Nachhilfe für den Corona-Widerstand

Das Bundesverfassungsgericht entschied am Donnerstag beim Themenkreis Corona über zwei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit gegenläufiger Stoßrichtung. Es nahm beide nicht an, sagt aber in der Begründung einiges über die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


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Neben Menschen, die mit dem Grundgesetz in der Hand demonstrieren, weil sie von der Angst getrieben werden, in einer „Gesundheitsdiktatur“ zu landen, Menschen, die an eine weltweite Verschwörung von Reptiloiden glauben, Menschen, die mit Erlaubnis der Behörden dagegen demonstrieren, dass sie nicht demonstrieren dürfen, Menschen, die lautstark und millionenfach auf Facebook, Twitter, Instagramm und Telegramm die Meinung vertreten, sie dürften ihre Meinung nicht äußern, Menschen, die glauben, Bill Gates wolle die Weltbevölkerung auf 500 Millionen reduzieren respektive 8 Milliarden Bürger mittels Impfung chippen, Menschen, die meinen, sie lebten bereits in einer Merkel-Diktatur und jeder Menge anderer „Wahrheits“-Freaks und Hirnakrobaten, gibt es auch Menschen, die das System des Rechtsstaats offenkundig verstanden haben und einfach  gegen einzelne Coronamaßnahmen oder auch gegen Lockerungen solcher Maßnahmen den Rechtsweg bestreiten.

Nichts gegen Demonstrationen, auch das Demonstrationsrecht ist ein wichtiges Grundrecht und jeder darf gerne für alles, wonach ihm gerade so ist, demonstrieren. Dass dabei zur Zeit ein paar Regeln einzuhalten sind, wie zum Beispiel ein Mindestabstand und eine Maskenpflicht, ändert daran nichts. Auch mit Maske kann man Parolen brüllen und Plakate in die Luft halten. Wer sich daran nicht hält, muss halt mit einem Bußgeld rechnen. Und wer meint, er müsse Polizisten oder Journalisten angreifen, der muss damit rechnen, dass er im Knast landet. Beides gehört nicht zum Demonstrationsrecht.

Rechtsweg

Nun aber zu denjenigen, die den Rechtsweg bestreiten. Der beginnt normalerweise beim Verwaltungsgericht. Von dieser Möglichkeit haben viele Menschen Gebrauch gemacht. Und auch wenn die meisten davon mit ihren Klagen gescheitert sind, waren einige erfolgreich. Alle Maßnahmen der Verwaltung können von den Gerichten auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden.

Und wenn es ganz eilig ist und jemand meint, eine Maßnahme sei nicht nur rechtswidrig, sondern gar verfassungswidrig, dann kann er auch einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht stellen.

Das haben nun zwei Bürger gemacht und zwar mit höchst gegensätzlicher Stoßrichtung. Während der eine die Einschränkungen durch die Coronamaßnahmen für verfassungswidrig hielt, meinte der andere die Lockerungen seien dies. Beide Verfassungsbeschwerden wurden vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Dankenswerterweise hat das Gericht aber in beiden Fällen seine Entscheidung begründet – was es nicht gemusst hätte.

Fall 1 – Gegen Beschränkungen

 Der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer wendet sich mit seiner – mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen – Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1 und 2, § 7 Abs. 1 und 2 und § 8 der Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 1. Mai 2020 (BayMBl Nr. 239, im Folgenden: Dritte BayIfSMV). Die angegriffenen Regelungen betreffen allgemeine Kontaktbeschränkungen, sowie ein Versammlungs- und Veranstaltungsverbot, die Betriebsuntersagung für Fitnessstudios und Gastronomiebetriebe und schließlich die Pflicht zur Maskentragung im öffentlichen Personennahverkehr.

Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Regelungen in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 8 GG verletzt. Die Verordnung sei schon deshalb verfassungswidrig, weil sie nicht begründet worden sei. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und die Zielerreichung seien damit nicht überprüfbar. Es fehle zudem an einer Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers über die ergriffenen Maßnahmen. Die gegen die Nicht-Risikogruppe der Bevölkerung gerichteten Maßnahmen seien unverhältnismäßig und willkürlich. Für die Teile der Bevölkerung, die unter 60 Jahre alt seien, sei die Gefährdung durch das Coronavirus nicht größer als durch die jährlich auftretenden Influenzaviren. Zum Schutz der Risikogruppen und des Krankenhaus- und Pflegepersonals seien die ergriffenen Maßnahmen nicht erforderlich, so lange diese Personengruppen selbst die „Quarantänemaßnahmen“ einhielten. Die Gesundheitsgefahren, die gerade durch die ergriffenen Maßnahmen hervorgerufen würden, seien demgegenüber erheblich. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei nach den vorliegenden Zahlen nicht absehbar.

Fall 2- Gegen Lockerungen

Der demnächst 65-jährige Beschwerdeführer trägt vor, er gehöre nach der Definition des Robert-Koch-Instituts zur „Risikogruppe“ für eine Infektion mit dem Coronavirus, und rügt im Wesentlichen, die in Umsetzung des Beschlusses vom 15. April 2020 von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen der „Corona-Maßnahmen“ verletzten sein Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG. Er bezieht sich insoweit auf die in einer Telefonkonferenz erzielte Einigung der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 15. April 2020. Kurz zuvor hatte die Helmholtz-Gemeinschaft eine mit der Verfassungsbeschwerde vorgelegte Stellungnahme veröffentlicht, in der Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt und begutachtet wurden (vgl. Helmholtz-Initiative, Systemische Epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie, 13. April 2020). Die Politik habe diese wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert und nun sei eine zweite Infektionswelle zu befürchten. Die Lockerungsmaßnahmen seien daher im Wege einstweiliger Anordnung auszusetzen und die Öffnung der Grundschulen einstweilen zu untersagen.

Man sieht, gegensätzlicher könnten die Auffassungen nicht sein. Und das ist auch völlig in Ordnung so. Schließlich gibt es Meinungsfreiheit auch in Zeiten von Corona. Das bedeutet nun aber nicht, dass die Einzelmeinung auch gleichzeitig richtig sein muss. Und es bedeutet schon gar nicht, dass eine Entscheidung der Verwaltung verfassungswidrig sein muss, nur weil sie zu dieser Einzelmeinung im Widerspruch steht.

Aber schauen wir uns das mal im Einzelnen an.

Im Fall 1 meint der Antragsteller, für die entsprechenden Maßnahmen der Bayrischen Landesregierung gebe es keine gesetzliche Grundlage. Dazu sagt der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts:

Soweit der Beschwerdeführer der Sache nach rügt, es existiere keine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, hätte er sich mit der bestehenden bundesgesetzlichen Grundlage im Infektionsschutzgesetz auseinandersetzen müssen.

Kleiner Service für alle, die das immer noch meinen, meine Kolumne vom 21.3.2020. Da hab ich das mit der Rechtsgrundlage schon mal erklärt.

Dass die Verordnung nicht besonders begründet wurde, ist ebenfalls kein Verstoß gegen das Grundgesetz, denn

Soweit er beanstandet, dass der Verordnungsgeber die Verordnung nicht mit einer Begründung versehen hat, geht der Beschwerdeführer ohne nähere Darlegungen wohl davon aus, dass eine Verordnung von Verfassungs wegen mit einer Begründung versehen werden müsse. Der Wortlaut des Art. 80 Abs. 1 GG legt dies allerdings nicht nahe. Nach dessen Satz 3 ist in der Verordnung lediglich die Rechtsgrundlage anzugeben. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich kein allgemeiner Grundsatz, dass das Grundgesetz zur Begründung von Rechtsverordnungen verpflichte. Vor diesem Hintergrund hätte der Beschwerdeführer zunächst ausführlich darlegen müssen, inwiefern die Verordnung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege nach seiner Auffassung gleichwohl von Verfassungs wegen der Begründung bedarf.

Soweit der Beschwerdeführer meinte, die Einschränkungen für die unter 60-jährigen seien unverhältnismäßig, erklärt das Gericht ihm und uns, sehr ruhig und sachlich, wie es seine Art ist, dass er da wohl einem Irrtum unterliegt. Ich wünsche mir, dass auch der zur Zeit allgegenwärtige „Die-Alten-wären-eh-bald-gestorben“-Palmer zumindest die Zeit findet, einmal diesen Absatz zu lesen und zu verstehen.

Soweit der Beschwerdeführer sinngemäß behauptet, die Einschränkungen für die Gruppe derer, die wie er selbst jünger als 60 Jahre sind, seien generell unverhältnismäßig, weil die Gefährdung durch das Coronavirus für sie nicht größer sei als die Gefährdung durch die jährlich auftretenden Influenzaviren und weil niemand zu einem Verhalten gezwungen werden könne, das nur seine eigene körperliche Unversehrtheit schütze, ist seine Verfassungsbeschwerde unbegründet. Er stellt dabei – ungeachtet der Frage, ob seine Einschätzung der Risiken einer Infektion mit dem Coronavirus für jüngere Menschen zutrifft – nicht in Rechnung, dass die Einschränkungen für den Einzelnen gerade auch den Schutz Dritter bezwecken. Der Beschwerdeführer legt in diesem Zusammenhang selbst dar, dass bei der von ihm bevorzugten Strategie staatlich nicht regulierter „Immunisierung“ der unter 60 Jahre alten Menschen auch für die stärker gefährdeten Menschen ein deutlich höheres Infektionsrisiko bestünde. Zu deren Schutz vor Infektionen ist der Staat aber wegen seiner nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begründeten Schutzpflicht grundsätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet. Zwar lässt sich selbstverständlich nicht jegliche Freiheitsbeschränkung damit rechtfertigen, dass dies dem Schutz der Grundrechte Dritter diene. Vielmehr hat der Staat stets einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Freiheit der einen und dem Schutzbedarf der anderen zu schaffen. Dass der durch die angegriffene Rechtslage getroffene Ausgleich dem nicht genügt, hat der Beschwerdeführer jedoch nicht konkret dargelegt.

Ich wüsste auch nicht, wie der Antragsteller dies konkret hätte darlegen können.

Und auch das nächste Argument der Maßnahmengegner entkräftet der Senat und liefert gleich noch eine anständige Portion Grundrechtskunde, die vielleicht auch diejenigen mal verstehen sollten, die bisher das Grundgesetz nur bei Demonstrationen hochgehalten, sein Wertesystem aber nicht ansatzweise verstanden haben.

Erfolglos bleibt die Verfassungsbeschwerde auch, soweit der Beschwerdeführer die angebliche Grundrechtswidrigkeit der Freiheitsbeschränkungen für jüngere Personen wie ihn selbst daran festmacht, dass deren Freiheit nicht zum Schutz von Risikogruppen und des Krankenhaus- und Pflegepersonals beschränkt werden dürfe, sondern allein diesen gefährdeten Personengruppen selbst „Quarantänemaßnahmen“ auferlegt werden müssten. Die von dem Beschwerdeführer befürwortete Strategie des Selbstschutzes durch strenge Quarantänemaßnahmen für nahezu ein Drittel der Bevölkerung, nämlich jedenfalls für all jene, die 60 Jahre alt und älter sind, dürfte bereits erheblichen praktischen Schwierigkeiten begegnen. Darauf kommt es jedoch nicht an. Der Auffassung des Beschwerdeführers liegt eine rechtlich unzutreffende Vorstellung von der Bedeutung der Grundrechte des Grundgesetzes zugrunde. Er schreibt, in einer freiheitlichen Ordnung dürfe der Staat nicht Freiheiten eines Bürgers einschränken, um Schaden von der Gesundheit oder dem Leben anderer Menschen abzuwenden. Für die durch das Grundgesetz konkretisierte Freiheitsordnung ist das jedoch nicht richtig. Nach dem Grundgesetz ist der Staat nicht darauf beschränkt, den Schutz gesundheits- und lebensgefährdeter Menschen allein durch Beschränkungen ihrer eigenen Freiheit zu bewerkstelligen. Vielmehr darf der Staat Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann.

Und dann kommt das, was jede verfassungsrechtliche Entscheidung verlangt, die Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten und der Spielraum des Gesetzgebers und der Exekutive.

Wenn wie hier die Freiheits- und Schutzbedarfe der verschiedenen Grundrechtsträger in unterschiedliche Richtung weisen, haben der Gesetzgeber und auch die von ihm zum Verordnungserlass ermächtigte Exekutive nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Verfassungs wegen einen Spielraum für den Ausgleich dieser widerstreitenden Grundrechte. Im vorliegenden Fall besteht dabei wegen der im fachwissenschaftlichen Diskurs auftretenden Ungewissheiten und der damit unsicheren Entscheidungsgrundlage auch ein tatsächlicher Einschätzungsspielraum. Freilich kann dieser Spielraum mit der Zeit – etwa wegen besonders schwerer Grundrechtsbelastungen und wegen der Möglichkeit zunehmender Erkenntnis – geringer werden. Dem bemüht sich der Verordnunggeber hier dadurch Rechnung zu tragen, dass die Freiheitsbeschränkungen von vornherein befristet sind und durch wiederholte Änderungen der Verordnung stetig gelockert werden.

Das immer wieder gehörte Argument gegen die Maßnahmen, diese griffen in Grundrechte ein und seien bereits deshalb verfassungswidrig, beruht auf einer grundsätzlichen Verkennung unseres Grundrechtssystems, die leider sehr weit verbreitet ist: Die Tatsache, dass bestimmte Maßnahmen in Grundrechte eingreifen, bedeutet eben nicht zwangsläufig, dass diese Maßnahmen verfassungswidrig wären, denn Grundrechtseingriffe sind durchaus nicht ungewöhnlich.

Dem könnte ein Missverständnis einiger jüngst zu Anträgen auf Eilrechtsschutz gegen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen ergangener Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegen. Wenn es in diesen Entscheidungen heißt, dass die Verordnungen in die Freiheitsrechte eingreifen, bedeutet das nicht, dass sie bereits deshalb verfassungswidrig sind. Im Verfassungsrecht wird vielmehr unterschieden zwischen der bloßen Feststellung eines (sei es auch erheblichen) Grundrechtseingriffs, die für sich genommen noch nichts über dessen Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit besagt, und der weitere Erwägungen fordernden Feststellung einer Verletzung des Grundrechts, die dann verfassungswidrig ist. Eine Grundrechtsverletzung und damit ein Verfassungsverstoß liegen erst dann vor, wenn sich der Grundrechtseingriff nach verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht rechtfertigen lässt. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Freiheitsbeschränkung kann etwa gerade darin liegen, dass auf diese Weise Leben und Freiheit anderer Menschen geschützt werden. Nur wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung versagt, ist der Grundrechtseingriff auch verfassungswidrig. In einigen jüngst ergangenen Entscheidungen über Eilanträge gegen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen hat das Bundesverfassungsgericht Grundrechtseingriffe festgestellt, ohne im Eilverfahren jedoch zu der Feststellung zu gelangen, dass diese verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und damit verfassungswidrig wären. Wenn der Beschwerdeführer die Grundrechtseingriffe aber trotz des damit bezweckten Schutzes gefährdeter Menschen, der Spielräume des Gesetz- und Verordnunggebers und der auf Ausgleich zielenden Befristungen und Lockerungen durch den Verordnunggeber für verfassungswidrig hält, müsste er dies genauer darlegen.

Ganz ähnlich argumentiert das Bundesverfassungsgericht auch im zweiten Fall, indem es den Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und der Exekutive hervorhebt. Das, was eine Regierung zu tun und zu lassen hat, kann man eben nicht aus irgendeinem festgeschriebenen Drehbuch entnehmen und es ist auch nicht zwingend das, was der ein oder andere Wissenschaftler vorschlägt, sondern es ist das Ergebnis einer politischen Abwägung, bei der alle betroffenen Grundrechte, vor allem in ihrem Kern, berücksichtigt werden müssen. Es ist nicht Sache eines Gerichts, auch nicht des Bundesverfassungsgerichts, der Exekutive vorzuschreiben, wie diese ihre Arbeit zu machen hat, sondern nur, im Falle einer Verfassungswidrigkeit die Notbremse zu ziehen.

Daher ist hier auch die Entscheidungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts begrenzt. Es kann die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Das ist hier nicht ersichtlich. Dabei wird nicht verkannt, dass mit Leben und körperlicher Unversehrtheit überragend wichtige Rechtsgüter in Rede stehen. Auch kann angenommen werden, dass die vollständige soziale Isolation der gesamten Bevölkerung den besten Schutz gegen eine Infektion bietet. Doch überschreitet der Gesetzgeber seine Einschätzungsprärogative nicht, wenn er soziale Interaktion unter bestimmten Bedingungen zulässt. Nur so kann er nicht zuletzt auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung tragen. Desgleichen kann der Gesetzgeber die gesellschaftliche Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen berücksichtigen und ein behutsames oder auch wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes für angezeigt halten.

Unterm Strich kann man – auch wenn es sich hier „nur“ um Eilentscheidungen handelt – feststellen, dass die bisherigen Maßnahmen der jeweiligen Landesregierungen nicht offenkundig verfassungswidrig waren, sonst hätte das Gericht eingegriffen. Also kein Grund mit dem Grundgesetz in der Hand auf Demos zu laufen. Für den Schutz des Grundgesetzes bedarf es jedenfalls zur Zeit weder eines Bündnisses der Wirren noch eines Widerstands 2020, der sich auf alles andere berufen mag, aber bitte nicht auf das Widerstandsrecht des Grundgesetzes. Denn dieses Recht hat einige Voraussetzungen, die beim besten Willen nicht erfüllt sind.

Kein Widerstand

Nein, die Bedingungen für das Recht zum Widerstand sind eben nicht erfüllt, solange man sich mit Hilfe der Gerichte, Wahlen, Demonstrationen, Petitionen, Presse und meinetwegen auch per Twitter, Instagramm und Facebook, Telegramm und Youtube legal gegen Missstände wehren oder für seine eigenen Interessen streiten kann. Solange man ungestraft sein Maul aufreißen kann, ist alles im grünen Bereich. Wenn die Regierung nichts tut, was einem gefällt oder tut was einem nicht gefällt, wählt man eben eine andere. So funktioniert Demokratie. Und nur, weil man mit seiner eigenen Meinung keine Machtperspektive hat, ist das noch lange kein Grund für Widerstand oder einen Putsch.

Das Grundgesetz ist beim dafür zuständigen Bundesverfassungsgericht in guten Händen und so sollte es auch bleiben. Den beiden Beschwerdeführern ist ausdrücklich  dafür zu danken, dass sie die Möglichkeiten des Rechts genutzt haben, um ihre Meinungen überprüfen zu lassen. Dass sie aus ihrer Sicht wohl verloren haben, macht nichts. Denn nur so hatte das Gericht die Gelegenheit, noch einmal der Öffentlichkeit ein paar simple Grundsätze zur Verfassungswidrigkeit von Regierungshandeln zu erklären. Mögen diejenigen, die sich verbal auf dieses Grundgesetz berufen, die Muße finden, das einmal zu lesen. Vielleicht, wenn sie nach einer erfolgreichen demobedingten Infektion demnächst ein paar Tage auf der Intensivstation liegen. Auch ansonsten wünsche ich ihnen gute Besserung.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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