„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist auch nicht schlechter als andere gefeierte Serien…

… und der Filmklassiker überbewertet. Dass die Serie so viel Kritik abbekommt, erklärt sich Kolumnist Sören Heim als einen Kampf zwischen älterer und neuerer Ästhetisierung dieses Stoffes, der mindestens eine Generation stark prägte.


Nachdem die deutschen Feuilletons, die Blogs und die FB-Crowd so darauf eingeprügelt haben, wie ich glaube auf noch kein anderes kulturindustrielles Produkt zuvor, musste ich mir natürlich doch die neue Bahnhof Zoo-Serie anschauen.

Und nachdem ich vergangene Woche schon argumentiert habe, warum der alte Film nicht so toll ist, wie ihn die Nostalgie mancher KritikerInnen zeichnet, muss ich jetzt sagen: Die Serie ist nicht so schlecht, wie gerade überall behauptet wird.

(Nebenbei: Mich befremdet die oft mitschwingende Verklärung des Buches… In meiner Jugend (wie das klingt) war uns das eigentlich eher Milieukitsch, von Reportern zusammengebastelt. Interessant zu lesen, aber doch immer auch der Buchstabe gewordene moralische Zeigefinger des Pädagogen – seht her, wenn ihr nicht brave Spießer werdet, kann’s euch so auch gehen).

Zurück zur Serie – Klar: Die Hauptkritikpunkte bleiben stehen. Die Darstellerinnen sind zu alt. Sie sehen eher aus wie Models als wie Junkies. Sie kleiden sich auch so. Und: Das Ganze wird natürlich in einer zeitgeistigen Ästhetik durchgestylt, die weniger vom Stoff bestimmt wird als davon, wie man sich im Moment eine Hochglanz-Serie vorstellt. It’s Kulturindustrie, Baby. Big Whoop.

Nostalgie & Shock-value

Ja. Das neue Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zielt auf eine Mischung aus Shock-value und Faszination. Es rührt an eine Nostalgie für ein Nirgendwo-irgendwo. Ist das verwerflich? Wenn man von Kunst Pädagogik erwartet: vielleicht. Wird die Serie Menschen davon abhalten, Drogen zu nehmen? Ich glaube nicht. Wird sie dazu animieren? Ich glaube auch nicht. An Nostalgie rührte durchaus auch schon der 81-er Film, der jetzt rückblickend zum Abschrecker hochstilisiert wird. Das war er ja zum Glück auch nicht. Sonst wäre er noch schlechter. Der 81-er Film ist eine Bilderschau. Mit einer unerreichten optischen Ästhetik, toller Musik von Bowie und absolut ohne Handlung oder Charakterentwicklung.

Ehrlich gesagt: Bei mir hat er mehr Nostalgie für eine Zeit ausgelöst, die ich verpasst habe, für ein grenzenloses „Verschwende deine Jugend“, als dass er mich geschockt hätte. Zum Glück. Wenn ich geschockt werden will, guck ich Polit-Talkshows.

Aber selbst wenn es um pädagogische Effektivität zu tun ist, dürfte die neue Serie stärker sein. Denn die hat tatsächlich Protagonisten, deren Entwicklung man miterlebt. Für die man Zuneigung oder Abneigung entwickelt. Und deren Schicksale deshalb tatsächlich noch nahe gehen. Detlef und Christiane im alten Film dagegen sind nicht viel mehr als Gesichter in einem zweistündigen Musikclip mit wachsenden Schockmomenten. Sie sind anfangs fremd und sie bleiben Fremde.

Und damit kommen wir an beim Wesentlichen: Die Serie als narratives Kunstwerk.

Kurz und bündig, was die Serie besser macht:

Charakterbögen. Sie hat welche! Siehe oben. Und das gilt nicht nur für alle Hauptfiguren, sondern auch für die erwachsenen Nebenfiguren. Ja, die sind größtenteils etwas überzeichnet. Es handelt sich eben nicht um eine Dokumentation. Aber sie sind nachvollziehbar. Sie berühren.

Die Welt der Erwachsenen: Sie existiert! Daraus folgt: Wir bekommen Gründe geliefert, Motivationen, warum diese Jugendlichen aus ihrer Welt ausbrechen und im Sound und am Bahnhof Zoo zusammenfinden. Es wurde im Klassiker-Film einfach null ersichtlich, warum dieses nette kleine Mädchen auf einmal so abstürzt. Eine einzige Szene wurde überhaupt wirklich auf die Familie verwendet. Gut, die Eltern sind wohl geschieden, aber das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist ziemlich gut. Es blieb eigentlich nur ein einziger Schluss: David Bowie führt zu Drogen.

Nee!

Die neue Serie dagegen zeigt auf vielfältige Weise, wie man aus beschissenen (Stella), verwickelten, eigentlich gar nicht so schlechten, aber doch irgendwie problematischen (Christiane), spießigen oder auch überzogen protektiven Verhältnissen (Babsi) einen Ausweg suchen kann, der dann irgendwann in eine Sackgasse oder doch zumindest beinahe in eine Sackgasse führt.

Und: Dass diese Erwachsenenwelt eben auch nicht der Ausweg aus dem Ausweg sein kann.

Die Clique! Auch sie existiert! Die Figuren entwickeln sich miteinander, gegeneinander. Man kann sich nun vorstellen, warum sich diese Menschen aneinander festklammern, auch wenn es sie teils ganz, teils beinahe ins Verderben führt.

Der Abstieg. Weil die Figuren eben als die kritisierten „Models“ anfangen, sieht man eine Veränderung. Tatsächlich geht die Entwicklung über Quelle-Katalog-Models (attraktiv, aber einfach angezogen) zu krass overdressed Pseudo-80s High Fashion, wobei zentrale Outfits auch noch eine kleine Geschichte bekommen. Das ist der Höhepunkt der Sound Zeit, in der sich die Protagonisten praktisch unantastbar fühlen: „We can be heroes…“ Styling, Outfits, unterstreichen das. Und zuletzt sieht man noch unter dem Heldenstyling diese total kaputten Gesichter. Schorf, Narben, Bleichheit und Augenringe. Zugegeben, die nimmt man dem Film nicht ganz ab. Es wirkt aufgesetzt, zu fremd in der Hochglanzoptik, zu eindeutig Effekt-Makeup.

Aber die Film-Christiane begann als leicht anämisches Mädchen mit Augenringen und endete als leicht anämisches Mädchen mit Augenringen und Dreck im Gesicht.

Der Schluss. Erstens: Die Serie einen, der Film streng genommen nicht. Es wird einfach ein Friede-Freude-Eierkuchen Voice-Over an alles dran geknallt. Die Serie dagegen hat ein fast perfektes Ende. Und geht im Anschluss dann leider noch unnötig 5 Minuten weiter. Das perfekte Ende: Dieser Landaufenthalt, der erst so idyllisch wirkt. Aber dann in diesem Tischgespräch gipfelt. Wo Christian sich provoziert fühlt und ihre Familie ultratrocken damit konfrontiert, was sie eigentlich mit all den Freiern gemacht hat. Wie vielen sie am Tag einen geblasen hat, wie das mit dem Heroin genau ablief. Und so weiter. Und wir wissen: Sie hat gerade jetzt wahrscheinlich schon wieder welches in der Tasche. Stella hat es ihr nach dem Prozess zugesteckt. Für alle Fälle. Die Geschichte ist nicht vorbei. Es gibt kein Happy End.

Damit kommt die Serie der Wahrheit deutlich näher als die anderen Bahnhof-Zoo-Medien: Denn wir wissen ja, dass die echte Christiane F. den Ausstieg nie so richtig geschafft hat und trotzdem wohl auch kein all zu schlechtes Leben geführt hat.

Bahnhof Zoo
im Kontext der sonstigen Serienbegeisterung

Ist wir Kinder vom Bahnhof Zoo nun also im Gegenteil sogar ein Meisterwerk? Nein, das sicher nicht. Aber es ist auch nicht viel schlechter als viele andere sogenannte Golden-Age- und Post Golden-Age Serie. Besser als die konzeptlose Schlachtfest-Soap Game of Thrones ist es alle Mal.

Ich finde es schon relativ bezeichnend, dass ausgerechnet diese Serie für ihre Ästhetisierung und teils wilde Fiktionalisierung einer Zeitspanne so viel Prügel einstecken muss. Viel mehr als etwa Babylon Berlin, das immerhin das Heraufdämmern des Nationalsozialismus in teils sehr fragwürdiger Weise entrückte. Gott, selbst das große Die Sopranos ästhetisiert doch die Mafia in einer Weise, dass man sich am Ende irgendwie denkt: Hey, schon irgendwie ganz cool, dieses Leben am Limit. Irgendwo zwischen Gosse und großer Zampano (Ja, Die Sopranos ist trotzdem besser, als Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Keine Frage).

Erinnert ihr euch an Mad Men? Gefeiert für seine vermeintlich feministische Geschichte der jungen Frau, die es im Boysclub schafft? Wenn wir von Nostalgie sprechen wollen… Ich habe die Serie schon einmal als „wanting you to deconstruct your Pie and f*** it, too“ bezeichnet. Warum? Weil zwar narrativ immer mal wieder dieses coole Zigarren-, Anzug- und Whisky-Männlichkeitsideal kritisiert wird, aber gleichzeitig optisch so abfeiert, dass das Vermächtnis von Mad Men vor allem dieses Ideal sein wird. Das man nun wieder sorglos leben kann, denn man macht das ja ironisch. Selbstkritisch.

Ich frage mich: Warum Bahnhof Zoo? Warum stört das bewährte kulturindustrielle „Nostalgie + Shock Value“-Format an dieser Serie, deren Thema doch gesamtgesellschaftlich sicherlich nicht größer ist als der Weg hin zum Nationalsozialismus oder die zentralen Jahre des amerikanischen Pressewesen, diesmal so viel mehr?

Warum sind plötzlich alle Kultur-Kritiker?

Und ich denke: Weil die Neueästhetisierung Christianes und ihrer Freunde die alte Ästhetisierung, die alte Nostalgie angreift, die genau die Menschen mit sich tragen, die jetzt überall an den entscheidenden Stellen sitzen, um über diese Serie zu schreiben. Das Buch und der Film: Das war in den Achtzigern und Neunzigern einfach ein Faszinosum. Und nein, hört auf zu lügen: Nicht nur der Abschreckung. Auch des: “Hey, Irgendwie ist das cool. Irgendwie ist das stark. So auf alles zu scheißen. Nicht mitzumachen. Abzustürzen. Verschwende deine Jugend. No future.“ Nichtmal ein besonders gutes Buch. Wie gesagt: Eins mit Sozialpädagogenflair. Aber doch das Tor zu einer anderen Welt. Living on the edge.

Nun: Der Serie wurde auch vorgeworfen, genau an diesem Lebensgefühl vorbei zu schreiben. Mal abgesehen davon, dass der Vorwurf mangelnder Authentizität einem Werk selten gerecht wird: Das ist einfach nur falsch. Was an diesem Lebensgefühl vorbeiging, war in Wahrheit der 81-er Film. Ihm fehlt jede Begründung, warum jemand auf diese Weise total aussteigen, sein Leben total wegschmeißen will. Nur störte das nicht, wenn man mit Wir Kinder vom Bahnhof Zoo aufgewachsen ist und vielleicht sogar selbst mildere dieser No-Future-Jugenden gelebt hat. Denn man kennt das Lebensgefühl noch in der harten 80-er Variante oder in der schon deutlich softeren der 90-er Punks, Grunger und Skater. Für euch, für uns muss der Film das nicht erzählen. Wir kennen das Buch. Wir hatten sogar gewisse Berührungspunkte zu seiner Welt. Da reichen Bilder. Sofort ist dieses Gefühl da.

Die Serie dagegen muss es erst an eine ganz neue Zuschauerschaft vermitteln. Übersetzen. Und das macht sie besser als der Film. Weil sie eine Welt zeichnet, aus der man ausbrechen will. Nicht realistisch, aber glaubhaft. Die Welt der Eltern. Und ja, sogar am Rande, die der organisierten Politik. Und eine Gegenwelt, in die man rein will (Die Übersetzungsarbeit erklärt auch die sicher kritikwürdige, zumindest generische, Musikwahl. Oder das Sound als Technoclub). In die man rein will, und die sich langsam als Hölle zeigt. Aber eben nicht nur. Denn die andere Hölle, der tumbe Alltag, die gibt es ja immer noch.

Hätte man die Neuverfilmung sein lassen können? Sicher. Oder vielleicht besser eine echte Neuerzählung mit zeitgenössischen Figuren versucht? Warum nicht? Aber Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ist, wie es ist, ziemlich okay. Kein großes Meisterwerk, aber gut gespielt und mehr als ordentlich erzählt. Ja, es vermeidet sogar den Fehler der meisten neueren Serien, als unerträglich ausgewalzte Endlos-Filme ohne innere Struktur zu existieren. Jede der acht Folgen hat eine eigene Binnenhandlung, erzählt eine Geschichte in der Geschichte. Und nach den 8 Folgen stehen nicht noch 80 weitere bevor. Ich habe mich keinen Moment gelangweilt, und das ist mehr, als ich von den meisten modernen Kulturproduktionen sagen kann. Und definitiv mehr als ich von dem berühmten Film sagen kann.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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