Am Anfang steht der Verdacht
Eine kleine Rechtskundekolumne über das Ermittlungsverfahren von Heinrich Schmitz.
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Es ist immer wieder interessant zu hören, wie juristische Laien sich den Ablauf eines Ermittlungsverfahrens vorstellen. Letzte Woche wollte jemand, dem wohl entgangen war, dass er mit einem Volljuristen streitet, erzählen, es würde zunächst von einem Ermittlungsrichter entschieden, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und durchgeführt wird;; erst dann ermittle die Polizei.
Davon war er irgendwie nicht abzubringen, Nun darf man in einem Land, in dem Meinungsfreiheit herrscht, natürlich meinen, was immer man will; das ändert aber nichts daran, dass manche Meinung einfach Unfug ist. Aber woher sollte der gute Mann es auch besser wissen? In der Schule wird das ja nur ganz rudimentär und in den meisten Bundesländern auch nur in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften vermittelt. Der Rest muss sich seine Bildung aus Krimis und der BILD holen. Und da geht es erfahrungsgemäß mit Rechtskenntnissen drunter und drüber.
Also gut, ich erkläre es.
Das Strafverfahren ist grob gesagt in fünf Abschnitte aufgeteilt. Der erste Abschnitt ist das Ermittlungsverfahren, der zweite das Zwischenverfahren, woran sich das Hauptverfahren anschließt. Danach folgt – je nachdem – das Rechtsmittelverfahren und eventuell das Vollstreckungsverfahren.
Hier geht es um den ersten Abschnitt, das Ermittlungsverfahren.
§ 152
Anklagebehörde; Legalitätsgrundsatz
(1) Zur Erhebung der öffentlichen Klage ist die Staatsanwaltschaft berufen.
(2) Sie ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.
Bauchgefühl
Die Staatsanwaltschaft ist also verpflichtet, Straftaten zu verfolgen (Legalitätsprinzip), allerdings nur, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Das nennt man einen Anfangsverdacht. Dieser Anfangsverdacht ist mehr als eine bloße Vermutung und auch mehr als das Bauchgefühl, das offenbar den ein oder anderen Polizeibeamten wie starke Blähungen plagt. Auf meine Frage an einen Beamten, wie er denn auf die Idee gekommen sei, dass mein Mandant der gesuchte Täter sein könnte, antwortete er, er habe das im Urin. Nun ja, was auch immer ein Beamter im Urin haben könnte, einen Anfangsverdacht kann das nicht begründen. Der auf tatsächlichen Anhaltspunkten gründende Anfangsverdacht ist also die erste Hürde vor Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.
Maulwurfshürde
Nun ist diese Hürde allerdings bereits von einem Maulwurf zu nehmen, weil bereits der kleine Bruder des Polizistenurins, die kriminalistischer Erfahrung für die Eröffnung eines Verfahrens ausreichen kann. Jedenfalls wenn es sich um organisierte Kriminalität handeln könnte, denn da haben sich die Innenminister in einer Anlage E zu den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) auf folgendes geeinigt:
„6.2 Liegt ein Sachverhalt vor, bei dem nach kriminalistischer Erfahrung die wenn auch geringe Wahrscheinlichkeit besteht, daß eine verfolgbare Straftat begangen worden ist,besteht ein Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO). Dieser löst die Strafverfolgungspflicht aus. Es ist nicht notwendig, daß sich der Verdacht gegen eine bestimmte Person richtet.
Bleibt nach Prüfung der vorliegenden Anhaltspunkte unklar, ob ein Anfangsverdacht besteht, und sind Ansätze für weitere Nachforschungen vorhanden, so können die Strafverfolgungsbehörden diesen nachgehen. In solchen Fällen besteht keine gesetzliche Verfolgungspflicht. Ziel ist allein die Klärung, ob ein Anfangsverdacht besteht. Strafprozessuale Zwangs- und Eingriffsbefugnisse stehen den Strafverfolgungsbehörden in diesem Stadium nicht zu.
Muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, wie die Innenminister einen nicht vorhandenen Anfangsverdacht durch Umbenennung zu einem solchen umtaufen. Aber wurscht, das gehört nicht hierhin.
Normalerweise entsteht ein Anfangsverdacht durch eine Anzeige oder weil halt eine Leiche herumliegt, die nicht danach aussieht, als sei sie eines natürlichen Todes gestorben, im Schaufenster eines Geschäfts eine Riesenlücke klafft, jemand bei der Verkehrskontrolle etwas von Eishockey und Kanufahren lallt oder sonst irgendetwas Auffälliges vorliegt, das auf eine Straftat schließen lässt. Wenn es so einen Anfangsverdacht gibt, dann muss die Staatsanwaltschaft ermitteln. Das nennt man Legalitätsprinzip. Die Polizei kann nicht einfach den besoffenen Dorfvorsteher oder Kollegen nach Hause bringen und den Fall vergessen. Ach Quatsch, klar kann sie das, aber dann macht sie sich wegen Strafvereitelung selbst strafbar. Allerdings wird das vermutlich auch kein Schwein mitbekommen. Sagen wir mal so: im Normalfall und beim Normalbürger, garantiert aber bei Strafverteidigern, wird ein Verfahren eingeleitet – und nein, ich spreche da nicht aus persönlicher Betroffenheit.
Herrin
Die Staatsanwaltschaft – und nicht, wie zwei von drei Krimis suggerieren, die Polizei – ist „Herrin des Ermittlungsverfahrens“. Der Begriff ist irgendwie scharf, und vor meinem geistigen Auge erscheint eine Domina mit Robe und Peitsche.
Bei den meisten Ermittlungen, insbesondere dem Kleinkram, werden in der Praxis die Ermittlungen tatsächlich von der Polizei durchgeführt. Für Beschuldigte und Verteidiger ist das mitunter gar nicht so schlecht, da dort häufig Fehler passieren, die der Staatsanwaltschaft nicht passiert wären. Immer wieder ein Highlight sind Wahllichtbildvorlagen, bei denen der nach Meinung der Polizei Tat-Hauptverdächtige auf einem von sechs vorgelegten Fotos als einziger einen realen Bildhintergrund hat, während man bei den anderen virtuellen Personen bereits am einheitlich grauen Hintergrund erkennt, dass das keine realen Personen sind. Andererseits sind Ermittlungsfehler nur dann hilfreich, wenn man sie auch nachweisen kann.
Ein Grund übrigens, warum das Gottvertrauen mancher Mitbürger in den Freund und Helfer nicht unbedingt eine reale Basis hat und es sinnvoll ist, erstmal komplett sein Maul zu halten (Man spricht nicht mit fremden Männer – ja Mama) und dann einen Verteidiger zu beauftragen.
Abschluss
Meint die Polizei, sie habe eine Straftat aufgeklärt, dann schreibt sie einen Abschlussbericht und schickt die Akte an die Staatsanwaltschaft. Die und nur die entscheidet dann erstmal, was mit der Sache passiert. Wird die eingestellt? Wird angeklagt?
Übrigens, die meisten Verfahren werden tatsächlich eingestellt. Schon aus ökonomischen Gründen. Würde die Staatsanwaltschaft einmal ein Jahr lang alles anklagen, was sie könnte, dann wären die Gericht auf Jahre blockiert. Andererseits wundert man sich als Verteidiger dann doch, warum zum Beispiel der Besitz von 0,2 G Marihuana (in der Hauptverhandlung eingestellt) oder die Bezeichnung einer Bürgermeisterin in einer Diskussion als Trulla (nach Revision und Neuverhandlung freigesprochen) überhaupt angeklagt werden müssen. Gut, mich stören diese Fehlleistungen eher wenig, ich lebe als Verteidiger davon. Als Steuerzahler raufe ich mir allerdings dann schon mal die Haare.
Hat die Staatsanwaltschaft nun ihre Entscheidung so getroffen, dass sie anklagt, dann geht die Akte an den zuständigen Richter, der je nach Tat auch ein Spruchkörper sein kann. Und mit der Abgabe der Akte an die Gerichte endet dann das Ermittlungsverfahren. Erst da kommt ein Richter ins Spiel, sofern es nicht im Vorfeld richterlicher Entscheidungen – wie z.B. ein Haftbefehl oder ein Durchsuchungsbeschluss – bedurfte. Und wenn Ihnen jemand etwas anderes erzählen will, dann lächeln Sie halt weise. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass manche Zeitgenossen sich so sehr in ihr Krimiwissen verbissen habe, dass sie darüber nicht diskutieren möchten. Das muss man sowenig, wie man im Ermittlungsverfahren etwas sagen muss.