Bewährung – Ein Ärgernis?

Eine Freiheitsstrafe muss eher selten bis zum Ende verbüßt werden. Wesentlich häufiger wird sie irgendwann zur Bewährung ausgesetzt. Für viele Bürger ein Ärgernis. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Elias Sch. auf Pixabay

Wenn Reststrafen, gerade von bekannten Straftätern, zur Bewährung ausgesetzt werden, kennt die Empörung häufig keine Grenzen.

Dabei geschieht dies immer nur dann, sobald der Gefangene mindestens die Hälfte, meistens Zweidrittel seiner Freiheitsstrafe abgesessen und eine positive Sozialprognose hat. Wie gesagt, für viele dennoch ein Ärgernis. Denn die Emotionen, nicht die Rationalität, bestimmen den Diskurs.

Neben den vielen Schwanzab-Freund*innen , die ihre seltsamen Phantasien in den sozialen Netzwerken mit bösen Worten und hässlichen Bildern von Scheren etc. darbieten, über die üblichen Todesstrafenfans reagieren in einem solchen Fall auch eher moderat denkende Menschen mit Wut und Unverständnis über eine Freilassung, insbesondere, wenn es sich bei dem Täter auch noch um einen Sexualverbrecher handelt. „So einer“ dürfe nie mehr freikommen, meinte ja schon „Wegsperren für immer“-Gerhard Schröder.

Der Versuch, diese Diskussionen mit einer Spur Sachlichkeit zu erhellen, scheitert in der Regel grandios. Da gab es schon ziemlich üble Unterstellungen. Ein Anwalt kalkuliere erneute Taten eines Serienvergewaltigers ein, weil er damit Geld verdiene, ist noch eine der harmloseren Unterstellungen. Unkenntnis und Rachegelüste bestimmen das Bild. Dabei ist die Möglichkeit der Bewährung ohne Schaum vor dem Mund betrachtet, eine äußerst sinnvolle Sache.

Ob nun die eine konkrete Entscheidung richtig ist und es tatsächlich nicht zu einer neuen Tat kommt, kann niemand mit Sicherheit beurteilen. Ob es zu einem Rückfall kommt, weiß man immer erst hinterher. Allerdings wird das Rückfallrisiko in solchen Fällen derart gründlich geprüft, dass man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, das mehr ungefährliche Täter sich länger in Haft befinden als notwendig, als gefährliche in Freiheit entlassen werden.

Bewährung hilft, neuen Straftaten vorzubeugen

Warum gibt es diese Aussetzung der Reststrafe überhaupt? Ließe man Gefangene immer bis zur Endstrafe im Gefängnis, dann bestünde keine Möglichkeit mehr, sie kontrolliert an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen. Nach Absitzen der Endstrafe ist der Gefangene ein freier Mann, sofern nicht eine Sicherungsverwahrung verhängt wurde.

Durch die Bewährung aber kann man die Wiedereingliederung in die Gesellschaft mit Bewährungshilfe begleiten. Man kann dem Gefangenen diverse Hilfestellungen geben. Man kann unterstützend auf die Bemühungen um einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung einwirken. Der Gefangene, der ja vorher bereits durch stufenweise Lockerungen an ein Leben außerhalb des Knastes gewöhnt werden soll, bekommt eine wichtige Unterstützung, die ihn davor bewahren soll, wieder auf die schiefe Bahn zu geraten – natürlich nur, wenn das Gericht das für erforderlich hält. Täter, die ansonsten in die Gesellschaft integriert sind, wie z.B. der Vorsitzende des FC Bayern, benötigen solche Hilfe in der Regel nicht. Die meisten aber, gerade nach längeren Haftstrafen, schon. Außerdem hat man sie so im Auge und kann gefährliche Entwicklungen frühzeitig erkennen und notfalls die Bewährung widerrufen oder auch weitere Weisungen erteilen. Ein Bewährungshelfer hilft nicht nur, er übt auch eine gewisse Kontrolle aus und kann dem Probanden bei den verschiedensten Problemen unter die Arme greifen. Und er kann auch das Gericht informieren, wenn das alles nicht so läuft, wie es laufen soll. Auch dann kann das Gericht die Bewährung widerrufen.

Bei einem Täter, der neben der reinen Strafe noch zusätzlich im Maßregelvollzug untergebracht war, weil seine Tat Ausdruck einer psychischen Erkrankung war, wird noch gründlicher hingesehen. Der Maßregelvollzug kennt praktisch keine zeitliche Begrenzung. Das ist unter Umständen dann das eigentliche Lebenslang. Eine Entlassung kommt da nur in Betracht, falls die Strafvollstreckungskammer davon überzeugt ist, dass von dem Täter keine Gefahr schwerer Straftaten mehr ausgeht. Und Strafvollstreckungskammern sind davon dann doch eher selten überzeugt oder zu überzeugen. Das ist psychologisch auch verständlich. Lassen sie jemanden raus, der eine weitere schwere Tat begeht, haben sie die Arschkarte, weil ihre Überzeugung offenbar falsch war. Lassen sie jemanden nicht raus, kann ihnen auch niemand etwas vorwerfen außer dem Gefangenen, aber wer interessiert sich schon für den, außer seinem Verteidiger und manchmal eine Mutter oder ein Bruder.

Nun kann man nicht in die Köpfe sehen und eine Prognose bleibt eine Prognose. Deshalb hört die Kammer den Betroffenen nicht nur an und glaubt seinen schönen blauen Augen oder seinen wortreichen Beteuerungen, sondern sie bedient sich der Hilfe von psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen, um das Risiko eines Rückfalls mit wissenschaftlichen Methoden zu ermitteln. Da gibt es mittlerweile u.a. auch eine ganze Reihe standardisierter Tests, die jedenfalls statistische Aussagen zum Rückfallrisiko erlauben. Die sind nicht perfekt, aber besser als nichts.

Menschenwürde

Dass man auch einen Menschen, der grausame Taten begangen hat, dann nicht weiter einsperren darf, wenn er keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr darstellt, fußt letztlich auf Art. 1 GG. Die Würde des Menschen ist auch bei Straftätern unantastbar und zu wahren. Das täte man eben nicht, wenn jemand nach der Schröder-Doktrin grundsätzlich bis zum Tod eingesperrt würde. Wie gesagt, das gilt nur, wenn der Gefangene keine Gefahr mehr darstellt.

Selbstverständlich wird bei der Frage der Strafaussetzung auch die Tat selbst berücksichtigt. Bei Sexualstraftätern wird da besonders gründlich hingesehen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass diese im Maßregelvollzug zuvor jahrelang therapiert wurden. Jedenfalls sollte das so sein. In der Praxis sieht das leider gar nicht so selten so aus, dass da immer noch mehr verwahrt als behandelt wird. Seit Corona sind die Therapien, insbesondere die Gruppentherapien, teilweise bis auf Null reduziert worden. Scheint außerhalb der Forensik niemanden zu interessieren. Bei manchen nützt auch die Therapie nichts und die bleiben dann tatsächlich solange in der Forensik, bis sie entweder tot sind oder aufgrund körperlicher Gebrechen kein Unheil mehr anrichten können. Bei vielen greift aber die Therapie. Und die sollten sich auch in Freiheit bewähren können.

Wann die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, regelt § 57 StGB. In dessen Absatz 1 Satz 2 heißt es:

Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.

Das ist nun kein Freibrief für den Gefangenen, sondern lediglich eine Chance. Er kann in Freiheit zeigen, dass die Strafe bei ihm bewirkt hat, dass er keine Straftat mehr begeht. Tut er das dennoch, bekommt er nicht nur für die neue Straftat eine neue Strafe, sondern er muss den vorher zur Bewährung ausgesetzten Strafrest auch noch verbüßen. Alleine dieses Bewusstsein schafft eine gute Motivation, sich unauffällig zu verhalten.

Interessant ist übrigens, dass die öffentliche Wahrnehmung von Rückfällen bzw. die Rückfall-Horrorszenarien, die manch braver Bürger an die Wand malt, sich nicht mit harten Fakten untermauern lassen:

Hohe Rückfallquoten sind eher bei Eigentumsdelikten zu erwarten, etwa bei Raub, Erpressung und besonders schweren Formen des Diebstahls – hier wird jeder zweite rückfällig. Vergleichsweise niedrigere Rückfallquoten weisen dagegen Straßenverkehrsstraftaten (ausgenommen Fahren ohne Fahrerlaubnis) und Tötungsdelikte auf, allerdings immer noch ungefähr 20 Prozent.

Der offensichtlichste Widerspruch in der öffentlichen Wahrnehmung zeigt sich deutlich bei den Sexualdelikten: Diese weisen die geringste Rückfallquoten auf – innerhalb von sechs Jahren begehen nur ca. 3 Prozent der Sexualstraftäter eine weitere Straftat. (Quelle: https://www.strafakte.de/forensik/bewaehrung-straftaeter-rueckfallquote/)

Ein ebenfalls interessantes Phänomen ist die Tatsache, dass Menschen, die tatsächlich im Gefängnis gesessen haben, eine höhere Rückfallquote haben, als die, die gleich von Gericht eine Bewährungsstrafe erhalten haben, sich also bewähren konnten, ohne zuvor die Segnungen des Strafvollzuges mit all seinen Risiken und Nebenwirkungen genießen zu dürfen.

Das mag zwar mühsam unterdrückte Rachegefühle in der Bevölkerung nicht so recht befriedigen, es zeigt aber in erster Linie, dass Freiheitsstrafen auch schon bzw. sogar besser wirken, wenn sie gar nicht erst verbüßt werden müssen, sondern nur als Damoklesschwert über dem Verurteilten schweben.

Sollten Sie also demnächst wieder einmal lesen, dass die Reststrafe eines Verbrechers zur Bewährung ausgesetzt wurde, nehmen Sie es gelassen. Sie wissen ja jetzt mehr als die meisten Menschen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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