen nervlichen Vorteil haben sollte, für derartige Situationen an der Waffe geschult worden zu sein. Aber auch Polizeibeamte sind Menschen.

Die eingesetzten Abwehrmaßnahmen müssen in einem „gebotenen“ Verhältnis zum Angriff stehen.

Ein Beispiel, das jedem einleuchten wird: Sie können nicht einfach den Nachbarjungen mit der Flinte aus Ihrem Apfelbaum knallen, nur weil er da ihr Eigentum in Form von ein paar Äpfeln angreift. Da ist ein zu großes Gefälle zwischen dem geschützten Rechtsgut (Eigentum an den Äpfeln) und dem Rechtsgut Leben auf Seiten des Jungen. Wenn Sie allerdings einen Einbrecher in Ihrer Wohnung überraschen und der sich nicht umgehend verpisst, dann sieht das wieder anders aus.

Es gibt allerdings Situationen, wo das letzte Mittel auch das einzige sichere Mittel ist. Man kann deshalb nicht grundsätzlich sagen, dass nicht geschossen werden darf, oder dass jeder tödliche Schuss aus einer Polizeiwaffe unangemessene Polizeigewalt wäre.

Gestern erschoss ein Polizist in Hamburg einen Mann, der mit einem Messer auf Autofahrer losging und durch einen Taser nicht zu bändigen war. Das könnte sehr gut eine Nothilfehandlung gewesen sein.

Und auch wenn man aus dem Fernsehen diese polizeilichen Kunstschützen zu kennen glaubt, die einen Angreifer mit einem gezielten Schuss in den Arm oder das Knie stoppen – in der Realität sieht das ganz anders aus. Man fällt auch nicht gleich handlungsunfähig um, wenn man getroffen wird. Im fiktiven Rockerbeispiel wäre der Einsatz der Maschinenpistole deshalb völlig okay gewesen.

Ob eine Abwehrhandlung erforderlich war, ist aber häufig in Verfahren eine schwierige Frage. Es ist letztlich eine Bewertungsfrage, die erst die Staatsanwaltschaft und, falls es zu einer Anklage kommt, das Gericht entscheiden muss. Diese Bewertung muss natürlich aus der Perspektive des Täters zur Tatzeit getroffen werden. Der konnte nämlich nicht mal kurz in den Zeitlupenmodus gehen und dies und das bedenken; der musste handeln. Wer bereits das Messer eines Angreifers im Gesicht hatte, der ist so verdammt nah an diesem dran, dass ein gezielter Schuss in das Knie kaum machbar ist. Da darf man dann auch einfach drauf halten, bis die Situation bereinigt ist.

Trutzwehr und Schutzwehr

Grundsätzlich hat man im Rahmen der Notwehr das Recht zur sogenannten Trutzwehr. Das klingt jetzt zwar nach den alten Rittersleut, bedeutet aber nur, dass man nicht vor dem Angreifer fliehen muss, auch wenn man es könnte, sondern einen Angriff mit einem Gegenangriff beenden darf. Im Fußball würde man von einem Konter sprechen.

Wo es aber einen Grundsatz gibt, da gibt es immer auch mindestens eine Ausnahme. Gegenüber Kindern und anderen offenkundig schuldlos handelnden Menschen, also zum Beispiel Vollgesoffenen oder psychisch Kranken, ist die Trutzwehr nur selten zulässig.

Nämlich nur dann, wenn es anders gar nicht mehr geht. Wenn der dreijährige Amerikaner mit seinem Kindergewehr auf andere Kinder schießt, dann darf man auch ihn erschießen, wenn er anders nicht gebremst werden kann. Und auch von einem Volltrunkenen muss man sich nicht umbringen lassen. Aber ansonsten muss man eben zur reinen Schutzwehr übergehen. Das bedeutet auf Deutsch: Man muss sich dem Angriff eines Schuldunfähigen, falls möglich, durch Ausweichen oder sogar Flucht entziehen.

Insofern eine Notwehrlage grundsätzlich vorlag, kann es auch noch einen sogenannten „intensiven Notwehrexzess“ geben. Der ist dann gegeben, wenn jemand bei einer bestehenden Notwehrlage das Maß der Notwehr überschreitet, also z.B. den bereits niedergeschlagenen, bewusstlosen Angreifer noch mit diversen Tritten (aus Wut oder warum auch immer) ins Jenseits befördert.

Wir sollten uns immer hüten, ein vorschnelles Urteil zu fällen, egal in welche Richtung. Und auch wenn ich mich wiederhole: Die Unschuldsvermutung gilt für jeden Angeklagten. Und wenn es Zweifel an dem Vorliegen einer Notwehrlage gibt, dann gilt auch hier der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten.

Gerade in Fällen von Zivilcourage sollten die Gerichte den Helfern mit dem gebotenen Respekt entgegentreten und denen keine unlautere Motivation unterstellen oder die Angaben zur Notwehrlage als „reine Schutzbehauptung“ abtun. Wenn man einem uneigennützigen Helfer unterstellt, er habe nur den Helden spielen wollen, dann verkennt man, dass der Helfer genau das in der Situation war. Falls solche Helden dann auch noch bestraft werden, dann wird sich manch einer künftig überlegen, ob er noch eingreifen soll.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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