Solingen und das Kindeswohldilemma

In Solingen sterben 5 Kinder vermutlich durch die Hand ihrer Mutter. Können die Jugendämter solche Taten verhindern? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von MichaelGaida auf Pixabay

Fünf tote Kinder. Wahrscheinlich von der eigenen Mutter erst betäubt und dann erstickt. Ein grauenvolles Ereignis. Der Versuch der Mutter, sich das Leben zu nehmen scheitert und auch der älteste Sohn (11 Jahre) überlebt, weil die Mutter ihn vor ihrem Suizidversuch zur Oma schickt. Die heute 27-jährige Mutter hatte seit elf Jahren Kontakt zum Jugendamt, weil das Jugendamt bei minderjährigen Müttern immer zur Stelle ist, um Hilfen anzubieten. Die Mutter war für das Amt also keine Unbekannte. Und dennoch passierte es.

Der Familie wurden von der Stadt Solingen erforderliche Unterstützungen gewährt. Das Jugendamt hat zusätzlich mögliche Hilfsangebote unterbreitet», «Erkenntnisse zu Auffälligkeiten oder einer potentiellen Gefährdung der Kinder gab es zu keinem Zeitpunkt.»

erklärte die Stadt.

Und da haben wir das Kernproblem. Das Jugendamt hat viele gesetzliche Möglichkeiten zum Schutz von Kindern.

Und es hat einen gesetzlichen Schutzauftrag, der in §8a SGB XII geregelt ist.

In Absatz 1 wird das Procedere beschrieben:

 Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. Soweit der wirksame Schutz dieses Kindes oder dieses Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen und, sofern dies nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist, sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Erziehungsberechtigten anzubieten.

Zunächst einmal müssen also dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte bekannt werden. Das kann durch den Kindergarten oder die Schule sein. Das kann durch aufmerksame Nachbarn oder Kinderärzte sein. Das können aber auch anonyme Hinweise sein. Auch denen muss das Jugendamt nachgehen. Hat es keine Hinweise, kann es auch nicht handeln. Denn es ist nicht Aufgabe des Jugendamtes in allen Familien zu spionieren.

Das wussten offenbar auch die Nachbarn einer Familie, die ich vor einiger Zeit gegen das Jugendamt vor dem Familiengericht vertreten durfte. Zwischen diesen Nachbarn und allen anderen Mitbewohnern eines Achtfamilienhauses schwelte seit Monaten ein Streit. Diesen Nachbarn konnte es kein anderer Recht machen. Sie hatten an allem etwas zu meckern und hielten sich offenbar für etwas Besseres, weil sie im Gegensatz zu den anderen Bewohnern des Hauses beide arbeiteten. Alle anderen Mieter hielten sie für asozial und ließen die das auch täglich wissen. Und so saßen meine Mandanten mit ihren drei Kindern eines Morgens beim Frühstück, als das Jugendamt flankiert von mehreren Polizeibeamten vor der Tür stand und unter Hinweis darauf, es lägen Hinweise für eine Kindeswohlgefährdung vor, gleich die Kinder einsackte und gegen den Willen der fassungslosen Eltern in ein Kinderheim brachte.

Das Recht dazu ergibt sich aus § 8a Absatz 3:

Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer Leistungsträger, der Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Erziehungsberechtigten hinzuwirken. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein.

Zwar gab es objektiv weit und breit keine Kindeswohlgefährdung, aber es gab eben gewichtige Anhaltspunkte in Form einer anonymen Anzeige, die Fürchterliches ahnen ließ. Nach Anrufung des Familiengerichts konnten die Kinder nach einer Woche – natürlich von der Aktion traumatisiert – zu ihren Eltern zurück. Shit happens. Da lag das Amt wohl falsch. Aber, wäre es besser gewesen nicht einzugreifen? Hinterher ist man immer schlauer, und wenn so ein Hinweis anonym gegeben wird, bedeutet das ja nicht, dass er nicht richtig sein kann.

Das Jugendamt hängt also permanent in einem Dilemma. Greift es zu schnell ein, traumatisiert es selbst Kinder, die die Trennung von ihren Eltern in der Regel nicht lustig finden werden; tut es nichts, liegen vielleicht später ein paar tote Kinder herum. Wie man’s macht, macht man‘s verkehrt.

Es ist aber auch nicht leicht mit dem Kindeswohl.

Kindeswohllotterie

Die weitaus meisten Kindern wachsen bei ihren Eltern oder wenigstens einem Elternteil auf. Da fängt die Kindeswohllotterie schon an. Schließlich kann sich niemand seine Eltern aussuchen. Eltern sind unterschiedlich, und so ist auch der Umgang mit ihrem Nachwuchs. Nicht nur die Frage, wo Sie geboren wurden ist purer Zufall, sondern auch die Frage, auf was für Eltern sie stoßen. Es kann sein, dass die Eltern sich von Herzen ein Kind wünschten und bereit sind alles für dieses zu tun, es kann aber auch sein, dass ein Mensch seine Existenz einem schnellen Fick unter einem Biertisch verdankt und alles andere als erwünscht war. Und trotzdem kann es dann sein, dass das Volksfestprodukt später in seinem Leben mehr Wohl erfährt als das durchgeplante Wunschkind.

Juristisch spielt bei familienrechtlichen Auseinandersetzungen um das Sorgerecht, aber auch bei Inobhutnahmen – ja, ein blödes Wort: es handelt sich darum, dass ein Kind seinen Eltern weggenommen wird und in ein Heim oder zu Pflegeeltern kommt – durch das Jugendamt der Begriff des „Kindeswohls“ eine überragende Rolle.

Recht auf Eltern

Zunächst mal haben Kinder das Recht, von ihren Eltern erzogen zu werden und nicht etwa durch den Staat. Dass sie dabei vielleicht die intellektuelle Arschkarte gezogen haben, weil Papa nur die 20 Bierflaschen abzählen und nur mit Mühe seinen Namen schreiben kann und Mama auch nicht die Hellste ist, spielt erst mal keine Rolle. Es gibt keinen Anspruch auf optimale Eltern oder optimale Erziehung. Gäbe es so etwas, dürfte kaum jemand bei seinen Eltern aufwachsen, denn die perfekten Eltern gibt es so wenig wie das perfekte Fußballspiel.

Die Familie wird durch das Grundgesetz vor staatlichen Eingriffen geschützt.

Leiblichen Eltern das Kind wegzunehmen, ist an strenge Voraussetzungen geknüpft. Das Bundesverfassungsgericht hat das in vielen Entscheidungen immer wieder klargestellt:

 Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen.

Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen . Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“ https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2014/11/rk20141119_1bvr117814.html

Bei allen familiengerichtlichen Entscheidungen, die etwas mit Kindeswohl zu tun haben, spielt auch das jeweilige Jugendamt eine wichtige Rolle.

Aufmerksame Nachbarn

Oft kommen solche Verfahren dadurch zustande, dass dem Jugendamt von Dritten Dinge mitgeteilt werden, die den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung aufkommen lassen. Es ist auch gut und wichtig, wenn aufmerksame Nachbarn melden, wenn ein Kind verprügelt oder nackt auf den Balkon gestellt wird. Es sind aber auch nicht immer zwingend zuverlässige Informationen, die da weitergegeben werden, sondern gar nicht so selten auch wilde Spekulationen oder böswillige Unterstellungen. Manchmal sind es auch Erzieher/-innen oder Lehrer, die von Auffälligkeiten berichten. Und dann muss das Jugendamt nun einfach mal nachsehen, ob da ein Kind gefährdet ist.

Falls der zuständige Sachbearbeiter das meint, muss er entscheiden, ob das Kind sofort aus der Familie genommen wird, ob der Familie mit Hilfsangeboten unter die Arme gegriffen werden kann oder ob das Familiengericht eingeschaltet werden muss, um den Eltern die elterliche Sorge zu entziehen.

Und da haben wir dann das nächste Problem, das wieder mit dem Kindeswohlbegriff zusammenhängt.

Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ich als Verfahrensbeistand – also als Anwalt des Kindes – tätig war, bei dem die Kinder häufig mit schmutzigen Klamotten in der Schule erschienen und das Jugendamt eingeschaltet wurde.

Die Maßstäbe

Häufig sind die SachbearbeiterInnen bei den Jugendämter junge SozialpädagogInnen aus bürgerlichem Hause, die in ihrem eigenen Leben nie mit Schmutz und Dreck zu tun hatten. Wenn die nun einen Hausbesuch machen und ihnen bereits an der Tür massive Gerüche entgegen strömen, kann es unter Umständen für die Eltern schon eng werden. Hinter dem Haus türmt sich der Schrott, den der Vater sammelt. Dazwischen laufen Hunde herum. Der Vater ist offenbar seit Jahren dabei in dem Haus zu renovieren, was aber nicht recht voran geht.

Der eine sieht in einem solchen Pipi Langstrumpf Umfeld eine Kindeswohlgefährdung aufgrund von Hygienemängeln oder der Verletzungsgefahr durch den Schrott, der andere erinnert sich an seine Kindheit und sieht einen privaten Abenteuerspielplatz. Es geht mir nicht darum, die ein oder andere Beurteilung für richtig oder falsch zu erklären, sondern nur darum, die Krux des Begriffs der Kindeswohlgefährdung zu verdeutlichen.

Ich bin in einem Baumschulbetrieb aufgewachsen und habe als Kind sehr viel Zeit im Freien verbracht. In den 60er Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass sich die Kinder aus der Nachbarschaft nach dem Mittagessen und den Hausaufgaben trafen und jenseits jeglicher Überwachung der Eltern irgendeinen Blödsinn machten. Wir sind mehr als einmal in den Bach gefallen und völlig dreckig und durchnässt nach Hause gekommen.Wir sind auch in ein Natogelände eingebrpchen und wurden von getarnten Soldaten gestellt.  Solange ich in der Dämmerung halbwegs heil wieder vor der Türe stand, war das alles okay. Es mag sein, dass so eine Kindheit in Freiheit heute kaum noch möglich ist, aber Kindeswohl gefährdend war das garantiert nicht. Ich habe mich als Kind immer wohl gefühlt.

In ihrem Wohl gefährdet waren viel eher die Beamtenkinder – nichts gegen Beamte, aber es waren nun mal die Kinder von Lehrern und anderen Beamten – die den größten Teil ihrer Kindheit in totaler Überwachung durch die Eltern verbringen mussten. Vielleicht in einer schöneren Wohnung, mit einer besseren Stereoanlage und einem volleren Bücherregal, aber eben aus lauter Angst der Eltern, es könne ihnen etwas passieren, in einer Art modifizierter Einzelhaft. Mit denen zu spielen ging nur in deren Wohnung oder im verriegelten, verrammelten Garten. Irgendwie laut sollte es auch nicht werden. Für manche war die Schule, zu der sie von der Mutter gebracht wurden, die einzige Möglichkeit, den Elternknast mal zu verlassen. Dass da mal jemand eine Kindeswohlgefährdung gesehen hätte, glaube ich nicht. Gut, bei uns immerhin auch nicht.

Das staatliche Wächteramt

Selbstverständlich muss der Staat dann eingreifen, wenn Kinder misshandelt, sexuell missbraucht oder wirklich so vernachlässigt werden, dass sie verwahrlosen. Aber nicht jedes abweichende Erziehungsverhalten und jede seltsame Wohnsituation führt zu einer Kindeswohlgefährdung. In besonders krassen Fällen wird da häufig Einigkeit bestehen, in weniger krassen Fällen greifen die Gerichte zu Sachverständigengutachten. Die sind aber nun ebenfalls nicht unproblematisch, weil die Kriterien einer Kindeswohlgefährdung eben stark von der persönlichen Sichtweise der Gutachter geprägt sind und die Gefährdung – sofern sie nicht bereits eingetreten ist – schwer zu prognostizieren ist. Standardisierte Verfahren zur Beurteilung des Kindeswohls gibt es (noch) nicht.

Die meisten Kinder wollen auch bei eher suboptimalen Eltern bleiben, weil sie sie lieben und auch dieses Recht des Kindes verdient angemessene Beachtung, zumal auch der Beziehungsabbruch zu den Eltern nicht ohne Folgen bleiben kann.

Zur Wahrung ihrer Rechte bekommen die Kinder im Verfahren einen Verfahrensbeistand, der ihren Willen und ihre Interessen vertreten soll. Laut § 158 FamFG soll der Verfahrensbeistand das Interesse des Kindes feststellen und im gerichtlichen Verfahren zur Geltung zu bringen. Er hat das Kind über Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens in geeigneter Weise zu informieren. Wenn das Kind Glück hat, erwischt es einen Verfahrensbeistand, der genau das und nur das tut. Wenn es Pech hat, hält der Beistand sich für berufen, auch noch seine eigenen Kriterien von Kindeswohl in den Ring zuwerfen. Mir persönlich sind die Beistände lieber, die sich wirklich nur als Anwalt des Kindes verstehen und versuchen, dessen Willen Gehör zu verschaffen und nicht meinen, sie seien geeignet und in der Lage, selbst zu beurteilen, was „das Beste“ für das Kind ist. Selbst wenn sie es wären, es ist nicht ihre Aufgabe. Wie jeder andere Mandant muss auch ein Kind „seinem“ Anwalt vertrauen und sich darauf verlassen können, dass er ihm nicht in den Rücken fällt. Leider erlebt man auch das Gegenteil.

Zurück nach Solingen. Ob es beim Jugendamt zu irgendwelchen Versäumnissen gekommen ist, werden die angesichts der Bedeutung des Falles sicher gründlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeigen. Das ist möglich, es ist aber nicht besonders wahrscheinlich. Eine Verzweiflungstat einer Mutter, die sich am Ende ihrer Kräfte wähnt, die nicht mehr leben, aber auch ihre Kinder nicht alleine oder beim getrennten Vater lassen will, kann niemand vorhersehen. Dass Mütter ihre Kinder töten, ist eben die Ausnahme und nicht die Regel. Und dass es trotzdem immer wieder einmal vorkommt, ist die traurige Wahrheit.

Der Rechtsstaat mit seinem Strafrecht kann einer solchen Tat und einer solchen Täterin kaum gerecht werden. Mag sein, dass die Tatverdächtige nicht oder nur vermindert schuldfähig war; das kann man jetzt noch nicht sagen. Bleibt zu hoffen, dass der überlebende Sohn all die Unterstützung erhält, die er benötigt, um trotz dieses persönlichen Horrors noch ein glückliches Leben führen zu können.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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