„Effingers“ – Über ein gehyptes Buch und ein anderes, das mehr Leser verdient

„Effingers“ von Gabriele Tergit wird durch alle Feuilletons gereicht als die „Jüdischen Buddenbrooks“. Dabei handelt es sich um einen hastigen Roman, oft ohne Zusammenhalt, der mit dem angeblichen Vorbild höchstens vage das Thema gemein hat. Literaturkolumne von Sören Heim


Normalerweise versuche ich, den regelmäßigen Buch-Hypes aus dem Weg zu gehen. Wenn Welle um Welle der gleiche Titel durch alle Blogs getrieben und natürlich auch überall gut gefunden wird, dann denke ich mir: Macht ihr halt. Du musst nicht auf jeden Zug aufspringen und am Ende dann auch noch das A******** sein, das tatsächlich Kritik übt.

Und Effingers von Gabriele Tergit, da sollte man sich nichts vormachen, ist ein gehyptes Buch. Seid knapp einem Jahr wird auf die „Wiederentdeckung“ dieser Autorin hingearbeitet, in allen Medien wird berichtet und in den seltensten Fällen kommt zur Sprache, worüber eine rasche Wikipedia-Lektüre problemlos informieren würde: Es handelt sich bereits mindestens um die zweite „Wiederentdeckung“. Diese vorgeblich vergessene Autoren wurde schon einmal in den Siebzigern mit großem Tamtam wieder entdeckt und dann anscheinend wieder vergessen. Oder auch nicht?

Wirklich vergessen?

Tatsächlich erlebte Effingers nach dem Krieg nicht bloß fünf Auflagen, sondern sogar fünf Ausgaben bei unterschiedlichen Verlagen. Ähnliches gilt für „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, das vor dem Krieg und nach dem Krieg Bestseller war. Ja. von Tergit wurden sogar Gerichtsreportagen nach dem Krieg neu aufgelegt, was doch schon sehr ungewöhnlich ist bei jedem Autor, Tucholsky vielleicht ausgenommen, bei einer angeblich fast vergessenen Autorin aber wirklich nicht zu erwarten sein sollte.

Ob, wenn eine Autorin dann dennoch wieder derart in Vergessenheit gerät, dass man ihre Entdeckung aufs Neue Inszenieren kann, und das gar gegen die Marketing Maschinerie mehrerer Verlage, es nicht vielleicht einfach mit dem Werk nicht allzu weit her ist, soll hier noch nicht beurteilt werden. Die Tatsache verdient allerdings eingangs Erwähnung.

Einmal mehr sehe ich mich auch genötigt, zu Beginn meiner Rezension die hauptsächliche Prämisse des Hypes in Frage zu stellen. Denn so wie der Verlag das Buch als einen „jüdischen Epochenroman zwischen Fontane und Thomas Mann“ ankündigt (ein Zitat aus dem literarischen Quartett), so scheint sich dann auch die Presse unkritisch auf dieses Branding geeinigt zu haben. Immer wieder ist von den „jüdischen Buddenbrooks“ die Rede. Was für ein grober Unfug. Ja: In beiden Romanen geht es um wohlhabende Familien und teilweise überschneiden sich die erzählten Zeiträume. Das ist dann aber auch schon alles. Das Schiff und der Stier sind auch nicht verwandt, nur weil beide Hörner haben.

Neue Sachlichkeit, nicht Buddenbrooks

Effingers steht ganz eindeutig in der Tradition der Neuen Sachlichkeit, Tergit zeichnet hastige Szenen in ultrakurzen Kapiteln; wenn überhaupt Beschreibungen vorkommen, dann vielleicht einmal eingangs und das im doppelten Sinne: In den ersten Kapiteln wird ein bisschen mehr Mühe darauf verwandt, Berlin-Atmosphäre zu schaffen und das ländliche Kragsheim zu zeichnen, und dann kommen Beschreibungen meist vor allem jeweils am Kapitelanfang vor. Den Großteil der gesamten Romanhandlung machen im klassischen Sinne „naturalistisch“ gehaltene Dialoge (also kurze Sätze ohne viel bildungsbürgerliches Brimbamborium, keinesfalls aber realistische Nachbildungen von Dialogen mit Unterbrechungen, Ähms, usw) aus, die oftmals wie bei einem Theaterstück ohne jegliche Szenerie hintereinander geschaltet sind. Überall, beispielhaft aber etwa am Verhältnis zum Essen, lässt sich der formale Unterschied recht deutlich zeigen: Mann ist, zumindest mit den Buddenbrooks, berühmt für seine ausschweifenden Beschreibungen von Mahlzeiten. Und tatsächlich ist es so, dass Mann beschreibt, was auf den Tisch kommt, wie es auf den Tisch kommt und was und wie gegessen wird und wie man sich darüber und bei Tisch unterhält. Was jeweils einiges über die Figuren des Romans und die sich wandelnde Atmosphäre im Hause Buddenbrook aussagt. Bei Tergit dagegen wird zwar auch oft gegessen, das Essen aber meist abgehandelt wie etwa hier im 32. Kapitel: „Paul hatte eine Einladung von Meyer zu einem gemütlichen Abendbrot angenommen (…)“ Es folgen drei Seiten Dialog. Dann, direkt im Anschluss: „Paul war von Meyers eingeladen worden, sich mit ihnen im Sommergarten an der Spree zu treffen (…)“ Noch mal knapp drei Seiten vor allem Dialog. Das sollte alles vielleicht ein wenig an Kästner erinnern, an Fallada, aber keinesfalls an Mann. Wer hier an Thomas Mann denkt, verwechselt entweder auch Stiere mit Schiffen, oder er verbreitet einfach einen Werbeslogan weiter.

Tergit liebt diese Einleitung bei zahlreichen Szenen mit immer denselben Formulierungen und exerziert das in einer Weise durch, dass man sich manchmal nicht mehr festlegen will, ob man ein Leitmotiv vor sich hat oder einen Roman, bei dem im Druck etwas durcheinander geraten ist.

Temporreich, aber bald zerfallend

Der Stil sorgt für eine größtenteils temporeiche Lektüre, durch die man gerade so durchfliegen kann. Das hat seine Vor- und Nachteile. Vorteil: Effingers sollte niemanden überfordern, nur zwischen den Figuren kann man sich ein wenig verheddern. Nachteil: Die Figuren. Sie bleiben relativ flach und austauschbar, das Gleiche gilt auch für das Berlin rund um die Jahrhundertwende, das so eine spannende Szenerie abgeben könnte, aber meist doch Kulisse bleibt. Mir scheint tatsächlich, dass die betonte Nüchternheit der Neuen Sachlichkeit für einen solchen Roman, der die vielfältigen Verbindungslinien, die zwischen den bourgeoisen Familien in einer großen Stadt hin und her laufen, die sich mit der Politik berühren und eben ein großes städtisches Geflecht abgeben sollen, das in die Tiefe geht, sich nicht wirklich gut miteinander vertragen. Einzelschicksale lassen sich so durchaus überzeugend und massenkompatibel schildern, ein großes Ganzes mit zahlreichen Figuren, die eigentlich gleichberechtigt nebeneinander existieren sollten, dagegen zerfällt unter dieser Bearbeitung relativ leicht in viele (zu) schwach verbundene Stücke.

Bekannt dürfte durch die weitreichende Berichterstattung, die dieser Roman jetzt schon auf sich gezogen hat, auch sein, dass das so unaufgeregt aufgebaute Bild bürgerlicher jüdischer Familienunternehmen ebenfalls zerfällt, ja zerfallen muss. Denn Effingers spannt seinen Erzählungsbogen hinein bis in die Judenverfolgung des Nationalsozialismus und berührt zumindest auch das Menschheitsverbrechen der Shoa.

Um eine Bewertung hinsichtlich der Behandlung dieses Themas nachvollziehbarer zu machen, möchte ich auf ein anderes Buch verweisen, das auch schon als die „jüdischen Buddenbrooks“ bezeichnet wurde und in seinem Umgang mit der Shoah sicherlich nicht leicht verdaubar ist.

Ein gelungeneres „Gegenbild“:

Die Straßen von gestern von Silvia Tennenbaum ist in seiner gesamten Form deutlich näher an Thomas Mann orientiert als Effingers, dem diese Ähnlichkeit aus höchst oberflächlichen Gründen zugeschrieben wird. Ja, ich habe das Buch in meiner Rezension als epigonal bezeichnet, doch in einem positiven Sinne epigonal: Sich seiner Anleihen stets bewusst und diese sogar im Text thematisierend. Das Buch deckt eine ähnliche Zeitspanne ab, lässt in ähnlicher Weise den Antisemitismus erst in Nebenbemerkungen spürbar werden, dann ab dem Ersten Weltkrieg anschwellen und das ganze gipfeln in der Jugendverfolgung des Nationalsozialismus und in der Ermordung zahlreicher Protagonisten in den Vernichtungslagern. Und das schien mir anfangs wenig angemessen, von diesen Gräueln in der Sprache des gutbürgerlich-gesetzten Mann-Epigonentums zu erzählen. Haben nicht Autoren wie Kertesz aus gutem Grund lange um eine Sprache gerungen, die dem Schrecken überhaupt annähernd angemessen sein könnte? Hat nicht selbst Thomas Mann, der immer schon moderner arbeitete, als es ihm selbst seine Freunde oft zugute halten, angesichts des Holocausts sein Schaffen vom fugenlose Montageprinzip der Buddenbrooks auf die explizite Brüchigkeit am Rande des Wahnsinns seines Doktor Faustus umgestellt?

Aber je mehr man sich auf Die Straßen von gestern einlässt, desto weniger kann man die Wirkung genau dieser Erzählweise auf sich verhehlen. Hier wird wirklich ein Stück klassischer Romankunst aus einem Stück geschmiedet. Nachvollziehbare Figuren in nachvollziehbaren Konstellationen mit großer Tiefe, jede eine, die man, könnte man zeichnen, aus dem Gedächtnis zeichnen könnte, mit der man, stünde sie vor einem, in Konversation treten könnte, da man über diese Person bereit so viel weiß, woran sich anzuknüpfen lohnen würde. Und dann ist es, als fahre genau dieses gutbürgerliche Erzählprinzip vor eine Wand. Nicht nur dem Inhalt nach geschieht Schreckliches, auch die Form wird aufs Deutlichste davon berührt: Einmal nicht durch die Auflösung der Formen, sondern darin, dass sie regelrecht frei dreht. Die Verbindungen werden gekappt, die so lebensechten Figuren werden ohne viel Federlesens ausgelöscht. Als Leser fühlt man sich fast um eine Geschichte betrogen, wüsste man nicht, dass hier eine allzu reale Erfahrung reflektiert wird. Das Weitererzählen im Gestus des großen Geschichtenerzählers, des „Raunenden Beschwörers des Imperfekts“: Es wirkt gerade so barbarisch, dass man verstehen kann, was Adorno, jenseits aller Interpretationen eines expliziten Verbotes, damit meinte, wenn er sagte, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben (bzw. in diesem Fall einen Roman). Die Straßen von gestern macht auf diese Weise mit dem Zerfall der Menschlichkeit und des bürgerlichen Versprechens des Humanismus den notwendigen Verfall der Form, die diesen Humanismus wie keine andere ausdrücken sollte, spürbar.

Und genau das gelingt Effingers nicht annähernd im gleichen Maße. So zerfahren ist die Handlung schon vorher, so hastig wird von Figur zu Figur, wird über Jahre hinweg gegangen, so schwer fällt es schließlich überhaupt, die einzelnen Figuren noch zu unterscheiden, dass sich so ein rechtes Schockerlebnis, ein auch formales Erleben der Schwere der Ereignisse ab 1933, jenseits des reinen Geschehens, kaum einstellen will.

Dabei kommt erschwerend hinzu, dass spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges im Buch eine einheitliche Handlung komplett aufgegeben wurde und stattdessen die verbleibenden Figuren immer mehr genutzt werden, um Ereignisse zu illustrieren, die man in jedem Geschichtsbuch nachlesen kann. Nach dem Motto: Inflation, eine Figur sagt etwas zu Inflation. Nächstes Erlebnis, fünf Jahre später. Entsprechend kurz angebunden hastet Effingers dann auch durch den Nationalsozialismus, der zeitlich immerhin mindestens ein Zehntel der erzählten Zeit ausmacht, aber vielleicht auf 30 von 800 Seiten abgehandelt wird. Worin womöglich durchaus sich auch die Tatsache reflektiert, dass im Chronistenstil dieses Romans sich vom NS eben eigentlich gar nicht erzählen lässt. Aber: sie reflektiert sich eben, passiv. Sie wird nicht reflektiert wie es in den auf das Spürbarmachen des Vergehens in dieser Form hin angelegten Die Straßen von gestern geschieht.

Entsprechend möchte ich von einer Lektüre von Effingers aus literaturhistorischen Gründen dann zwar auch nicht abraten, aber in jedem Fall das deutlich bessere Die Straßen von gestern von Tennenbaum empfehlen.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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